Der Zeitgott und das Chaos

Weshalb die Dinge nicht aus einem Grund passieren und weshalb sie das umso schöner macht

von Mer­cy Ferrars

Ende Juni veröf­fentlichte Net­flix die zweite Staffel seines ersten deutschen Orig­i­nals, Dark. Dark behan­delt die Zeit, die Reise in ihr und die Imp­lika­tio­nen in den Leben der Indi­viduen der fik­tionalen Kle­in­stadt Winden. Dark erzählt leise von der Zeit, langsam, und die Hand­lung der Show ent­fal­tet ihre weit verzweigten Stränge wie die Wurzeln eines undenkbar alten Baumes in der Erde. Unter­malt von ein­er atmo­sphärischen, doch unheil­verkün­den­den Musik und ein­er wun­der­vollen, in apoka­lyp­tis­chem Dunkel­blau gehal­te­nen Post­pro­duk­tion erzählt Dark von der Autorität der Zeit, die ihres­gle­ichen Gott für den Men­schen ist, und men­schlich­es Leben bes­timmt und fes­thält. Tat­säch­lich arbeit­et Dark mit parawis­senschaftlichen Struk­turen, die Physik­er und Math­e­matik­er ver­mut­lich die Haare raufen lassen. Doch auch wenn es sich die Serie her­aus­nimmt, gele­gentlich vom wis­senschaftlichen Kon­sen­sus abzuwe­ichen, so stellt sie als­bald die Fra­gen: Ergeben die Ereignisse unseres Lebens Sinn? Haben sie eine tief­ere Bedeu­tung? Weshalb sind sie geschehen? Und lassen sie sich ändern?

Lei­den­schaftlich gerne denke ich als Philosophin über die Seins-Natur von Din­gen nach, die mich als Men­schen bewe­gen, und „Zeit“ ist natür­lich keine Aus­nahme. Das Phänomen der Zeit ist eine zweis­chnei­di­ge Klinge, welche sich gle­icher­maßen auf die Wis­senschaft als auch die Philoso­phie und Psy­cholo­gie richtet. Denn ein­er­seits kon­sti­tu­iert sich Zeit als physisch „mess­bar­er“ und wahrnehm­bar­er Wan­del, als Verän­derung, und wird metapho­risch nicht grund­los als „Fluss“ beze­ich­net, als etwas, was stets in Bewe­gung ist und in der Regel in eine Rich­tung fließt—nämlich ger­adeaus. Ander­er­seits ver­lei­ht uns die Zeit einen nar­ra­tiv­en Rah­men, eine Struk­tur, in welche wir die Ereignisse unseres Lebens in Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukun­ft einordnen—und aus der Zeit wird so eine göt­tliche Entität, welche das Leben in all seinen Facetten dominiert, formt und richtet. Die Vorstel­lung, die Zeit zu manip­ulieren und sich frei in ihr zu bewe­gen ist zweifel­los aufre­gend, denn gewis­ser­maßen gle­icht die Zeitreise ein­er Form der Rebel­lion, ein­er Art der Befreiung von dieser absoluten Entität. Die Zeit zu biegen und zu verz­er­ren lässt uns Ereignisse nochmals besuchen, bessere Entschei­dun­gen tre­f­fen oder unser Selb­st aus einem anderen Lebens­ab­schnitt auf einen Kaf­fee einladen.

Die Vorstel­lung, die Zeit zu manip­ulieren und sich frei in ihr zu bewe­gen ist zweifel­los aufre­gend, denn gewis­ser­maßen gle­icht die Zeitreise ein­er Form der Rebel­lion, ein­er Art der Befreiung von dieser absoluten Entität. Die Zeit zu biegen und zu verz­er­ren lässt uns Ereignisse nochmals besuchen, bessere Entschei­dun­gen tre­f­fen oder unser Selb­st aus einem anderen Lebens­ab­schnitt auf einen Kaf­fee einladen.

Kein Wun­der also, dass die Entität der Zeit nicht nur die Wis­senschaft und die Philoso­phie begeis­tert, son­dern auch einen beliebten und zen­tralen Gegen­stand der Sci­ence Fic­tion darstellt.

Ganz schön paradox!

