von Mercy Ferrars
Im Verlauf ihrer Geschichte wurden der Weiblichkeit vielerlei Rollen und Funktionen zugewiesen. Im Index ihrer Vergangenheit ist die Frau gleichermaßen Mutter wie Hexe, Ehefrau wie Prostituierte und Sklavin wie Rebellin. Faktoren wie das Zeitalter, das vorherrschende ökonomisch-politische System und der Einfluss der Kirche bestimmten im westlichen Europa, welche Geschichte über sie erzählt wurde. Im Fokus der politischen Debatten, welche die Geschichte der Frau maßgeblich formten, befand sich schon von jeher ihr Körper—und auch jener war zugleich Mythos und Pathos. Der moderne Archetyp von Weiblichkeit—der normative weibliche Körper, die weibliche Verhaltensetikette, und Stereotype bezüglich der Fähigkeiten von Frauen—welchen der Feminismus aktiv aufzudecken sucht, ist das Resultat einer langsamen, doch grausamen Unterwerfung der Frau. Oftmals wird dem Feminismus Überfluss vorgeworfen, und es wird die Frage gestellt, “weshalb Frauen noch immer kämpfen, wenn sie doch bereits wählen dürften”. Führt man sich vor Augen, dass der weibliche Körper, ebenso wie die weibliche Lust und Sexualität immer noch staatlicher Kontrolle und regulativen Maßnahmen unterliegt, ist klar warum ein Kampf für Gleichberechtigung heute ebenso elementar ist, wie vor der Einführung des Frauenwahlrechts. Noch immer werden der Körper der Frau nicht nur als Staats‑, sondern auch als kulturelles Eigentum verstanden. Und noch immer resultiert aus diesem Zustand ein kollektives Trauma, welches sich auf das Vermächtnis der weiblichen Historie legt.
Führt man sich vor Augen, dass der weibliche Körper, ebenso wie die weibliche Lust und Sexualität immer noch staatlicher Kontrolle und regulativen Maßnahmen unterliegt, ist klar warum ein Kampf für Gleichberechtigung heute ebenso elementar ist, wie vor der Einführung des Frauenwahlrechts.
Die Identität der Frau wurde zum Großteil durch männliche Bedeutungsträger—Politiker, Denker und Wissenschaftler—von Generation zu Generation entworfen, entschieden und weitergegeben. Immer diente ihr Narrativ vorherrschend einer Funktion: Der Stärkung des Mannes im Patriarchat. Der weibliche Drang—das weibliche Recht—nach körperlicher Autonomie scheint diesem System den Boden unter den Füßen zu entreißen. Da Frauen in der westlichen Kultur nicht mehr öffentlich gefoltert, vergewaltigt und verbrannt werden dürfen, bedarf es einer unauffälligen Machtstrategie, um sie dennoch in ihre Grenzen zu weisen: Die Geschichte der Mutter und die der Anderen Frau.
Von der Arbeiterin zur Prostituierten zur Mutter—Europas Frauenbild
Albrecht Dürer, Die Geburt der Jungfrau
Versucht man, die westeuropäische Geschichte genealogisch nachzuvollziehen, so stellt man fest, dass weibliche Körper nicht immer durch den Staat reguliert und die Unterschiede zwischen Frau und Mann nicht immer durch eine Spaltung von Rationalität und Emotionalität geprägt waren. Verschiedene feministische Sozialwissenschaftler*innen wie die italienisch-amerikanische Frauenrechtlerin Silvia Federici zeichnen ein Bild des feudalen Europas, in welchem Frauen, wenn auch dem Mann sozial untergestellt, Zugang zu Land und Gemeinschaft hatten. Eine Zeit, in der Frauen die volle Kontrolle über ihre Körper ausübten, indem sie durch ihr ausgeprägtes Wissen um Kräuter und Naturheilmittel Tränke brauten, die sowohl als Verhütungsmittel als auch zur Abtreibung ungewollter Schwangerschaften verwendet werden konnten. Im Rahmen der feudalen Klassenkämpfe der Bauern im 13. Jahrhundert migrierten viele vom Land in die Stadt, wovon Frauen einen großen Teil der Auswandernden ausmachten. Dort nahmen sie Berufe an, die heute als „männliche Domäne“ gelten: Sie wurden Ärztinnen, Lehrerinnen, Metzgerinnen, Bierbrauerinnen und Einzelhändlerinnen. Mit dem langsamen Übergang der Feudalgesellschaft in den frühen Kapitalismus folgte für die Frau ein einschneidender, sozialer Umbruch. Durch die Besitzenteignung des Proletariats und die Landprivatisierung durch die Oberschicht sowie durch die Einführung der Lohnarbeit konnten sich Arbeiter nicht weiter selbstständig über Wasser halten. Als das Bedürfnis wuchs, Kapital anzuhäufen, wuchs gleichermaßen die Nachfrage nach Arbeiterkräften, die dieses Kapital heranschaffen konnten.
