von Mercy Ferrars
Wir alle hassen es, zu warten. Meistens, jedenfalls. Im besten Fall zieht der Unmut, Zeit zu verschwenden, an unserem Gemüt vorbei. Sei es an der S‑Bahn-Haltestelle, beim Friseur oder in der nervenaufreibend langen Schlange zum Konzert unserer Lieblingsband: Wir werden ungeduldig, weil wir überzeugt sind, dass wir in dieser Zeit so viel schaffen könnten – die Wäsche waschen, den Wocheneinkauf machen, das Schlusskapitel unseres überfälligen Essays verfassen oder auch einfach, unsere Zeit mit etwas zu verbringen, was uns wirklich Spaß macht. Und ja, warten ist schließlich auch schrecklich; wir stehen uns die Füße in den Bauch, während unser Leben an uns vorbeizieht. Oder? Oder nicht?
Wenn man einmal darüber nachdenkt, wie unterschwellig panisch man wird, wenn man statt 5 mal 15 Minuten auf den Bus warten muss, weil einem „so viel Zeit davonrennt“, dann fragt man sich, wie man es rechtfertigen kann, wenn man die größten Momente des eigenen Lebens konsequent aufs Morgen verschiebt. Damit sei nicht die Prokrastination von Hausarbeiten oder Fitnessstudio gemeint; auch die Lähmung, die uns manchmal beim Anblick unserer überfüllten To-Do-Listen überkommt, ist nicht das, was uns wirklich in Panik versetzt. Stattdessen ist es die Lebenszeit, die wir verschwenden, wenn wir darauf warten, dass wir morgen endlich die Person sein werden, die wir immer sein wollten – die Person, die endlich schlank ist, endlich vergeben, endlich reich, endlich in ihrem Traumjob angestellt – oder auch endlich volljährig, endlich erwachsen.
Ein Beispiel: In der Vergangenheit habe ich oft Kleidung gekauft, die mir zwar nicht recht passte, die mir aber wirklich gefiel. Und jedes Mal sagte ich mir: Na, aber „morgen“ wird sie mir passen. Ich initiiere jetzt einfach meine x‑te Diät, und „morgen“ werde ich meinen Körper dann endlich lieben. Oder: Oft habe ich von Freunden beispielsweise gehört, dass sie sich erst gewisse Möbelstücke oder Anschaffungen zulegen, wenn sie ihre eigene Wohnung haben und nicht mehr in kleinen, chaotischen WGs leben – wenn es sich wirklich lohnt. Wie oft haben wir als Teenager darauf gewartet, dass sich endlich jemand rettungslos in uns verliebt, und uns morgen mit auf die Abenteuer unser Leben nimmt.
Wenn wir darüber nachdenken, was mit uns passiert, während wir mit großen Augen und klopfendem Herz auf das Morgen warten, das uns alles bringen wird, was wir uns wünschen, dann rutscht uns das Herz ganz schön schnell in die Hose. Was passiert ist nämlich, dass ich die Kleidung, die mir so gut gefällt, für immer in den Kleiderschrank verbanne, der einen fetten „Für Morgen!“Aufkleber trägt, und mich heute lieber in einem meiner drei ausgeleierten Wohlfühl-Stücke verstecke – und mich dann wundere, weshalb ich mich selbst als so viel weniger wertvoll wahrnehme, als ich mit großer Wahrscheinlichkeit bin. Was passiert ist, dass wir in einer Wohnumgebung leben, die keine ‘Freude in uns auslöst’ (um es mit Marie Kondos Worten zu sagen) und mit der wir uns nicht identifizieren können – und uns somit selbst das Zuhause verweigern, welches unserer Generation so schrecklich fehlt.
Zuhause bleibt ein Ort, der in der Zukunft liegt.
Und wenn wir als Teenager und junge Erwachsene konstant darauf warten, dass uns ein magischer Prinz auf einem weißen Pferd zu unglaublichen Abenteuern und den Nächten unserer Leben reitet, dann vergessen wir völlig, wahrzunehmen, dass wir für diese Abenteuer selbst verantwortlich sind und mit einer Gruppe von Freunden in einem selbstorganisierten Roadtrip mindestens genauso viel Spaß haben – dafür braucht es nicht zwingend einen Prinzen (oder eine Prinzessin!).
Es kommt der Moment, früher oder später (in meinem Fall mit 27), in welchem wir dasitzen und realisieren, dass all die Jahre ins Land gezogen sind und wir gar nicht gemerkt haben, wie viel wir vielleicht verpasst haben, während wir einfach nur gewartet haben – nicht auf den Bus, nicht auf den Friseur, sondern auf unser Leben.
