Foto: Malimoria Photography
von Mercy Ferrars
Vergangenen Monat war ich für ein paar Tage zu Gast bei einer Freundin in Glasgow, Schottland. Viereinhalb Tage später kehrte ich ins heimische Berlin zurück—voll lebhafter Erinnerungen an eine andere Welt, ein anderes Gefühl. Voller Freiheit im Herzen. Romantisch verklärt vom Horizont auf der anderen Seite des Wassers. Diese andere Welt in mir, sie war verwunderlich. Ich fühlte mich verändert—gar fast, als hätte ich in eine andere Dimension geblickt, eine andere Möglichkeit gesehen, wie mein Leben parallel zu meiner Wirklichkeit verlaufen könnte.
Ich fühlte mich verändert—gar fast, als hätte ich in eine andere Dimension geblickt, eine andere Möglichkeit gesehen, wie mein Leben parallel zu meiner Wirklichkeit verlaufen könnte.
Und diese Möglichkeit, dieses Potenzial, es hat einen kleinen Spross in mir gepflanzt. Doch reichen viereinhalb Tage auf der anderen Seite des Wassers aus, um Berge in mir zu verschieben? Zweifel kamen in mir auf, Tage nach meiner Rückkehr—Zweifel über die Wahrheit in meinen Erfahrungen, Zweifel ihrer Wirklichkeit. Zweifel darüber, ob ich als Geschichtenerzählerin nicht eine Geschichte konstruierte, die ich um viereinhalb stinknormale Tage gesponnen hatte.
Es ist kein Geheimnis, dass ich eine überwältigend rosarote innerliche Disposition hinsichtlich Großbritanniens hege. Ich bin ein paar Mal in London gewesen und war verzaubert von Fremden, die mich Love nannten und einer durchtrunkenen Nacht mit einem meiner Lieblingsautoren, ungefähr 15 netten LeserInnen und schwarzen Taxis, die für mich bezahlt wurden—meine Fassung des Vereinigten Königreichs. „Die UK ist mein Happy Place“, wiederhole ich routiniert am Mittagstisch in der Kantine und schlage dabei fast auf den Tisch, damit es sich auch jeder merken kann. Dabei weiß ich gar nicht so viel darüber, wie das Leben in Großbritannien eigentlich wirklich ist, wie das genau mit dem Brexit war und wer dort eigentlich wen nicht leiden kann.
„Die UK ist mein Happy Place“, wiederhole ich routiniert am Mittagstisch in der Kantine und schlage dabei fast auf den Tisch, damit es sich auch jeder merken kann. Dabei weiß ich gar nicht so viel darüber, wie das Leben in Großbritannien eigentlich wirklich ist, wie das genau mit dem Brexit war und wer dort eigentlich wen nicht leiden kann.
Ich wusste nichts über Schottland. Und es beschämte mich, spätestens dann, als der Schotte von nebenan im lokalen Pub mit mir über die Europawahlen sprechen wollte, darüber, dass er nicht wählen ging, weil er das Gefühl hatte, keine Stimme zu haben. Spätestens dann, als ich mich hinter meinem Cider versteckte und zugab, dass ich nicht genug Hintergrundwissen für dieses Gespräch hatte, spätestens dann fiel mir auf, wie oberflächlich meine Liebe zu Großbritannien war—und wie ich prinzipiell alles dort zu idealisieren neige.
Foto: privat / Mercy Ferrars Photographer
Eine Therapie des Herzens mit Charles Dickens
Bei meiner Landung in Glasgow begrüßt mich ein exotisches Vogelzwitschern, das beruhigend durch Lautsprecher auf mich einsäuselt, und die Wände auf dem Weg zur Passkontrolle bezirzen mich mit Slogans wie „Das Land der Nationalparks!“ —und meine Hände, sie fangen ganz schön an zu zittern vor Glück. Aber wieso denn eigentlich?
Ich habe zugegebenermaßen eine starke Tendenz dazu, mein Glück grundsätzlich auf der anderen Seite des Zaunes zu suchen—oder, wortwörtlich, des Wassers. Als würde die Tatsache, dass ich mich und die kleine, sich ständig im Kreis drehende, kaputte Welt in meinem Kopf auf eine Insel verlege, auf einmal alles an Ort und Stelle rücken. Als könnte ich endlich durchatmen, und mich für eine gewisse Zeit wie ein ausgeglichener Mensch fühlen—was immer das bedeuten mag. Und das Ganze funktioniert natürlich wie eine sich selbsterfüllende Prophezeiung, denn in Großbritannien begegnen mir dann natürlich nur großartige Menschen und alle sind so offen und alle lachen den ganzen Tag und überhaupt ist alles viel schöner und es gibt mehr Kultur und alles ist so ‘britisch’. Die in der UK vereinten Länder mit ihren unterschiedlichen Kulturen unter einer britischen Identität zusammen zu fassen erscheint mir jetzt unbegreiflich ignorant. Ja, manchmal schaue ich mich dann selbst kopfschüttelnd an. Ich meine, natürlich gönne ich mir dieses Glück und es ist mir auch ganz egal, ob sich dieses Glück aus meiner Ignoranz ergibt, aber ein bisschen heuchlerisch ist es allemal.