Wäre das Reisen in der Zeit allerd­ings tat­säch­lich möglich, ergäben sich daraus logis­che Kon­se­quen­zen. Ein gutes Beispiel hier­für ist das Boot­strap-Para­dox: Stelle dir vor, du leb­st im Jahr 2119 und bist ein riesiger Har­ry Pot­ter Fan. Außer­dem bist du im Besitz ein­er Zeit­mas­chine und hast die glo­r­re­iche Idee, ins Jahr 1990 zurück­zureisen, 10 Jahre vor der Erstveröf­fentlichung von Har­ry Pot­ter und der Stein der Weisen, um J.K. Rowl­ing zu tre­f­fen. Du schenkst ihr deine abge­grif­f­ene Aus­gabe in einem Anflug von Melancholie—und sie kopiert ihr eigenes Werk. Viele, viele Jahre später, sagen wir im Jahr 2097, bekommt dein 5‑jähriges Selb­st genau diese Aus­gabe geschenkt. Die Har­ry-Pot­ter-Rei­he beziehungsweise deine heißgeliebte Aus­gabe hätte in diesem Zeit­para­dox keinen ontol­o­gis­chen Ursprung mehr! Oder stelle dir vor, du kön­ntest in der Zeit zurück reisen und ein schreck­lich­es Ereig­nis ver­hin­dern, doch dein Selb­st, welch­es aus diesem Grund in der Zeit zurück­reisen wollte, hätte fol­glich keinen Anlass mehr, dies zu tun. Oder aber, du reist in der Zeit zurück und tötest deinen Groß­vater. Fol­glich wirst du nie geboren. Doch wer reist dann zurück in der Zeit? Ganz schön para­dox! Du siehst: Mal eben schnell deine erste Tren­nung zu ver­hin­dern oder dich in der Ver­gan­gen­heit auf einen Kaf­fee einzu­laden, ist ganz schön kom­pliziert. Und obgle­ich die Philoso­phie mögliche Lösungsan­sätze vorschlägt—beispielsweise die Hypothese der Alter­na­tiv­en Wel­ten oder die Hypothese der Zeitlin­iener­hal­tung—scheinen es diese Risiken wert, endlich eine ver­dammte Zeit­mas­chine zu bauen. Aber weshalb? Weshalb sind wir so besessen von der Zeit?

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Kausalität und Zeittheorien

Zweifel­los sind wir alle Ursprung und Auswirkung dynamis­ch­er Verän­derung und es kommt ob früher oder später ein Moment, in dem man sich fragt, ob den Din­gen, die uns wider­fahren, den Entschei­dun­gen die wir tre­f­fen, eine tief­ere Bedeu­tung innewohnt. Aber es stellt sich auch die Frage, ob wir uns von der Zeit und ihrer Autorität befreien können—und welche Kon­se­quen­zen sich daraus für das Chaos in uns ergeben.

Es stellt sich die Frage, ob wir uns von der Zeit und ihrer Autorität befreien können—und welche Kon­se­quen­zen sich daraus für das Chaos in uns ergeben.

Ein roman­tis­ches, lit­er­arisch ansprechen­des und mitunter sog­ar wis­senschaftlich­es Konzept von Zeit ist es, sie als kausale Kette von Ereignis­sen zu inter­pretieren: Alles ist miteinan­der ver­woben, alles fol­gt einem Plan, und am Anfang und am Ende ver­birgt sich ein Grund. Diese Sichtweise set­zt ein­er­seits eine gewisse Lin­ear­ität voraus—immerhin muss es für eine Auswirkung zuerst eine Ursache geben, welche zeitlich voraus gestellt ist, wie das berühmte Beispiel des Schmetter­lings in der Chaos­the­o­rie: Der Flügelschlag eines Schmetter­lings führt in ein­er kausalen Kette zu einem Hur­rikan am anderen Ende der Welt (und verän­dern sich die diese Anfangs­be­din­gun­gen, wird sich auch deren Auswirkung verän­dern). Um die Lin­ear­ität zu umge­hen, lässt sich Zeit vielle­icht wie eine große Karte vorstellen, auf welch­er gewisse Ereignisse ein­er Zeitlin­ie als Punk­te eingeze­ich­net sind, welche miteinan­der in Verbindung ste­hen, und hier scheint es auch möglich zu sein, dass ein zukün­ftiges Ereig­nis als Aus­lös­er für ein ver­gan­ge­nes Ereig­nis dient, wobei man hier die gängige kul­turelle Ter­mi­nolo­gie von „zukün­ftig“ und „ver­gan­gen“ nicht mehr wirk­lich anwen­den kann. Ein Beispiel: Auf einem späteren Punkt der Karte ist das ein­flussre­iche Ereig­nis verze­ich­net, dass du einen bewussten Humanoiden entwirf­st, welch­er sich später böswillig die Welt unter den Nagel reißt. Alle Punk­te, die an einem vorheri­gen Punkt eingeze­ich­net sind entsprin­gen diesem kausalen Ereig­nis, in dem sie es notwendi­ger­weise her­beiführen. Doch entsprin­gen diese kausalen Ket­ten ein­er deter­min­is­tis­chen Vorherbes­tim­mung oder wer­den sie aus Chaos geboren?