Um das 15. Jahrhundert begann der Staat also, in das Privatleben von Frauen einzugreifen, indem er begann, ihre Sexualität zu kontrollieren. Es wurde großer Wert darauf gelegt, dass Frauen Kinder zur Welt bringen und so die ökonomische Arbeitskraft sichern. Der Staat erreichte diese totale Kontrolle durch, einerseits, die Bestrafung von Frauen, die abtrieben, ihre Kinder nach der Geburt weggaben oder ihren Männern fremdgingen. Bekannte Bestrafungen waren Ertränkung, Köpfung und andere tödliche Disziplinierungsmaßnahmen. Auf der anderen Seite wurden Frauen aus der medizinischen Domäne vertrieben, indem beispielsweise Hebammen langsam durch Ärzte ersetzt wurden, wie Barbara Ehrenreich und Deirdre English in ihrem Pamphlet Hexen, Hebammen und Krankenschwestern berichten. Mit der Kontrolle der weiblichen Sexualität verwandelte sich auch die Arbeit der Frau: Arbeitete sie zuvor gleichermaßen mit dem Mann auf dem Feld und im Haus, so wurde ihre Arbeit nun auf die Fortpflanzung und die Fürsorge für Kind und Ehemann umgelenkt. Wurde sie zuvor für ihre Arbeit entlohnt, wird diese nun als „Nichtarbeit“ deklariert. Durch einen sich über mehrere Jahrhunderte ziehenden weiblichen Massenmord in Form der Hexenverfolgungen in Europa formte sich eine wiederum neue Geschichte, ein neuer Mythos der Frau: Sie war nun die Wilde, sie war die Verführung, sie war im Pakt mit dem Teufel. Um das 17. Jahrhundert wurde sie nicht nur zum Feind des Staates, sondern auch der Kirche.
Durch einen sich über mehrere Jahrhunderte ziehenden weiblichen Massenmord in Form der Hexenverfolgungen in Europa formte sich eine wiederum neue Geschichte, ein neuer Mythos der Frau: Sie war nun die Wilde, sie war die Verführung, sie war im Pakt mit dem Teufel.
Als sekulär-staatliche Gerichtshöfe und die Kirche aufhörten, Hexen zu verbrennen, wurde die Frau zur Ehefrau. Das Frauenbild der westlichen Kultur war von nun das der gefügigen Gemahlin, geprägt von einer sexuellen Reinheit; sie wurde zur moralischen, gut erzogenen Frau, die ihrem Mann diente und ihre Familie pflegte. Die moderne Frau sprach nicht laut, es wurde ihr der Ruf zuteil, domestiziert und elegant zu sein. Dieses Frauenbild, welches sich nach den Hexenverfolgungen etablierte, hält sich bis heute.
Weiblichkeit wird in erster Linie als Attraktivität verstanden, eine normative Attraktivität, welche dem heterosexuellen Blick dient und den heterosexuellen Mann dazu anreizt, sich fortzupflanzen. Obgleich sie heutzutage ihr eigenes Geld verdient und als eigenständiges rechtliches Wesen handeln kann, verdient sie noch immer weniger als ihr Pendant, und ihre Aussage im Gericht wird noch immer mit Skepsis getroffen. Von ihr wird noch immer Keuschheit und Verführung gleichermaßen erwartet. Noch immer darf ihr Rock nicht zu kurz sein, ihre sexuellen Vorlieben hingegen nicht zu prüde. Und noch immer soll die Frau ihre Rolle als Mutter erfüllen, als Lebensspenderin, als Fürsorgende. Die kinderlose Frau wird ab einem gesellschaftlich festgelegten Alter kulturell bestraft und aus der Gemeinschaft und dem kollektiven Verständnis des Frauseins verbannt.
Obgleich sie heutzutage ihr eigenes Geld verdient und als eigenständiges rechtliches Wesen handeln kann, verdient sie noch immer weniger als ihr Pendant, und ihre Aussage im Gericht wird noch immer mit Skepsis getroffen. Von ihr wird noch immer Keuschheit und Verführung gleichermaßen erwartet. Noch immer darf ihr Rock nicht zu kurz sein, ihre sexuellen Vorlieben hingegen nicht zu prüde. Und noch immer soll die Frau ihre Rolle als Mutter erfüllen, als Lebensspenderin, als Fürsorgende.