Natürlich habe ich mein Herz an Glasgow verloren—es ist absolut industrial-chic und es hat wunderschöne Architektur und es wurde nicht zerbombt (wurde mir erzählt) und es hat kostenlose Kunstgallerien und alle sprechen mit einem super-sympathischen Akzent und ich verstehe immer nur die Hälfte und lache trotzdem viel und kaufe zu viel teuren Cold Brew aus einer Tardis. Und wie gesagt, so echt all das ist, so sehr ich mein Herz wirklich an diese Stadt verloren habe (wenn auch nicht an ihr Haggis), so sehr frage ich manchmal, ob es einfach nur ein Narrativ ist, welches ich mir repetitiv in den Kopf hämmere. Nach Schottland solltest du ziehen!, hält mir schon bald meine innere Stimme vor. Hier wäre dein Leben ganz anders! Hier wäre dein künstlerisches Schaffen viel produktiver! I mean, LOOK AT IT!
Okay, denke ich dann, und lächle etwas angestrengt. Vielleicht, ganz vielleicht, rede ich mir das ja alles nur ein.
Am dritten Tag meiner Reise erlebe ich das Privileg, in die Highlands gefahren zu werden. Wir fahren 2 Stunden im Auto in den Norden und umranden dabei den Loch Lomond und den Trossachs Nationalpark und ich denke mir: Guter Gott, würde ich hier leben, ich würde hier JEDES WOCHENENDE langfahren. (Die Stimme in meinem Hinterkopf erwidert: Eine Lüge!) Es ist fantastisch im engsten Sinne des Wortes, was ich an diesem Tag erlebe. Unsere 2 bis 3‑stündige Autofahrt begleitet von selbst-komponierter Klaviermusik und starkem Regen in der schönsten Landschaft, welche meine Augen je erfasst haben—eine Landschaft, welche mich aus meiner Ignoranz riss und Schottland wirklich sehen ließ—ist Balsam für meine sonnen- und angstgeplagte Seele. Je tiefer wir in die Highlands fahren, desto mehr fühle ich, wie sich etwas in meinem Kopf verschiebt. Und dieses Mal ist es nicht die Tatsache, dass ich hier alles schöner und kultureller und netter finde. Plötzlich, als wir nahe Glencoe aussteigen, um vor dem King House Hotel, in welchem angeblich schon Charles Dickens gastierte, Rehe zu füttern, begreife ich eine Sache, die das Gras in den schottischen Highlands für mich wirklich grüner machte: Die Welt ist so groß.

Foto: Malimoria Photography
Die Welt ist so groß und die Welt in meinem Kopf ist so klein und ich erlaube ihr permanent, die große Welt, die vor meinen Toren liegt, zu überschatten. Nichts bedeutet etwas, wenn die kleine dunkle Welt in meinem Kopf—die Welt voller Angst und Obsession und Traurigkeit und Zwängen—das Steuer übernimmt, und meine Perspektive im Klammergriff hält. 15 Minuten in den Highlands zu stehen hat mir klar gemacht, wie endlos groß die Welt eigentlich ist. Wie weit die nächste Zivilisation entfernt. Wie weit mein Leben in Berlin und all die kleinen Sorgen, die ich tagtäglich mit mir zu Bett trage und am nächsten Morgen mit in meinen Tag schleppe und denen ich konstant versuche, zu entlaufen. In den Highlands fällt es so leicht, die Fäuste zu öffnen und gehen zu lassen und zu begreifen, wie befreiend es ist, dass man im Angesicht der großen weiten Welt einfach mal nichts ist. Dass sich die kleine, wütende Welt im eigenen Kopf mal sonst wo hinscheren darf. Dass sie im Angesicht der weiten Landschaft, der riesigen, wunderschönen Nebelberge, der Weitläufigkeit nichts in meinem Leben verloren hat. Und das gut so ist.
In den Highlands fällt es so leicht, die Fäuste zu öffnen und gehen zu lassen und zu begreifen, wie befreiend es ist, dass man im Angesicht der großen weiten Welt einfach mal nichts ist. Dass sich die kleine, wütende Welt im eigenen Kopf mal sonst wo hinscheren darf. Dass sie im Angesicht der weiten Landschaft, der riesigen, wunderschönen Nebelberge, der Weitläufigkeit nichts in meinem Leben verloren hat. Und das gut so ist.
Das ermächtigende Gefühl einer anderen Welt
Auf meinem Heimflug zurück nach Berlin hat mich alles ein bisschen genervt: In einer Reihe Deutscher zu sitzen, die sich darüber unterhalten, wie anders ja alles in Schottland ist, die weite Landschaft unter mir verschwinden zu sehen, die traditionellen Shortbread-Fingers, die schon etwas zu lange an Board des Flugzeuges gegammelt hatten und der alte, braun gebrannte Herr im Sitz vor mir, der im Schlaf andauernd nach meinem Fußgelenk griff. Aber was ich letztendlich als Souvenir aus Glasgow und den Highlands mitgebracht habe, ist die verblüffende Erfahrung, dass mein Leben um eigenes glücklicher verläuft, wenn ich mir ein paar Sorgen mal am Allerwertesten vorbeigehen lasse. Wenn ich der kleinen, verzweifelten Welt in meinem Kopf weniger Raum gebe, wenn ich öfter sage: Im Angesicht des Universums haben die kleinen Dinge, die für mich groß werden, und mir den Raum zum Atmen nehmen, doch eigentlich keine Bedeutung.
Foto: privat / Mercy Ferrars Photographer
Das, glaube ich, ist nämlich das Geheimnis, wie man sich das heimische Gras genauso verführerisch gestaltet wie das Gras auf der anderen Seite. Das ist das Schweigen der Highlands, das in all seiner Stille so laut tost, dass es für ein paar Augenblicke nichts gibt außer Unendlichkeit, Einklang und Freiheit. Es ist eine Hoffnung, eine neue Perspektive, die ich aus Schottland mitbringe—das ermächtigende Gefühl einer anderen Welt.
Bildquellen:
Malimoria Photography
Mercy Ferrars Photographer
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