Ralph Mag #3: Offene Lesebühnen

von Ralph Mönius

In dieser Kolumne findet unser Autor Dinge gut. In der dritten Folge: Offene Bühnen für Autoren.

Wenn ich an Lit­er­atur denke, dann denke ich nicht zuerst an ein physis­ches Buch, Kul­tur, Her­rn Reich-Ran­ic­ki oder ein Reclam-Heft, son­dern an offene Lese­büh­nen. Diese wun­der­vollen Ver­anstal­tun­gen, die streng dur­chor­gan­isiert oder hoch chao­tisch, tief­trau­rig oder zum Trä­nen lachen lustig, ergreifend oder auch mal nur irri­tierend sein kön­nen. Seit knapp anderthalb Jahren bin ich min­destens ein­mal die Woche auf diesen Büh­nen unter­wegs, mal zum lesen, mal zum zuhören, haupt­säch­lich in Berlin, ab und an auch ander­swo. Sie sind—meiner Mei­n­ung nach—die Orte, an denen Lit­er­atur in ihrer rein­sten Form stat­tfind­et, weshalb ich hier in mein­er kleinen Empathie-Kolumne eine Lanze für sie brechen will.

SoNochNie_OffeneLesebuhne.jpg© So noch nie 

Dazu soll­ten wir jedoch zuerst ein­mal die Frage klären: Was ist eigentlich eine offene Lese­bühne? Das ist ganz ein­fach. Es ist eine Bühne, auf der gele­sen wird und an der jed­er teil­nehmen kann. Nor­maler­weise gibt es eine feste Max­i­mal-Anzahl an Teil­nehmern pro Abend und jed­er hat gle­ich viel max­i­male Lesezeit, meis­tens so etwas um die 10 Minuten. Was genau gele­sen wird, ist dann so unter­schiedlich wie die Teil­nehmer selb­st. Von der Kurzgeschichte über den Romanauszug bis hin zur Lyrik oder jour­nal­is­tis­chen Tex­ten, ist alles vertreten. Genau­so ver­schieden wie die Texte sind aber auch die Lesenden, die sich in Alter, Leseer­fahrung, kul­turellem und sprach­lichem Hin­ter­grund eben­so stark unter­schei­den, wie das, was sie vor­tra­gen. Es ist eben offen.

Natür­lich wird der lit­er­arische Wert ein­er Ver­anstal­tung, die Anfänger zulässt, die zum ersten Mal auf der Bühne ste­hen, oft kri­tisch beäugt. Dabei ist genau das ein­er der stärk­sten Plus­punk­te der offe­nen Bühne. Denn im Gegen­satz zu dem, was sich im pro­fes­sion­al­isierten Lit­er­aturbe­trieb oft beobacht­en lässt, ist die offene Lese­bühne in der Regel nicht elitär.

Im Gegen­satz zu dem, was sich im pro­fes­sion­al­isierten Lit­er­aturbe­trieb oft beobacht­en lässt, ist die offene Lese­bühne in der Regel nicht elitär.

Natür­lich kön­nen auch hier Men­schen im Pub­likum sitzen, die durch ihr Feed­back ihr Akademik­er-Ego pfle­gen oder eine Runde Fach­wort-Bin­go gewin­nen müssen. Den­noch tre­f­fen hier eben Men­schen unter­schiedlich­ster Bil­dungss­chicht­en aufeinan­der, in den Tex­ten sowie im Feed­back, was das Ganze wun­der­bar aus­gle­icht. Durch das intime Set­ting ein­er kleinen Bühne, eini­gen Lesenden und ein­er hand­voll Pub­likum, ergeben sich immer wieder über­raschende Abende, während der­er man sich unglaublich gut aus­tauschen, stre­it­en und näher kom­men kann. Ger­ade der Umstand, dass auf einen her­vor­ra­gen­den Text ein totales Desaster fol­gen kann, macht hier den Reiz aus, da die Anwe­senden immer wieder vor die Frage gestellt wer­den, warum etwas funk­tion­iert und etwas anderes nicht, oder um es bre­it­er zu fassen: was gute Lit­er­atur eigentlich ausmacht.

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© Unser Autor Ralph bei der Dantras Open Stage

Aus Autoren­sicht sind offene Lese­büh­nen der per­fek­te Ort, um Tex­ten den let­zten Schliff zu ver­passen, weshalb auch nur sel­ten jemand kom­plett fer­tige Werke mit­bringt. Denn viele Büh­nen bieten Diskus­sion­srun­den nach den Tex­ten an, und selb­st wenn nicht, merkt man als Lesender auf der Bühne genau, wann das Pub­likum aufmerk­sam zuhört, wann es ver­wirrt ist, wann gelang­weilt und wann sog­ar abgeschreckt. Oder, wie in meinem Fall oft geschehen, man merkt, ob ein Witz funk­tion­iert oder nicht. Nach ein­er Pointe eine Pause für den Lach­er zu lassen, der dann nicht kommt, ist eine kurzweilig schmerzhafte Erfahrung, jedoch eine eben­so lehrreiche. 

