von Annika Klares
Endlich dürfen wir die goldene Jahreszeit, die sich uns mit morgendlichen Nebelschwaden, trübem Nieselregen und leuchtend bunt gefärbten Baumkronen präsentiert, wieder begrüßen.
Wenn draußen kalter Wind weht und die Regentropfen leise rhythmisch gegen die Fensterscheibe prasseln, gibt es kaum etwas Schöneres, als sich mit einem Heißgetränk und gutem Lesestoff bewaffnet in eine Decke zu kuscheln. Für trübe Herbsttage empfiehlt sich düstere Horrorliteratur und wer keine Zeit für einen ganzen Roman findet, greift gern zu einer spannenden Kurzgeschichte.
Wer sich nicht nur zur Halloweensaison gern gruselt, dem seien Creepypastas ans Herz gelegt, die einem das Fürchten lehren können.
Creepypastas sind Horrorkurzgeschichten, die seit einigen Jahren im Internet verbreitet werden. Der Name ist ein Kofferwort aus dem englischen Wort creepy, was so viel heißt wie gruselig oder schaurig, und dem Internetslang copypasta, was das Verbreiten von Inhalten per copy und paste bezeichnet.
Dieser Begriff leitet sich davon ab, dass die viralen Schauergeschichten, nachdem sie geschrieben und im Internet veröffentlicht wurden, von anderen Usern meist kopiert und auf anderen Plattformen weiterverbreitet werden.
Diese Möglichkeit der Weiterverbreitung macht die Geschichten zugänglicher für die Leser. Man muss sich nicht direkt ein Buch oder E‑Book kaufen, um an die Geschichten zu kommen, sondern findet sie kostenfrei von zuhause aus im Internet und kann sie direkt lesen. Das Fehlen dieser Bezahlbarriere hilft dabei, Unentschlossene leichter an Literatur heranzuführen. In diesem Sinne sind Creepypastas und auch ähnliche Geschichten, die im Internet frei verfügbar sind, eine innovative Bereicherung für die Literaturlandschaft.
Eine vielfältige und diverse Community, die jedem die Möglichkeit gibt sich kreativ auszuleben.
Mittlerweile hat sich eine ganze Szene um dieses Internet-Phänomen gebildet. Es gibt ein eigenes Creepypasta-Wiki, sowohl im deutschen, als auch im internationalen Raum, in welchem Geschichten gepostet und von anderen Usern korrekturgelesen, aus anderen Sprachen übersetzt und bewertet werden können. Die sehr aktive Community dort unterstützt und fördert sich gegenseitig beim Schreiben und bietet Menschen die Möglichkeit miteinander zu kommunizieren und sich über gemeinsame Interessen auszutauschen.
Eine weitere Besonderheit der Creepypastas ist, dass sie sehr inklusiv sind, da wirklich jeder selbst Geschichten verfassen und veröffentlichen kann und damit die Möglichkeit hat sich kreativ zu entfalten und eventuell Bekanntheit zu erlangen. Das hat für die Autoren den Vorteil, dass sie nah an den Lesern sind und von ihnen schnell gezielte Kritik bekommen um ihre Texte und damit ihre Fähigkeiten verbessern zu können.
Den Lesern hingegen erlaubt es, sich aktiv an den Geschichten zu beteiligen und in ihre Lieblingsgeschichten miteinbezogen zu werden. Des Weiteren bietet sich ihnen eine Fülle von interessanten und spannenden Geschichten, auf die sie im herkömmlichen Buchhandel nie gestoßen wären.
Wer nicht gern selbst liest, sondern sich lieber vorlesen lässt, wird auch in der Creepypasta-Vertonerszene auf YouTube fündig. Beinahe jede Creepypasta aus dem Wiki kann man auch in vertonter Variante, mit Soundeffekten, Musik und passenden Bildern unterlegt, auf der Videoplattform finden. Sehr zu empfehlen sind dabei Kanäle wie Kati Winter Creepypastas & Hörbücher, Madame Yavi, SCP Archiv, Cruzix, Weltenbruch, Ilucie Creepypasta und viele weitere.
Zwischen unbeholfenen Autorendebuts und durchdachten Meisterwerken ist alles dabei. Wer Freude an Gore hat kommt ebenso auf seine Kosten wie Liebhaber des subtilen Horrors.
