Schlag zur Hexenstunde

von Mer­cy Ferrars

Sie ist Mar­garet Hamil­ton im Zauber­er von Oz. Sie ist Dis­neys Malef­i­cent. Sie ist Mar­vels Hela, die böse Schwest­er Lokis und Thors in Asgard. Sie ist Hillary Clin­ton in ihrem Wahlkampf im Jahr 2016. Sie ist Circe, die ver­ban­nte Tochter des Son­nen­gottes der Antike. Und sie ist jede Frau. Sie ist jede Frau, von der Kranken­schwest­er über die Poli­tik­erin bis hin zur Sexarbeiterin.

Die Hexe. Eine Iden­tität, gle­icher­maßen unglaublich divers und doch so ger­adlin­ig begrif­f­en. Jede Kul­tur hat ihre eigene Konzep­tion der Hexe. In der west-europäis­chen Kul­tur ist sie die alte Frau, die auf Besen reit­et und einen Hex­en­hut trägt. Und doch, schaut man in lokale Kostümshops, so begeg­nen einem eine Rei­he von „sexy Hex­en“ mit knap­pen Röck­en und üppi­gen Dekol­letés. So unbe­grei­flich wie dieser ver­meintliche Wider­spruch zu sein scheint, so his­torisch ist er para­dox­er­weise. Denn eines war die Hexe schon immer: Jede Frau.

Cottonbro/Pexels

In meinem Artikel zur Mut­ter­schaft habe ich darüber berichtet, wie sich das Nar­ra­tiv des Mut­ter­seins über die Jahrhun­derte zum zen­tralen Nar­ra­tiv des Frau­seins entwick­elt hat. Ich habe von den Ursprün­gen der sozialen Ungle­ich­heit erzählt, den Aus­gangskon­di­tio­nen, inner­halb welch­er sich ein Patri­ar­chat etablieren kon­nte. Diese Geschichte teilt auch die Hexe mit der Mut­ter. Und doch gibt es eine Sache, die die Hexe von der Mut­ter so klar unter­schei­det: Sie ist die Spukgeschichte ein­er Welt, welche ihr vom 15. bis 17. Jahrhun­dert das Todesurteil verkündete—in manchen Län­dern, wie Indi­en und Südafri­ka, wer­den Frauen noch bis zum heuti­gen Tage als Hex­en verfolgt.

„Was ist denn das Weib anderes als eine Ver­nich­tung der Fre­und­schaft, eine unent­fliehbare Strafe, ein notwendi­ges Unglück, eine natür­liche Ver­suchung, ein begehrenswertes Unheil, eine häus­liche Gefahr, ein reizvoller Schädling, ein Weltü­bel, mit schön­er Farbe bestrichen?“, schreibt der The­ologe Hein­rich Kramer 1486 im Malleus Malefi­carum, dem „Hex­en­ham­mer“, welch­es eines der ein­flussre­ich­sten Werke zur Fem­i­nisierung der Hex­en­ver­fol­gun­gen wer­den sollte. „Also schlechte ist das Weib von Natur, da es schneller am Glauben zweifelt, auch schneller dem Glauben abschwört, was die Grund­lage von Hex­erei ist“, schreibt er an ander­er Stelle. Das Böse, der Feind Gottes im Mit­te­lal­ter, das war zum Großteil die Frau—ergänzt bloß durch eine Gruppe an mar­gin­al­isierten sex­uellen Min­der­heit­en. Schnell begreift das auch die Kirche, welche schon im 12. Jahrhun­dert religiöse Gruppen—die soge­nan­nten Häretiker—verfolgt, welche eine vom Dog­ma der Katho­liken abwe­ichende Glauben­srich­tung vertei­digten, berichtet die ital­ienisch-amerikanis­che Frauen­recht­lerin Sil­via Fed­eri­ci in Cal­iban und die Hexe. Später wurde die Frau, welche von Staat, Kirche und Medi­zin gle­icher­maßen gebrochen und diszi­plin­iert wer­den sollte—und sich doch uner­lässlich in der Rebel­lion erhob—zur Geliebten des Teufels. Eine pornografis­che Fan­tasie, welche sich die Kirche nur allzu detail­liert aus­malte. Der Kör­p­er der Frau rück­te in den Fokus der mit­te­lal­ter­lichen Poli­tik im west­lichen Europa. Viele der Ver­brechen, die Hex­en vorge­wor­fen wur­den, rank­ten sich um ihre Sex­u­al­ität. Unter anderem zählte sowohl die alte Frau als Hexe, welch­er der Ver­lust ihrer Frucht­barkeit in den Augen der Kirche so sehr zuset­zen musste, dass sie Män­ner und Frauen gle­icher­maßen ver­flucht­en wolle. Gle­ichzeit­ig wurde der jun­gen Frau vorge­wor­fen, sex­uelle Ver­brechen zu bege­hen: Seit­en­sprünge, une­he­lich­es sex­uelles Vergnü­gen, Abtrei­bun­gen und Kindesmord; sie bedro­hte den Mann gle­icher­maßen durch die Erweck­ung „uner­sät­tlich­er Lust“ (Kramer) wie auch der scham­losen Impotenz, der Beraubung sein­er Man­neskraft (eine Argu­men­ta­tion, die iro­nis­cher­weise auch den Mann auf nichts als seine primären Geschlecht­sor­gane reduzierte). Fed­eri­ci berichtet, dass den Hex­en unter Anderem auch nachge­sagt wurde, männliche Geschlecht­steile in Vogelnestern zu ver­steck­en. Neben der Witwe wurde zum Großteil auch die Naturhei­lerin als Hexe verurteilt, ungeachtet der guten oder bösen Inten­tio­nen, die ihr nachge­sagt wur­den. Sie bedro­hte die Errich­tung der medi­zinis­chen Pro­fes­sion am meis­ten, und wurde zur recht­en Hand des Teufels erk­lärt, wohinge­gen die Medi­zin­er, zum Trotz ihrer fehlen­den medi­zinis­chen Erfahrung, als Repräsen­ta­tive Gottes Wil­lens auf Erden konzip­iert wur­den (Ehren­re­ich & Eng­lish). Hex­erei wurde fol­glich zum crimen excep­tum erk­lärt, einem solch gravieren­den Ver­brechen, dass Indi­viduen verurteilt wer­den kon­nten, ohne dass aus­re­ichende Beweis­stücke vorzule­gen waren, berichtet Jonathan L. Pearl in seinem Werk The Crime of Crimes: Demonolo­gy and Pol­i­tics in France.