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Von Vorherbestimmung und wunderschönem Chaos

Ich fürchte, an dieser Stelle tun sich die Gren­zen der Philoso­phie auf, welche wun­der­volle Fra­gen zu Konzepten entwirft, die gerne als selb­stver­ständlich hin­genom­men wer­den. Und da ich keine Physik­erin bin, nähere ich mich der im vorheri­gen Para­graphen gestell­ten Frage von ein­er anderen Seite: Ist es denn notwendig, sich zu fra­gen, ob die Zeit und die Ereignisse in ihr deter­miniert oder chao­tisch sind? Ist es für unsere Gegen­wart, für unsere Entwick­lung, für unsere Reise rel­e­vant? Wenn man für einen Moment annimmt, dass wir uns in ein­er lin­earen Zeitlin­ie befind­en, welche ger­adeaus läuft, so scheint es im Hin­blick auf das bere­its Geschehene tat­säch­lich nicht wichtig zu sein, ob die Ereignisse, die uns noch erwarten, nun kausal vorherbes­timmt sind oder rein zufäl­lig geschehen. Dienen solche Fra­gen nicht eher als verzweifelte Legit­i­ma­tion unser­er eige­nen Exis­tenz in all ihren Facetten, von den guten und schlecht­en Din­gen, die uns wider­fahren sind über die Entschei­dun­gen, die wir trafen bis hin zu der unbekan­nten Zukun­ft, welche auf uns wartet?
Wir alle suchen nach einem Grund. Das Chaos zu akzep­tieren fällt schw­er, denn es annul­liert die Recht­fer­ti­gung unseres Schmerzes, und es scheint den Din­gen, von denen wir roman­tisch verk­lärt hof­fen, dass sie stets so vorherge­se­hen waren, ihre Bedeu­tungstiefe zu nehmen. (Lange habe ich diese Hal­tung geteilt, vielle­icht sog­ar noch bis kurz vor Ver­fassen dieses Textes.) Wenn es keine uni­verselle Wahrheit in allen möglichen Wel­ten ist, dass wir die große Liebe gefun­den, die Welt gerettet oder ähn­liche, von Per­son zu Per­son abwe­ichende Leben­sansprüche erzielt haben, ver­lieren diese Dinge nicht ihr Gewicht?

Auf diese Frage habe ich einen Vorschlag. Vielle­icht ist es nicht die Zeit und ihre Kausal­ität, die unser­er eige­nen Geschichte, den guten und den schmerzhaften Aspek­ten, Tiefe ver­lei­ht. Vielle­icht ist es nicht die Frage, ob diese Erleb­nisse einen Grund haben, ob wir einem Plan fol­gen. Stattdessen kön­nten wir unsere Integrität in den Ereignis­sen an sich find­en. In der Moti­va­tion und der Hoff­nung der guten Dinge und in der for­ma­tiv­en Natur der neg­a­tiv­en Dinge, welche unsere Iden­tität gle­icher­maßen her­vormeißeln. In der Antizipa­tion der Ungewis­sheit, die uns erwartet, daraus, nicht zu wis­sen, wohin wir gehen. Aus dieser Ungewis­sheit, auf diesem kleinen Fun­dus an Erfahrung und Erin­nerung, resul­tiert und basiert unser Men­sch­sein. Aus ihr entsprin­gen unsere Äng­ste, unsere Hoff­nun­gen, unsere Fehler und unser Glück, Weisheit und Güte.

In der Antizipa­tion der Ungewis­sheit, die uns erwartet, daraus, nicht zu wis­sen, wohin wir gehen, auf diesem kleinen Fun­dus an Erfahrung und Erin­nerung, resul­tiert und basiert unser Men­sch­sein. Aus ihr entsprin­gen unsere Äng­ste, unsere Hoff­nun­gen, unsere Fehler und unser Glück, Weisheit und Güte.

Diese Dinge ein­fach zu akzep­tieren, ist mutig, nicht nach dem Grund zu fra­gen, umso mutiger. Doch in ihrer Akzep­tanz liegt eine gewisse Auflö­sung des ver­bis­se­nen Wun­sches nach der Manip­u­la­tion der Zeit. In ihrer Akzep­tanz liegen wir, und nehmen unser „Schick­sal“ in die eige­nen Hände, anstatt es dem Gott der Zeit zu übergeben.


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