Wie viel Arbeit und Herzblut in Creepypastas stecken kann, erkennt man vor allem in Reihen, bei denen alle Texte aufeinander aufbauen. Ein Beispiel dafür ist die SCP-Reihe, deren Hauptbeiträge als Akten bezeichnet werden. SCP ist hierbei ein Kürzel für Secure, Contain, Protect und bezieht sich auf eine fiktive Geheimorganisation, die SCP Foundation. Deren Aufgabe ist der Schutz der Menschheit vor mehr oder weniger gefährlichen Anomalien. Diese Anomalien werden von den Mitarbeitern der Foundation aufgespürt, in Gewahrsam genommen und unter speziellen Voraussetzungen unter Verschluss gehalten. Die einzelnen Akten beschreiben jeweils ein SCP-Objekt, dessen Beschaffenheit, Eigenschaften, Gefährlichkeitsgrad in verschiedenen Abstufungen (u. a. Sicher, Keter und Euklid) sowie den speziellen Haltungsprozess. Teilweise sind Daten, Personen- oder Ortsnamen geschwärzt, um dem Leser das Gefühl zu geben hier wirklich eine streng geheime Akte einer Schattenorganisation vor sich zu haben. Es gibt eine offizielle Seite der Foundation, auf der man sich anmelden muss, um Mitglied der Gesellschaft zu werden. Man erstellt einen eigenen Charakter, gibt ihm eine Hintergrundgeschichte, arbeitet sich hoch und erhält je nach Dienstgrad immer mehr Akteneinsicht. Alles in der Foundation erfolgt nach einem bestimmten Regelwerk, das von den Mitgliedern der Gemeinschaft geschätzt und eingehalten wird. Es ist ein großes Rollenspiel in einer virtuellen Realität.
So gut sich das Konzept dieser Szene auch anhört, so gibt es dennoch einen kleinen Wermutstropfen. Denn mit der Inklusivität der Szene kommt auch eine fehlende Qualitätsgarantie daher.
Viele Autoren sind noch sehr jung und haben daher kaum Erfahrungen mit dem Schreiben, daher stößt man oft auf Texte, deren Schreibstil ein wenig zu wünschen übrig lässt. Der Plot ist undurchdacht und kommt meist unfreiwillig komisch daher. Auch wird bei Anfängertexten versucht, die fehlende Handlungstiefe durch stumpfe Gewaltexzesse zu kompensieren, was leider ein großes Problem in der Szene darstellt und viele Einsteiger schon zu Beginn abschreckt.
Leider werden genau diese Geschichten oft als Aushängeschilder für die Creepypastaszene benutzt, wie zum Beispiel eine der wohl bekanntesten und ältesten Creepypastas überhaupt: Jeff the Killer *
Die Handlung dieser knapp 5‑seitigen Geschichte ist schnell erzählt. Es geht um einen 13-jährigen Jungen namens Jeffrey Wood, der mit seiner Familie in eine neue Nachbarschaft zieht. Dort begegnen er und sein Bruder fiesen Schlägertypen, die sie ausrauben wollen. Diese prügelt er daraufhin krankenhausreif, da er “ein merkwürdiges Gefühl” empfindet. Dieses Gefühl wird zwar nie näher erklärt, muss aber als Grund für seine plötzliche Gewaltbereitschaft herhalten. Kurz darauf wird sein Bruder fälschlicherweise für Jeffreys Tat eingesperrt. Jeff begegnet seinen Widersachern erneut, liefert sich einen blutigen Kampf mit ebenjenen und tötet sie. Später wacht er im Krankenhaus auf und wird wahnsinnig, als er bemerkt, dass er durch den Kampf furchtbar entstellt ist. Seit diesem Vorfall zieht Jeff als kaltblütiger Killer durch die Welt.
Beim Lesen dieser Creepypasta wird sehr schnell klar, dass der Autor nicht viel älter als die Hauptfiguren gewesen sein kann und von daher nicht viel Erfahrung mit dem Schreiben fiktionaler Texte hatte. An und für sich ist das nichts Schlimmes, wäre das nicht die Geschichte, die durch ihren enormen Bekanntheitsgrad und ihre Beliebtheit bei Jugendlichen stellvertretend für alle Creepypastas stehen würde.
Durch Geschichten wie Jeff the Killer, Eyeless Jack, Sonic.exe und zahlreiche andere bekommt das Creepypasta-Genre außerhalb der Szene oft ein relativ negatives Ansehen. Wer sich allerdings von den schwächeren Beiträgen nicht abschrecken lässt und dieser Art von Literatur eine Chance gibt, der kann zahlreiche hochwertige Geschichten finden, die sich vor herkömmlicher Belletristik nicht verstecken müssen.
Ausgehend vom gemeinsamen Hauptthema präsentiert sich das Creepypasta-Genre mit seinen Unterkategorien als sehr facettenreich.
Neben den bekannten Spielarten des Horrorgenres wie Paranormales, Serienmörder, Stalker, Science-Fiction, Psychohorror und Endzeitthematiken, gibt es Kategorien wie zum Beispiel Kosmischer Horror. Dieses Genre beschäftigt sich mit Götterwesen, Kreaturen oder Mächten, die dem Menschen und seinem Weltverständnis übergeordnet und dadurch weitgehend übermächtig sind. Der US-amerikanische Schriftsteller H. P. Lovecraft prägte dieses Genre seinerzeit maßgeblich und wird auch heute noch von vielen Autoren, häufig auch in der Creepypastaszene, als Einfluss genannt.
Bei Bizarro Fiction hingegen werden surrealistische Geschichten erzählt, die nicht zwingend den gewohnten literarischen Regeln folgen und bei denen es schwer sein kann, während des Lesens den Faden nicht zu verlieren.