Die Mutter und die Kinderlose
Mutterschaft ist ein solch zentraler Bestandteil des Überlebens der menschlichen Spezies, dass sich die Gesellschaft nicht ohne sie denken lässt—zumindest nicht auf natürliche Weise. Mutter zu sein bedeutet daher, der eigenen Spezies ein weiteres Leben zu schenken, welches sie in die nächste Generation trägt. Ob unterstützt durch liebende Partner, ob allein erziehend, ob Adoptivmutterschaft—Mütter leisten einen sagenhaften Job, der Politikern und Ärzten ebenbürtig ist, wenn nicht gar viel ursprünglicherer und substanziellerer Natur. In meinem Leben sind mir viele Mütter begegnet—allen vorweg natürlich meine eigene bemerkenswerte Mutter, die einen fantastischen Job geleistet hat, für den ich immer großen Respekt haben werde.
Die Realität der Mutter sieht allerdings anders aus als ihr kulturell überlieferter Mythos. Mir sind Mütter begegnet, die es liebten, schwanger zu sein und welche, für die ihre Schwangerschaft gar die schrecklichste Zeit ihres Lebens war. Mütter, die ihre Kinder lieben und Mütter, die keinen Zugang zu ihren Kindern finden. Und Kinder sind aus vielen Gründen entstanden, unter welchen die romantische Liebe nicht so sehr prävaliert wie oft vermutet. Im Gespräch mit diesen Müttern und durch die niedergeschriebenen Geschichten und Stimmen vieler anderer Frauen habe ich mich oft gefragt, welchen Grund es abseits der Erhaltung der eigenen Spezies geben kann, um ein Kind gebären und erziehen zu wollen, denn es scheint wie anstrengende, undankbare Knochenarbeit, ein Kind zu disziplinieren, ohne es zu traumatisieren. Hinzu kommt ein massiver Einschnitt ins eigene Leben, die Aufgabe des eigenen Berufes, des Privatlebens; die Hingabe des eigenen Körpers, welcher Narben davon trägt. Was mir diese Geschichten auch gezeigt haben: Das romantische, gesellschaftliche Bild der Mutterschaft, nach welchem so viele junge Mädchen streben, ist verdammt harte Arbeit und ein Job, von welchem es keinen Urlaub gibt. Es ist die volle Hingabe. Es ist das Opfer, das eigene Leben mit einem weiteren Menschen zu teilen, auf eine Art und Weise, die viel tiefer reicht als eine Partnerschaft.
Der Feminismus strebt zum Thema Mutterschaft stark auseinander. Es gibt Feministinnen, die Mutterschaft radikal ablehnen und welche, die dazu aufrufen, sie willkommen zu heißen. Doch das ist nicht die relevante Frage. Die Frage lautet: Wie dient das inhärente Verständnis der „Frau als Mutter“ der Stärkung des Patriarchats, der eigenen Unfreiheit gebährfähiger Personen? Es scheint keine freie Wahl zu sein, Mutter zu werden: Eigentlich ist es ein vielseitig vorausgesetztes Ereignis im Leben einer jeden Frau, und die Ablehnung dieses Reiferituals zieht Zweifel nach sich, die die rebellische Frau post hoc in die vorherrschende soziale Struktur zurückführt, als Negativ der voll entfalteten Frau, als zu Bedauernde. Sich gegen die Mutterschaft zu entscheiden, scheint ihr einen unterschiedlichen Status zu verleihen als der Mutter. Trauen sich ältere Frauen von ihrer Kinderlosigkeit zu sprechen, wird der Einsamkeitsvorwurf oft ganz groß. „Bist du nicht einsam?“ lässt sich leicht als „Siehst du nicht ein, dass deine Entscheidung falsch war?“ übersetzen. Glückliche, erfüllte, kinderlose Frauen werden oft nicht richtig verstanden, anerkannt und einbezogen.