Vielleicht ist es, wenn dieser Moment dann erst mal eingetreten ist, trotzdem falsch, sich dafür zu bemitleiden. Wenn wir uns weiterhin einreden, wie schlecht wir dran sind, weil wir so viel Zeit verschwendet haben, dann reden wir uns auch ein, dass wir gleich morgen früh damit beginnen, unser Leben zu verändern. Wir essen endlich gesund oder üben uns in Selbstliebe (oder beides), wir gestalten unsere Wohnungen endlich so, dass wir uns freuen, nach Hause zu kommen und wir leben unser bestes Leben und sagen Ja zu Chancen und Abenteuern, als Singles und als Partner. Aber morgen früh. Es zählt schließlich nicht, wenn wir uns heute Abend alleine mit Mousse au Chocolat in unser unliebsames Heim zurückziehen; denn die Entscheidung für morgen ist ja schließlich getroffen. Naja – zumindest, bis „Morgen“ dann da ist, und derselbe Kreislauf wieder von vorne beginnt.
Wenn wir uns also nicht selbst bedauern sollten, was denn bloß dann? Sich selbst für irgendetwas zu bestrafen, macht zumindest auch keinen Sinn, so viel haben wir aus unseren Therapien mitgenommen. Der einzige Weg, wie so häufig, scheint Akzeptanz und Fürsorge zu sein. Zu akzeptieren, dass die Vergangenheit war, wie sie war, und dass wir uns auch morgen nicht gleich so blind und unabhängig ins Leben stürzen werden, wie wir heute hoffen. Sich gleichzeitig um sich selbst zu kümmern und zu überlegen, wo man einen zarten Anfang machen könnte, unbemerkbar für die Welt an sich, und doch groß für uns. Wir müssen nämlich nicht immer darauf hoffen, dass wir morgen endlich in der Laune sind, einen überdimensionierten Fitnessplan einzuhalten oder endlich die komplette Wohnung umzuwälzen oder unsere Kalender jeden Tag mit bedeutsamen Erfahrungen und Taten füllen zu müssen. Vielmehr könnten wir uns darauf freuen, morgen endlich mal das Kleid zu tragen, das wir seit einem Jahr im Kleiderschrank zu hängen haben und es uns einmal egal sein zu lassen, was Andere denken könnten. Den irreführenden Traum, dass uns dieses Kleid nur mit flachem Bauch Spaß machen kann, loszulassen. Uns darauf zu freuen, los zu marschieren und einen Blumenstrauß für den Küchentisch zu kaufen, und uns jedes Mal im Vorbeilaufen an seinem Duft und seiner Ästhetik in unserer tristen WG-Küche zu erfreuen. Oder heute, wenn uns unsere Arbeitskollegen fragen, ob wir mit zum Feierabendbier kommen, einfach mal Ja sagen, auch wenn wir generische Nein-Sager sind (schließlich hat schon meine Mama immer gepredigt: Die besten Nächte haben wir oft, wenn wir eigentlich gar keine Lust haben und trotzdem mitgehen.).
So schön unsere Träume auch sind, und so überzeugt wir auch davon sein mögen, dass wir unglaublich glücklich wären, wenn wir erst einmal die perfekte Figur, den perfekten Partner und das perfekte, kalenderfüllende Leben führen, welches uns unsere Umwelt tagtäglich an einer Leine vor die Nase hält – so sehr verbleiben diese Träume genau das: Träumereien. Unser einzig wahres Unglück reicht daher, dass wir unser Leben für unsere Träume eintauschen. Dass wir „leben“ in die Zukunft verlagern. Wenn wir uns mal unser Leben ansehen, dann gibt es darin mehr Schätze vergraben als wir denken. Schließlich können wir auch mit 10 Kilo zu viel die ganze Welt bereisen. Wir können mit unserer besten Freundin genauso wild lachen und lieben. Und eigentlich fühlen wir uns in unserer kleinen, schnuckeligen Einzimmer-Wohnung genauso wohl wie in dem großen New Yorker Studio unserer Tagträume, mit den großen Fenstern hin zur imposanten Skyline.
Und überhaupt, sind die Jahre, die vor uns liegen, so viel wichtiger als die vergangenen 27.
Ein Gedanke, den ich mir von nun an öfter vor Augen zu halten versuche, wenn ich mal wieder merke, dass ich die Freude am Leben prokrastiniere.
Bildquelle: pexels.com
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