Oder: Warum Ezra Furman einer der relevantesten Rockstars unserer Zeit ist.
von Ralph Mönius
Hamburg, 21. August 2018. Ein Mann betritt die Bühne. Ein Mann in einem wunderschönen schwarzen Kleid und mit einer Perlenkette um den Hals. Doch das ist nur am Rande relevant. Er blickt sich um, sieht dabei aus als könnte er sich nicht entscheiden zwischen Nervosität und der Lust auf das, was kommt. Vor ihm stehen etwa 100 Menschen, in einem Zelt, das für mindestens das Dreifache ausgelegt ist. Dazu ist es auch noch ein Zirkuszelt. Ein paar Jahrzehnte früher und er wäre in seiner Aufmachung ein Programmpunkt in einer Freakshow gewesen. Heute nicht. Ein paar Jahrzehnte früher, so sagt er später selbst, und man hätte ihn hierzulande eingesperrt und umgebracht. Einen bisexuellen, crossdressenden, jüdischen Künstler. Und heute – heute zahlen sie Eintritt, sagt er. Ein komisches Gefühl. Dann schlägt er den ersten Akkord auf seiner Gitarre an und der ganze Raum, die ganze Welt, so scheint es, ist einfach nur Ezra.
Es ist ein besonderer Abend in Hamburg, ein Abend, an dem die Wissenden zusammen kommen, die wenigen, die Ezra Furman – so der volle Name des Musikers – hierzulande kennen. Egal ob schon seit ein paar Jahren oder seit sie von den in höchsten Tönen lobenden Kritiken zu seinem aktuellen Album “Transangelic Exodus” angelockt wurden. Egal auch, wer sie sind, denn von den jungen, knallbunten LGBTQ+-Vertretern bis hin zum Alten Weißen Mann sind alle da. So liegt schon lange bevor das Konzert beginnt eine freudige Anspannung in der Luft, es knistert. Endlich die Gelegenheit, diese Stimme, diesen Menschen live zu erleben, den die anwesenden Fans nur aus Studio-Aufnahmen und YouTube-Videos kennen, denn in Deutschland gab es ihn bisher nicht live zusehen. Sie alle, das wird schnell klar, sind für mehr hier als ein Konzert. Sie haben etwas gehört, etwas Wichtiges, etwas Wahres, einen Menschen, der tatsächlich etwas zu sagen hat. Sie haben von den besten Freunden bis zur Aldi-Kassiererin jedem in ihrem Leben von ihm erzählt, ob die Leute es wollten oder nicht. Und jetzt steht er kurz bevor, der unumstößliche Beweis dafür, dass sie richtig gehört haben. Dass es einen gibt, der ihren Schmerz kennt, der ihn durchlebt hat, der etwas weiß von den Herausforderungen des Lebens und ein paar davon gemeistert hat, der ein Stückchen Weisheit und Hoffnung darin fand – und nach und nach sich selbst.
Hundstage
Und so ist die Geschichte von Ezra Furman eine der Selbstfindung, persönlich sowie musikalisch. 2006 gründet er an der Tufts University in Massachusetts mit einigen Freunden die Band “Ezra Furman & The Harpoons”, mit der er drei Alben aufnimmt. Kritiker feiern den herrlich ungeschliffenen Mix aus Folk, Rock und Blues, doch der kommerzielle Erfolg bleibt aus. So trennt sich die Gruppe 2011 nach der Veröffentlichung des Albums “Mysterious Power” wieder und Furman macht solo weiter. Durch Zufall bezieht er das gleiche Haus wie Tim Sandusky, der nicht nur ein großartiger Saxophonist ist, sondern auch das Studio Ballistico betreibt. Schnell entdecken die beiden, wie viele musikalische Ansichten sie teilen und Sandusky produziert von nun an jedes neue Ezra-Furman-Album, beginnend mit “The Year of No Returning”, das Furman über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter finanziert. Dem Titel entsprechend verändert Ezra hier seinen Sound, geht weg vom treibenden Chaos der Harpoons und fokussiert die zumeist ruhigeren Songs auf sich und seine Gitarre. Die Person Ezra Furman rückt in den Mittelpunkt, zusammen mit den Geschichten, die sie zu erzählen hat. In Songs wie “Dr Jekyll & Mr Hide” oder “American Soil” führt Furman das große Thema ein, das ihn auch auf seinen späteren Alben beschäftigen wird: Identität. Die große Reise zu sich selbst beinhaltet das Ringen mit seiner Sexualität, seinem Glauben und der Frage, welchen Platz er in der Gesellschaft hat – oder ob überhaupt einen. Doch so verloren sich Furman dabei manchmal auch zu fühlen scheint, er präsentiert sich niemals als Opfer, sondern zweifelt, philosophiert oder provoziert mit Zeilen wie:
Every race has its place, every nation fights for species survival/ I’m a Jew through and through and I’m about to write you a bible.
Diesen Ansatz entwickelt er auf dem folgenden Album “Day of the Dog” konsequent weiter, das er zusammen mit seiner Tour-Band – den “Boy-Friends” – aufnimmt.