3joanna-kosinska-K_OzFXOcQX8-unsplash© Joanna Kosinska

Beina­he fan­tastisch ist die Geschichte, welche sich fol­glich über „die Hexe“ entwick­elte, deren Iden­tität sich mehr und mehr in eine sin­guläre Entität mengte. „Fan­tastisch“, in diesem Sinne natür­lich ver­standen als Werk der reinen Imag­i­na­tion, der bloßen Fan­tasie. Neben dem Vor­wurf, Kinder zu essen und Män­ner zu ver­fluchen, wurde ein ele­mentares Ele­ment der Hex­eniden­tität ihr Besen. Kris­ten J. Sol­lée argu­men­tiert in Witch­es, Sluts, Fem­i­nists dafür, dass der Besen tat­säch­lich eher als der mit­te­lal­ter­liche Dil­do ver­standen wer­den darf, und der „Flug“ der Hex­en aus einem Bal­sam von Kräutern mit psy­choak­tiv­en Wirkungsweisen resul­tierte. Auch die fem­i­nis­tis­che His­torik­erin Eleanor Jane­ga berichtet auf ihrem Blog Going Medieval von mit­te­lal­ter­lichem Sexspielzeug, für dessen Ver­wen­dung von der Kirche ein Bußkanon bzw. ein Beichthand­buch ent­wor­fen wurde, welche klar vor­gab, welche Maß­nah­men nach gewis­sen Beicht­en zu vol­lziehen waren. Da Mas­tur­ba­tion von der Kirche stark gefürchtet war—indem die Klerik­er fürchteten, dass Ehe­frauen dann ver­mut­lich keine sex­uelle Lust mehr für ihre Män­ner auf­brin­gen kön­nten, was der Geburten­rate zweifel­los sehr schaden würde—wurde sie genau­so tabuisiert und ähn­lich krim­i­nal­isiert wie von der het­ero­nor­ma­tiv­en Struk­tur abwe­ichende Sexualitäten.

Auch die Idee, dass sich Hex­en mit soge­nan­nten famil­iars umgeben wür­den, mit ver­traut­en und ihnen nah­este­hen­den Tieren, war schlussendlich eine Alle­gorie des mit­te­lal­ter­lichen Ver­ständ­niss­es weib­lich­er Sex­u­al­ität. Der klas­sis­che Pakt mit dem Teufel hinge­gen bedi­ente den männlichen Blick der Kirchen- und Staatsväter, zumin­d­est den der Het­ero­sex­uellen unter ihnen. Die Inkar­na­tion des Teufels, dessen Darstel­lun­gen ursprünglich vielfältig und bunt—und im Übri­gen auch feminin—gewesen waren, war nun die eines Mannes (in manchen Darstel­lun­gen auch die eines bes­tialis­chen Ziegen­bocks), welch­er eine Frau im Tausch für über­natür­liche Kräfte unter­warf, mit seinem Zeichen brand­mark­te und mit ihr Geschlechtsverkehr hat­te. Fed­eri­cis Kom­men­tar zu dieser Szene ist unser aller Gedanke: „(…) even when in revolt against human and divine law, women had to be por­trayed as sub­servient to a man and the cul­mi­na­tion of their rebellion—the famous pact with the devil—had to be rep­re­sent­ed as a per­vert­ed mar­riage contract“—kurzgefasst, selb­st die Darstel­lung der rebel­lieren­den Frau muss noch immer als ungle­ich­mäßiges Machtver­hält­nis zwis­chen Mann und Frau insze­niert wer­den, als per­vertiert­er Ehev­er­trag (187).

