5 Dinge, die du über den modernen Menschen begreifst, nachdem du George Orwells ‘Animal Farm’ gelesen hast

von Mer­cy Ferrars

Vielle­icht geht es dir auch so, dass du im Laufe deines Lebens eini­gen Büch­ern begeg­net bist, die dein Ver­ständ­nis der Welt, in der du leb­st, völ­lig auf den Kopf gestellt haben. Du legst sie bei­seite, und für einige Augen­blicke klingt die Geschichte und ihre Imp­lika­tio­nen in dir nach, bevor du ver­suchst, zu begreifen, was eigentlich ger­ade mit dir passiert ist. George Orwells 1984 war eines dieser Büch­er für mich. Mar­garet Atwoods The Handmaid’s Tale eben­so. Milan Kun­deras Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und JG Bal­lards High-Rise zählen eben­so dazu. Büch­er, die uns etwas über den Men­schen und die Gesellschaft und seine selt­same Ver­strick­ung in der­sel­ben ver­rat­en, und uns schlussendlich doch das Gefühl geben, dass sie so viel mehr aus­sagen, als wir je begreifen könnten.
Das erste Mal, als ich Ani­mal Farm in der Hand hielt, war ich fasziniert davon. Und doch sollte es einige Jahre dauern, bis es bei mir einziehen würde. George Orwells 1945 veröf­fentlichte “Fairy Sto­ry” zählt zu den Büch­ern, die die Macht in sich tra­gen, gesellschaftlichen Umbruch auszulösen und die Wahrheit über den men­schlichen Geist offen zu legen—und das, obwohl die Geschichte nur in den unwichti­gen Neben­rollen men­schliche Fig­uren präsen­tiert. Höch­ste Zeit also, zwis­chen Orwells Zeilen zu lesen und zu reflek­tieren, was uns Animal Farm über den mod­er­nen Men­schen verrät.

1. Wir sind noch immer auf unseren begrenzten Horizont beschränkt—und es braucht menschliche Tiere, um unsere Empathie zu wecken

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In Ani­mal Farm kon­fron­tiert uns George Orwell mit tierischen Pro­tag­o­nis­ten, die nicht men­schlich­er sein kön­nten. Es stellt sich die redun­dante Frage nach dem Weshalb—weshalb scheint es uns zugänglich­er, uns in Tiere einzule­sen, als in Men­schen? Aus schrift­stel­lerisch­er Per­spek­tive scheint es unheim­lich clever von Orwell, sich für die tierischen Pro­tag­o­nis­ten zu entschei­den. Clever deshalb, weil wir Tiere als unschuldig und rein ver­ste­hen und es, zumin­d­est wenn wir einiger­maßen dem ethis­chen Sta­tus Quo entsprechen, ablehnen, dass ihnen Schmerz zuge­fügt wird. Durch unsere instink­tive Erwartung­shal­tung von Unschuld und Gutwilligkeit der tierischen Pro­tag­o­nis­ten erwarten wir gar nicht, dass sie sich nicht diesen Vorstel­lun­gen entsprechend ver­hal­ten kön­nten. Und logis­cher­weise tun sie das, zumin­d­est in dem von Orwell dargestell­ten Maße, auch nur in diesem Buch und nicht in der Real­ität. Die Rede ist nicht von der Nahrungs­kette und von antilopen­reißen­den Löwin­nen, son­dern von Intri­gen, Überlis­tung, Krieg und Strate­gie. Nein, wenn wir an Tiere denken, dann denken wir zuallererst an, beispiel­sweise, unsere Hunde, die nur zu existieren scheinen, um uns glück­lich zu machen—richtig? In unserem weit­eren Ver­ständ­nis begreifen wir auch Schweine nicht als poten­tiell strate­gis­che Unter­drück­er. Die meis­ten von uns haben gar keine Hal­tung zu Schweinen, außer dem Schnitzel auf ihrem Teller; und manche von uns ver­ste­hen und wis­sen, dass Schweine gut­mütig und intel­li­gent sind, liebenswürdig, für­sor­glich. Im aller weitesten Sinne ist auch die jagende Löwin irgend­wo in unserem Tierver­ständ­nis präsent, aber auch sie ver­ste­hen wir nicht als bösar­tig, lediglich als instinktiv.

Orwells Tiere weisen solch men­schliche Züge auf, dass sich spätestens nach dem ersten Drit­tel der Geschichte ein unwohles Gefühl im Bauch bre­it­macht. Freuen wir uns zuerst noch mit den Tieren für den Erfolg ihrer Rev­o­lu­tion, so schlägt dieses Sen­ti­ment rasch in Ablehnung und Ter­ror um.