I wanna destroy something/ I wanna destroy myself
singt er im Schlüsseltrack “I Wanna Destroy Myself”, einer schnellen, dreckigen, unglaublich energiegeladenen Nummer, die den Sound des restlichen Albums definiert. Ezra begreift den “Hundstag” nicht als Moment der Aufgabe, sondern als Startschuss für seinen Angriff auf die Probleme in seinem Leben und der Welt im Allgemeinen.
Von der Kultfigur zum Outlaw
Diese Energie trägt er weiter in das 2015 erschienene Album “Perpetual Motion People”, das in mehrerlei Hinsicht einen Meilenstein in seiner Karriere markiert. Es ist sein erster größerer kommerzieller Erfolg, vor allem in Großbritannien, wo das Album, dessen Cover Ezra in einem schwarzen Kleid, Make-Up und Baseballkappe zeigt, Platz 23 der Charts erreicht, und wo Furman zu einer Kultfigur der LGBTQ+-Gemeinde wird. Dieser Kultstatus wird später dazu führen, dass er den Soundtrack für die erfolgreiche britische Netflix-Serie “Sex Education” beisteuern und mit seiner Band in einer Folge sogar auftreten wird. Auch musikalisch beschreiten Furman und Sandusky neue Wege: Sie reichern den hoch energetischen Folk-Rock-Sound mit stellenweisen Punk-Anleihen von Ezra und den Boy-Friends um Doo-Wop Elemente an und schlagen damit eine Brücke zu den Anfängen des Rock ’n Roll, zu Chuck Berry, Elvis und den Dominoes. Später werden noch Klänge hinzu kommen, die an Springsteen in seiner “Born to Run”-Phase oder an Bowies “Ziggy Stardust and the Spiders from Mars” erinnern. Denn in Ezra Furmans Verständnis ist Rock ’n Roll die Musik der Außenseiter, derer, die nicht in die Gesellschaft passen wollen, die an deren Grundfesten rütteln und die Regeln in Frage stellen. Insofern markiert das Album auch einen persönlichen Durchbruch, denn Ezra geht so offen mit seiner Sexualität und seinen Selbstzweifeln um wie nie zuvor. “Genders, my friends/I’ve been changing genders, fluidly”, singt er im Song “Wobbly” und erklärt dazu in Interviews, dass er sich zwar als Mann sieht, aber eben die Möglichkeiten des Mann-Seins weiter fasst, sich nicht von seiner Biologie definieren lässt. Oder wie er in “Body was Made” erklärt:
Body was made, so just fucking relax/ Don’t pile my plate with historical facts.
Es ist das selbstbewusste Statement eines Künstlers, der weiß, dass er immer anecken wird, egal was er tut, und der sich mit dieser Rolle abgefunden hat. Nur dass es eben keine Rolle ist, die er spielt, keine Figur, die er darstellt, sondern einfach nur er selbst, Ezra Furman. “I found my angel on the motorcycle/I’m a queer for life outlaw outsider”, singt er im Song “I lost my Innocence” von seinem aktuellen Album “Transangelic Exodus”. Dieses ist ein Konzeptalbum, eine queere Outlaw-Saga. Furman und sein Engel, ein geliebter Mensch, dem buchstäblich Flügel wachsen, sind darin auf der Flucht vor einem totalitären System durch ein feindseliges Amerika. In die Erzählung mischt Furman biografische Elemente, erzählt davon, wie er heimlich in einem Second-Hand-Laden ein wunderschönes Kleid anprobiert, oder wie er sich durch seine versteckte Sexualität so daran gewöhnt hat zu lügen, dass es bis heute zur Gewohnheit geworden ist. Nach langer Flucht singt er schließlich “I think we’re on our own/I think we’re really on our own” im Track “The Great Unknown”, während seine Stimme zwischen Erleichterung und Verzweiflung schwankt.
Keine Kompromisse
Und so sind es genau diese Momente, die Ezra Furman so besonders, so gut und so relevant machen. Nein, Lösungen hat er nicht, aber er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, welche zu finden. Und er hat damit aufgehört, sich zu verstecken oder sich für sich zu entschuldigen. Genauso wie er mit der Welt klar kommen muss, muss diese eine Weg finden, mit ihm klar zu kommen. Mit dem Mann, der gerne Frauenkleider trägt, dem Juden, der am Sabbat nicht auftritt, dem Menschen, der sein Bestes versucht und auch das Schlimmste übersteht. Der keine Kompromisse macht.
So auch nicht an jenem Konzertabend in Hamburg. Nach etwas über 90 Minuten, in denen es nichts anderes auf der Welt gab, als einen Sänger, eine Stimme und diese Musik, ist die Show vorbei. Auch wenn das Publikum noch fast eine Viertelstunde lang eine Zugabe verlangt. Sie kommt nicht. Die Setlist war sorgfältig konzipiert und was gesagt werden sollte, ist gesagt. Keine Kompromisse. Nur Ezra.
Fotoquelle: Paul Hudson from United Kingdom, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wikimedia Commons
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