Zu guter Let­zt formt der Sab­bath oder der Teufel­stanz der Hexe einen wichti­gen Teil ihrer kul­turellen Kon­struk­tion. Ihr wird nachge­sagt, sich nachts mit anderen Hex­en an einem abgelegten Ort zu tre­f­fen, um sich mit dem Teufel zu verbinden. Nimmt man dem Sab­bath seinen metapho­rischen Moment, so verkör­pert er die bloße Angst vor ein­er poli­tis­chen Ver­brüderung des Pro­le­tari­ats. Eine Angst, die auf die Prax­is der weib­lichen Gemein­schaft und Ver­samm­lung ange­wandt und als ‚teu­flis­che‘ sex­uelle Orgie insze­niert wurde.

6Letzter_Abschnitt© Mercy Ferrars Photographer

Das 21. Jahrhun­dert läutet zur Hex­en­stunde lauter denn je. Nach dem Abklin­gen der Hex­en­ver­fol­gun­gen im west­lichen Europa zum späten 17. Jahrhun­dert, berichtet Fed­eri­ci, bemächtigten sich manche Men­schen der Sagen, welche über Hex­en erzählt wur­den, und formten daraus ihre Brotarbeit—sie wur­den WahrsagerIn­nen und Karten­legerIn­nen. Zum Großteil wurde das Bild der wilden, bes­tialisch-sex­uellen Frau jedoch durch das zahme Bild der gefügi­gen Ehe­frau erset­zt, welche sich züchtig und mit  guten Manieren um ihren Ehe­mann küm­merte, welchem sie viele Kinder gebar. Die Hexe und ihre Geschichte wur­den fol­glich tabuisiert und schließlich ver­lächer­licht, bis hin zur bloßen Vergesslichkeit, oder vielle­icht sog­ar der Igno­ranz. Und so ist es kein Wun­der, dass wir heutzu­tage keine Berichte zur Hex­en­ver­fol­gung find­en, wenn wir unsere Schul­büch­er auf­schla­gen, oder dass das Wis­sen um das Ver­mächt­nis der Hex­en nur einige wenige Indi­viduen langsam wiederfindet.

Umso erstaunlich­er und bewe­gen­der ist es jedoch, in den ver­gan­genen Jahren ein Wieder­aufkom­men der Hex­en­be­we­gung zu beobachten—sei es im Satanis­mus, sei es in der Wic­ca-Reli­gion, oder sei es schlicht und ergreifend, sich mit der Natur, dem eige­nen Kör­p­er und der Stärke in sich selb­st zu beschäfti­gen. Ob sich junge Mäd­chen nun zunehmend in der #witchaes­thet­ic klei­den und sich Tarotkarten kaufen oder ob wir den alter­na­tiv­en Hei­lerin­nen, den weib­lichen Poli­tik­erIn­nen und den TrägerIn­nen von Gebär­müt­tern und Vagi­nas endlich Platz und Recht ein­räu­men ist genau­so entschei­dend wie die kul­turelle Wieder­aneig­nung eines Titels, welch­er uns einst das Leben gekostet hätte. Entschei­dend ist es, ihn zu einem fem­i­nis­tis­chen Sym­bol zu trans­formieren und in uns und in der Welt eine Flamme zu entzün­den, welche lange im Tief­schlaf lag: Die Magie und die Macht der weib­lichen Integrität.

Der Arche­typ der Hexe bietet unbe­grei­flich viele Aspek­te, Vorstel­lun­gen und Inkar­na­tio­nen, sie kann auf unzäh­lig viele Weisen gedacht und konzip­iert wer­den. Diese Hal­loween-Sai­son soll­ten wir das Sexy-Hex­en-Kostüm also vielle­icht mit ein­er viel zauber­hafteren Fas­sung der Hexe ersetzen—als Göt­tin der Natur, als mächtige Herrscherin oder, iro­nis­cher­weise, als Frau mit freiem Recht über ihre eigene Identität.


Bildquellen: Cot­ton­bro, Fran­cis­co de Goya, Hans Bal­dung, Luis Ricar­do Falero, Mer­cy Fer­rars Pho­tog­ra­ph­er.


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Kris­ten J. Sollée—Witches, Sluts, Fem­i­nists: Con­jur­ing the Sex Pos­i­tive
Rose­mary Gui­ley—The Ency­clo­pe­dia Of Witch­es, Witch­craft And Wic­ca
Hein­rich Kramer und James Sprenger—Der Hex­en­ham­mer (Malleus Malefi­carum)
Jonathan L. Pearl—The Crime of Crimes: Demonolo­gy and Pol­i­tics in France, 1560–1620.

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