Denn auch wenn wir in der The­o­rie ver­ste­hen, dass „wir manch­mal Krieg führen“, dass „wir manch­mal Intri­gen plot­ten“ und dass wir, unser erhabenes Bewusst­seins— und Reflex­ionsver­mö­gen lobend, Tat­en voll­brin­gen und Gedanken führen, die einem strate­gis­chen Ziel dienen; so begreifen wir all diese Eigen­schaften nicht, bis uns jemand endlich mal den Spiegel vor die Nase hält und wir schock­iert aufschreien.

(Anschließend weisen wir die gesamte Evi­denz natür­lich erst ein­mal empört von der Hand. Wir doch nicht! Ein paar Momente später hört man uns dann manch­mal klein­laut zugeben: Naja, vielle­icht, manch­mal…)
Nach jed­er Grausamkeit Napoleons und seines Regimes tobte in mir eine Wut, die mich das Buch beina­he zur Seite leg­en ließ. GUT!, ruft Orwell aus seinem Grab im englis­chen Sut­ton Courte­nay, denn genau das war die Absicht. Und als Leser weiß man:

Es geht Orwell nicht um bösar­tige Tiere. Es geht ihm um den bösar­ti­gen Menschen.

Es war diese Besin­nung auf sein strate­gis­ches Plot­ting, die mich weit­er umblät­tern ließ. Aber halt, lasst uns mal einen Schritt zurück­ge­hen: Wir sind also sauer, weil es ein Schwein ist, das diese grausamen Hand­lun­gen voll­bringt? Wür­den wir genau­so emo­tion­al reagieren, wenn es ein men­schlich­er Pro­tag­o­nist wäre, der diese Hand­lun­gen anord­nete? Ihr wisst schon, wie in all den anderen aber­hun­derten Büch­ern und Fil­men, in denen das so ist?

2. Wir lieben Big Brother, wir lieben Animal Farm’s Napoleon und, unsere heimliche guilty pleasure, ist unsere Liebe zum Staat

Ja, die Liebe auf der Ani­mal Farm. Die größte Liebe, die uns begeg­net, ist die Liebe zum Guten, die in all den „niedrigeren Tieren“ (Orwell) vertreten ist. Dreimal bauen sie ihre Wind­müh­le. Zuerst von Freude und Ehrgeiz nach dem Fall der Manor Farm und der rebel­lis­chen Über­nahme nur so elek­trisiert, so motiviert sie nach den ersten bei­den Fällen der Wind­müh­le lediglich ihre Hingabe zu Napoleon – oder, um das klarzustellen, eher die neun Hunde, die auf jeden gehet­zt wer­den, die seinen Anord­nun­gen nicht fol­gen. Let­z­tendlich sind es ganz vielle­icht auch die Peitschen, die die Schweine, nun zweibeinig laufend, mit sich tra­gen. Und den­noch ist es ein­fach­er, sich einzure­den, es sei Liebe, oder etwa nicht?

In 1984 spricht Orwell von der ulti­ma­tiv­en Absicht Big Brother’s. Er möchte, wirk­lich, nur geliebt wer­den. Aus rein­stem Herzen. Dass er diese Liebe seinen Bürg­ern mitunter erst ein­prügeln muss, spielt dabei keine Rolle. Am Ende ist unser Pro­tag­o­nist überzeugt davon, Big Broth­er zu lieben. Gle­icher­maßen fol­gen wir den Tieren der Farm, mit ihrer Liebe, ihrer naiv­er Unschuld und ihren großen Träu­men der Frei­heit, wie sie langsam, aber sich­er, ins Stock­holm Syn­drom ver­fall­en und ihren Tyran­nen, Napoleon, gle­icher­maßen fürcht­en und lieben. Er schafft es, sie davon zu überzeu­gen, dass seine Geset­ze die Richti­gen sind; dass er seine Tiere liebt; und dass ein nobles Ziel so manch­es Mal durch nicht ganz so noble Tat­en voll­streckt wer­den muss. Am ein­drück­lich­sten repräsen­tiert sich diese Idee in Box­er, ein­er Fig­ur, die Napoleon seine volle Liebe und Hingabe zu Füßen legt. Box­er ken­nt zwei Maxime—„Napoleon hat immer Recht“ und „Ich werde härter arbeit­en.“ Seine Liebe ist gle­ich­wohl beein­druck­end und ver­heerend, und let­z­tendlich wird der kränkel­nde, alte Box­er von Napoleon an den Schlachter verkauft. Und auch im mod­er­nen Sys­tem lieben wir den Staat, auch wenn wir das nicht zugeben würden—was vielle­icht daran liegen mag, dass wir es selb­st nicht wis­sen. Nach Fou­cault ist schließlich die ein­flussre­ich­ste und pro­duk­tivste Macht die, die wir nicht ablehnen; die, die wir annehmen und als Liebe ver­ste­hen. Die, die uns nicht aufer­zwun­gen wird, die, für die wir uns entschei­den, erneut in ein­er Illu­sion freier Autonomie.