Aus Sicht des Pub­likums hinge­gen, ent­fal­tet sich meist ein über­raschend unter­halt­samer lit­er­arisch­er Abend, denn anstatt ein­er lesenden Per­son zu lauschen, einem The­ma, ein­er Stimme, für 90 Minuten, wech­seln die Men­schen, die The­men, die Stim­men und Stim­mungen ständig. Ein erschüt­tern­der Text kann durch einen leicht­tra­bend-witzi­gen abgefed­ert wer­den, zwis­chen kom­plexe poli­tis­che Botschaften mis­chen sich banale All­t­ags­be­tra­ch­tun­gen und manch­mal tut es auch ein­fach gut, nach einem lit­er­arischen Hochgenuss bei einem offen­sichtlich schwachen Text mal abschal­ten zu kön­nen. Machen die Ver­anstal­ter ihre Sache gut, ist sowohl die Mod­er­a­tion als auch die Lesezeit der einzel­nen Teil­nehmer nicht zu lang und es entste­ht ein schön­er Fluss. Darüber hin­aus muss man nicht nur zuhören, son­dern kann oft auch mal hier und da die eigene Mei­n­ung zum Gehörten kund­tun, spätestens in der Pause oder am Ende. Klein­er Tipp: Auch hier emp­fiehlt es sich, sich kurz zu fassen.

Der größte Plus­punkt der offe­nen Lese­bühne ist jedoch, dass man es nicht nur mit einem Text zu tun hat. Denn live im Raum erlebt jed­er Zuschauer auch den Men­schen hin­ter den Worten und damit manch­mal unglaubliche Szenen. 

Denn live im Raum erlebt jed­er Zuschauer auch den Men­schen hin­ter den Worten und damit manch­mal unglaubliche Szenen.

Wenn etwa ein Autor seinen Text auf seinem ural­ten Lap­top mit­bringt, für den er wegen des schon lange nicht mehr funk­tion­ieren­den Akkus erst ein­mal eine Steck­dose braucht. Dann warten das Pub­likum und er geduldig—und das Pub­likum auch zunehmend belustigt—bis sich das Gerät durch die Hochfahr-Proze­dur von Win­dows 98 gequält hat, nur um dann den zusam­men gesunke­nen sitzen­den Autor bei einem in den Bild­schirm genuschel­ten Vor­trag eines kurzen Gedicht­es irri­tiert zu beäu­gen, denn selb­st die erste Rei­he hat jet­zt kein Wort ver­standen, was zu gle­ichen Teilen an dem laut­en Lüfter des Lap­tops und dem aufgeregten, scheuen Autor liegt. Also tritt der Mod­er­a­tor der Ver­anstal­tung selb­st auf die Bühne und liest das Gedicht vor, das sich als herzzer­reißende Wortkun­st-Per­le erweist.

DerLesetresen.jpg
© Der Lesetresen

Doch nicht nur absurde Sit­u­a­tio­nen wie diese lassen einen tief­er­en Ein­blick in die Per­sön­lichkeit­en der Lesenden zu, auch die Art und Weise wie sie lesen. Wie zum Beispiel dem bekan­nten Berlin­er Lese­büh­nen-Betreiber und ‑Autor Matthias Rische am Ende sein­er oft tief­trau­ri­gen Geschicht­en selb­st die Stimme zu zit­tern begin­nt, weil seine bril­lant for­mulierten, atmo­sphärischen Wort-Gemälde ihn selb­st so sehr mit­nehmen. Oder wie ein Urgestein der offe­nen Lese­büh­nen, Wolf­gang Weber, seinen von ihm selb­st so genan­nten rhyth­mis­chen Tex­ten durch den Ein­satz von Ras­sel-Eiern, Bon­gos oder anderen Uten­silien und seine stakka­toar­tige Leseweise Momente von großer Witzigkeit und eben­so großer Tiefe abringt. Oder manch­mal auch, wenn ein von sich und seinem Text zu überzeugter Autor sich in ein­er Diskus­sion jedem kri­tis­chen Feed­back ver­schließt und sein Werk vehe­ment verteidigt. 

In diesen Momenten, Eigen­heit­en und Einzel­heit­en liegt die große Stärke und lit­er­arische Rel­e­vanz der offe­nen Lese­bühne: In den uner­warteten Fehlschlä­gen und Tri­umphen, den mal geplant mal zufäl­lig entste­hen­den Momenten, die im Gedächt­nis hän­gen bleiben, den Men­schen, die nicht nur ihre Texte, son­dern sich selb­st in den Abend ein­brin­gen. Durch sie wächst bei allen Anwe­senden das Ver­ständ­nis von Lit­er­atur, erweit­ert sich, ver­fein­ert sich, und macht immer wieder Lust auf den näch­sten kun­ter­bun­ten Leseabend. 

Falls ihr jet­zt Lust bekom­men habt, eine offene Lese­bühne zu besuchen, mit eigen­em Text oder ohne, hänge ich für alle Inter­essierten noch eine kleine Liste mit sehr lohnenswerten Berlin­er Büh­nen an. Anson­sten sage ich bis näch­sten Monat, lasst euch nicht unterkriegen und hört nicht auf Dinge zu mögen!


Für alle, die das Lese­büh­nen-Fieber gepackt hat, empfehlt Ralph fol­gende Veranstaltungen:

So Noch Nie im Zim­mer 16, Kunst­wel­ten im Kun­stRaum Berlin, Lese­tre­sen im Café Cralle, Lauter Nie­mand Lit­er­aturla­bor im Café Cha­gall, Autoren­fo­rum Berlin e.V. in der Schwartzschen Villa


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