Kurz gesagt, stellt weder die Mutter noch die kinderlose Frau ein Problem dar, im Gegensatz, beide leisten einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft. Beide sind Frau, wenn sie sich als Frau identifizieren. Was ihre Rollen formt und bewertet, ist hingegen eine patriarchale Kultur, die sich einzig um ihr eigenes Überleben schert. Und so entstehen Generationen von Frauen, die ihren Töchtern die Geschichte vom Muttersein erzählen, Baby-Puppen, welche vor allen Dingen an kleine Mädchen vermarktet werden, und die Gesellschaft, die jungen Frauen ab einem gewissen Alter immer wieder eine gewisse Frage stellt: Wann kommen denn die Kinder? Frauen, denen in Bewerbungsgesprächen vorgehalten wird, dass sie unausweichlich Kinder bekommen werden; die große gesellschaftliche Sorge um den weiblichen Uterus, die, obwohl sie natürlich auch zur allgemeinen weiblichen Gesundheit beiträgt, auch darum bemüht ist, dass Mädchen später fruchtbar sein werden. Das Problem ist die kulturelle Bewertung diverser weiblicher Identitäten, welche vom patriarchalen Frauenbild divergieren. Die Frau wird ab einem gewissen Alter stets in Relation zu ihrem mütterlichen Potential beurteilt, und erfährt Ablehnung oder Dank. Aus der kollektiven weiblichen Identität wird die Kinderlose ausgeschlossen. Oftmals geschieht diese Ausschließung nicht durch den Mann, sondern durch andere Frauen, die so die Tradition, die große Sage vom Muttersein immer wieder vorleben und am Leben erhalten. Doch auch wenn sich dieses kulturelle Bild unglaublich stark hält, gibt es Wissenschaftler*innen, die Frauen eine Stimme geben wollen, um ihre eigene Erfahrung zu teilen—ganz echt, ungeblümt und ehrlich. So auch die israelische Soziologin Orna Donath in ihrer Studie „Regretting Motherhood“, welche 2015 auch in Deutschland stark polarisierte.
Die Geschichte der Mutter ist produktiv
Im modernen politisch-ökonomischen System ist die Welt noch immer darauf angewiesen, dass es ausreichend Menschen gibt, die für Lohn arbeiten gehen, und sich für diese Arbeit aufopfern. Und völlig abseits des Geschlechtes steht auch im 21. Jahrhundert noch immer der Körper im Zentrum, welcher als Maschine, als Medium gilt, als das Gefäß der produktiven Arbeitskraft, als Mittel zur Kapitalsanhäufung. Das Mutterschaftsnarrativ fügt sich in diese Produktion des menschlichen Körpers gleichermaßen mit dem Bodyshaming übergewichtiger Menschen und dem modernen Gesundheitsstandard ein. Und als solches muss es erkannt werden, als Mittel zur Produktion. So verfestigt und reproduziert sich die Macht des Staates im Individuum, welches seine funktionalen Narrativen und Legenden verinnerlicht. Und so kann man sagen, dass die Frau—und der Mann—im Westeuropa des 21. Jahrhunderts zwar nicht mehr für Heresie oder andere ideologischen Verbrechen getötet wird, der Einfluss des Staates auf die Einzelnen allerdings noch immer besteht. Es ist lediglich die Art und Weise, auf welche das Individuum nun kontrolliert und reguliert wird, die sich geändert hat. Kurzum, die Geschichte der glücklichen Mutter ist verdammt produktiv. Sie sitzt unserer Gesellschaft so tief in den Knochen, dass ihre fabrizierte Natur nicht mehr wahrzunehmen ist und sie gar als innere Wahrheit verstanden wird. Gleichermaßen reguliert sie die Einzelne so sehr wie die Gesellschaft, die sie umgibt—durch ihre Empfindung von Scham, Reue und der ewigen Infragestellung der eigenen Identität.
Also.…
Mercy Ferrars Photographer
„Die Frau“ in diesem Text ist weder nur Mutter, nur Rebellin, nur Hexe, nur Prostituierte. Die Frau in diesem Text ist alles. Sie ist, wozu sie sich macht. Nachdem ihre Geschichte jahrhundertelang für sie erzählt wurde, erhebt sie seit geraumer Zeit endlich selbst ihre Stimme.
Nachdem ihre Geschichte jahrhundertelang für sie erzählt wurde, erhebt sie seit geraumer Zeit endlich selbst ihre Stimme.
Sie erzählt von sexualisierter Gewalt und von dem Anspruch, über den eigenen Körper bestimmen zu dürfen. Sie erzählt von all den Frauenkörpern, die keinem normativen Bild entsprechen, und die dennoch wunderbare, wunderschöne Frauenkörper sind. Die Frau erzählt von ihrer reichen Innenwelt, ihrer Vorstellungskraft, ihrer Kreativität, ihrem Mut, ihrem Wissensdurst. Sie erzählt von ihrem Kampf um gleiche Löhne, um freie Sexualität—eine Sexualität, die sie selbst definiert. Die Frau erzählt ihre eigene Geschichte, die von der Mutter und der anderen Frau, Hand in Hand: Die von der Freiheit, die von der Liebe, und die von der Vielfalt.
Buch-Empfehlungen von Mercy zum Weiterlesen:
Silvia Federici: Caliban und die Hexe: Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation
Barbara Ehrenreich & Deirdre English: Hexen, Hebammen und Krankenschwestern
Bildquellen: pexels.com, Albrecht Dürer/Public Domain, Mercy Ferrars Photographer
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