3. Animal Farm ist ein Spiegel unserer modernen Gesellschaft

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Orwell schrieb Ani­mal Farm als „Satire über die Illu­sion des Sow­jetis­chen Kom­mu­nis­mus“ (Hitchens) im Jahr 1945. In Großbri­tan­nien, zu jen­er Zeit unter Churchill in Allianz mit Rus­s­land und Stal­in, wurde die Erzäh­lung abgelehnt und ver­teufelt. Es stellt sich also eine Frage, die nur pos­i­tiv beant­wortet wer­den kann: Ist es gar möglich, dass die Ani­mal Farm nicht nur die Rus­sis­che Rev­o­lu­tion, son­dern gar den mod­er­nen Staat wieder­spiegelt? Und das, obgle­ich wir im Kap­i­tal­is­mus, nicht im Kom­mu­nis­mus leben?
Es liegt auf der Hand, und es ist ein wenig trau­rig, ehrlich gesagt. Die Pro­tag­o­nis­ten in Ani­mal Farm, das ist ein jed­er von uns. Das sind wir alle. Das ist der Staat, das sind die gesellschaftlichen Klassen. Das sind wir, in unser­er Innen­welt genau­so wie als Gesellschaft. Ja, vielle­icht ist es fast schon län­derüber­greifend wahr über unsere Spezies:

Ani­mal Farm, das sind wir.

Schon Hobbes sprach in Leviathan davon, dass sich ein struk­tur­los­er Naturzu­s­tand nicht lange hal­ten kann, ohne als­bald an seine Gren­zen zu stoßen. Ein Leben in völ­liger Anar­chie und Autonomie, in welchem jed­er sein eigenes Ding treibt und andere leben lässt, wird nicht lange vorherrschen kön­nen, bevor ein jed­er darin ver­fällt, seine eige­nen Bedürfnisse und sein eigenes Über­leben zu sich­ern. Der Men­sch ist in sich ein evo­lu­tionäres Wesen, das sich als über­lebens­fähig durchge­set­zt hat, und das tut er nicht nur gegenüber ander­er Spezies der Erde, son­dern vor allem auch gegenüber anderen Men­schen. Ob im Kom­mu­nis­mus, ob im Kap­i­tal­is­mus, ob im Naturzu­s­tand: Wir alle wollen unser Woh­lerge­hen sich­ern, nach­dem wir es erst ein­mal erlangt haben. Und wir beißen einem jeden in die Kehle, der es wagt, es uns fortzunehmen. Es ist nobel, die Vorstel­lung, dass wir uns mit dem Nötig­sten zufrieden geben und ein entspan­ntes Leben führen, in dem es uns darum geht, zu leben und uns freizu­machen von Autorität, nor­ma­tiv­er Regelung und, Him­mel, dem Staat. Doch nicht nur Orwell schätzt die men­schliche Natur abso­lut anders ein. Der von Hobbes imag­inierte „Naturzu­s­tand“, in welchem die men­schliche Spezies ohne Regeln und Kul­tur existiert, ist ein utopis­ches Sys­tem, welch­es in sich kol­la­biert, da es mit der men­schlichen Essenz kol­li­diert. (Natür­lich kri­tisiert er das auch selb­st an diesem Gedankenexperiment.)

4. Unsere Vorstellung von Gleichheit ist eine noble Illusion

Kein Tier soll ein anderes Tier umbrin­gen“ und „Jedes Tier ist gle­ich“ sind zwei der Geset­ze des ‘Ani­mal­is­mus’ in sein­er utopis­chen Grund­vorstel­lung. Doch schnell wird klar: Das hält sich so nicht. Napoleon tötet, um seine eigene Macht­po­si­tion zu hal­ten, und somit seine Legit­i­ma­tion für mehr Nahrung, besseren und län­geren Schlaf, weniger Arbeit und (der men­schlichen Vorstel­lung von) Spaß: Alko­hol, Feste und dem Priv­i­leg eines typ­is­chen Kater­son­ntages. Und so stellt es sich, plau­si­bler­weise, zu Ende des Buch­es heraus:

„Jedes Tier ist gle­ich, aber manche Tiere sind gle­ich­er als andere.“

Schein­bar scheint es ohne Hier­ar­chien und Macht­dy­namiken nicht zu funk­tion­ieren. Schade, eigentlich, denn an sich hätte ich nichts dage­gen, mein Leben freier zu leben und mir den Staat mal egal sein zu lassen; nicht sel­ten füh­le ich mich nach einem lan­gen Arbeit­stag im vorgegebe­nen Rhyth­mus gefan­gen und frage mich, ob das die wirk­liche Bedeu­tung der eige­nen Exis­tenz ist. Und natür­lich merkt man auch, dass man wenig Chan­cen hat, wenn man ver­sucht, diesen Rhyth­mus zu durchkreuzen. Von allen Eck­en tönt es, nie­mand muss in Deutsch­land auf der Straße leben!, aber wir wis­sen doch alle, dass die Kon­di­tion zu einem guten Leben unsere Arbeit ist. Unsere Arbeit hinge­gen ist zweien Parteien förder­lich: Unserem Staat und/oder unseren Vorge­set­zten. Trotz unser­er Sehn­sucht nach der Abwe­sen­heit von Regel und Struk­tur, scheint es uns nicht in der Natur zu liegen, autonom zu leben.

Sehr gerne wird im mod­er­nen west­lichen Staat oft darauf gepocht, dass wir alle gle­ich sind.

Artikel 3 des Grundge­set­zes besagt: „(1) Wir sind alle gle­ich. (2) Män­ner und Frauen sind gle­ich­berechtigt. (…) (3) Nie­mand darf (…) benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Lobenswerte Nor­men, richtig? Aber klingt das nicht stark nach den Geset­zen der Ani­mal Farm? Und nach all unseren vorherge­hen­den Gedanken, wider­spricht es nicht unser­er men­schlichen Natur, diesem Gesetz gerecht zu werden?
Schauen wir uns ein­mal die vorherrschende Gesellschaftsstruk­tur an, so stellen wir fest, dass wir in der Tat nicht alle gle­ich sind. Frauen ver­di­enen bei sel­ber Arbeit in vie­len Bere­ichen noch immer weniger als Män­ner. Und ehrlich, im Jahr 2019 müssen wir nicht mehr darauf hin­weisen, dass Frauen noch immer vorherrschend die Opfer sex­u­al­isiert­er Gewalt und sex­is­tis­chen Ver­hal­tens sind, das hat inzwis­chen jed­er begrif­f­en. Von dieser Debat­te ein­mal abge­se­hen, leben wir noch immer in unter­schiedlichen gesellschaftlichen Klassen. Die Reichen wer­den reich­er, die Armen wer­den ärmer. Dazwis­chen gibt es eine Mit­telschicht, die sich einiger­maßen gut auf den Beinen hält und ein­mal im Jahr in den Urlaub fliegen kann. Gle­ich ist das allerd­ings nicht. Ob Män­ner oder Frauen, ob reich oder arm, ob cis-het­ero­sex­uell oder LGBT+, wir träu­men von ein­er Welt, in der wir einan­der gle­ich sind. Wenn wir jedoch ver­ste­hen, dass das bedeutet, unser Priv­i­leg abzugeben, sei dies unser Geschlecht, unsere Sex­u­al­ität, unsere Haut­farbe oder unser Geld, dann scheint sich der Traum nach Gle­ich­heit genau­so schnell zu ver­flüchti­gen wie die Gle­ich­heit unter den Tieren der Ani­mal Farm.

5. Wenn wir aufhören, zu schmollen, dann haben wir eine echte Chance auf Veränderung

Ani­mal Farm ist also rel­e­van­ter denn je. Das ste­ht außer Frage. Darüber hin­aus schreibt Orwell zwar schnörkel­los, aber schafft es doch immer wieder, unser Blut in Wal­lung zu brin­gen, seine Reflex­ion unser­er eige­nen Gegen­wart und Zukun­ft vehe­ment abzulehnen, und uns später, wenn wir aufhören zu schmollen, zum Nach­denken anzure­gen – und vielle­icht, vielle­icht gibt er uns den Impuls, etwas zu verändern.

Eine ganz klare Empfehlung also:

Orwell, George. Animal Farm. Penguin Books, 2008.

(dies ist meine Aus­gabe, welche ich beson­ders schön gestal­tet finde!)


Bildquellen:
JamesFrid/AliHadbe


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