Geschichten der Kategorie Verlorene Folgen/Verfluchte Spiele erfreuen sich großer Beliebtheit in der Szene. Sie beschäftigen sich mit verloren geglaubten Episoden von Serien, verbotenen Filmen oder verfluchten Videospielen. Durch die Pervertierung einer eigentlich bekannten Sache, mit der man positive Gefühle und Erfahrungen verbindet (wie z. B. eine Fernsehserie), wird eine unangenehme Stimmung erzeugt. Die Geschichten zeichnen sich entweder durch starke Gewaltdarstellung oder einen unblutigen, dafür aber deprimierenden, mysteriösen oder tragischen Handlungsverlauf aus.
Ritualpastas, ein weiteres Untergenre, sind weniger Geschichten, als vielmehr Anleitungen zu verschiedensten Ritualzeremonien. In einer Auflistung von Handlungen wird pragmatisch in Schritt-für-Schritt-Abfolge erklärt, wie Rituale mit teils negativem, teils positivem Ausgang durchführen werden können. Besagte Rituale können frei erfunden sein oder sich auf bereits bestehende Legenden oder Moderne Sagen beziehen.
Creepypastas zeigen vor allem eins: Horrorliteratur kann mehr als nur Geisterhaus und Schlachtfest. In vielen der Geschichten geht es um soziale Missstände, Familientragödien oder psychische Probleme.
Ein weiteres beliebtes Genre sind Creepypastas in Form von Blog- oder Tagebucheinträgen. Der Erzähler schildert hierbei kapitelweise eine Handlung, die nach seinen Aussagen in seiner Vergangenheit stattgefunden hat. Diese Einträge vermitteln ein mehr oder weniger starkes Realitätsgefühl. Die Protagonisten sind greifbar und dem/der LeserIn fällt es leicht, sich mit diesen zu identifizieren, da er/sie das Gefühl hat, die Handlung mit ihnen zusammen zu durchleben und dabei ständig ihre Gefühls- und Gedankenwelt vor Augen hat.
Sehr zu empfehlen sind dabei Geschichten wie Penpal von Dathan Auerbach, eine sechsteilige Creepypasta, die erstmals in der r/nosleep Kategorie der Internetseite reddit.com erschien. Dort berichtet der namenlose Erzähler von seltsamen Ereignissen aus seiner Kindheit, die mit einem unbekannten Verfolger zu tun haben. Er schildert, wie er diese Vorfälle aus Kinderaugen wahrgenommen hat und zu welchen Erkenntnissen er heute als Erwachsener kommt. Die Geschichte verläuft achronologisch, ist von Anfang bis Ende durchdacht und der Fokus liegt nicht nur auf der äußeren Bedrohung. Vielmehr wird hier eine bewegende Coming-of-Age-Geschichte erzählt. Es geht nicht nur um Horror, sondern auch um das Erwachsenwerden, um die erste Liebe und vor allem um Freundschaft und um den Verlust ebendieser. Mittlerweile hat der Autor die sechs Teile der Geschichte zu einer Novelle zusammengefasst und publiziert.
Neben Penpal befassen sich auch viele andere Creepypastas mit ernsten und sensiblen Themen, lassen sich vielseitig interpretieren und bieten damit Stoff für Diskussionen, wie zum Beispiel die Geschichte House of Rules, deren Verfasser unbekannt ist. Darin geht es um eine Person, die davon berichtet in einem Haus zu leben, das bestimmte Regeln für seine Bewohner aufgestellt hat und diese bei Missachtung der Regeln bestraft. Ein Entkommen scheint unmöglich zu sein, weswegen die Geschichte sich wie ein Hilferuf aus dem Inneren des Hauses anfühlt. Was sich hier wie Kosmischer Horror liest, lässt sich auch als Schilderung einer Person, die unter häuslicher Gewalt leidet und ihrer missbräuchlichen Partnerschaft nicht entkommen kann, interpretieren. Auch in der Creepypasta Dysphorie von Samkusch wird auf ein sensibles Thema eingegangen. Es geht hier um Geschlechtsdysphorie und damit verbundene Ablehnung und Diskriminierung einiger Menschen gegenüber einer Transperson.
Probleme, die leider viel zu oft realer Horror sind, werden auch in diesem Medium angesprochen und diskutiert.
Creepypasta ist ein Begriff, der für ein enorm weitläufiges Feld von Geschichten steht. Die Kurzbeschreibung, dass es sich um Horrortexte aus dem Internet handelt, wird dem facettenreichen Genre nicht gerecht. Creepypasta ist mehr als die bekannten Vertreter wie Jeff the Killer, Smile Dog (smile.jpg) oder die Geschichten rund um den Slenderman.
Creepypasta kann begeistern, bewegen, erschrecken, verstören, zum Nachdenken und auch ab und zu zum Lachen anregen. Junge Künstler bekommen durch sie eine Plattform, um ihre Werke mit anderen zu teilen und sich weiterzuentwickeln, sei es durch das Verfassen eigener Geschichten, das Vertonen der Werke anderer oder das Zeichnen von Fan-Art. Diese Szene bietet viel Potential für Kreativität in verschiedenen Bereichen, interessante Diskussionen und bringt Menschen zusammen.
Es lohnt sich also, sich einmal in die Welt der schaurigen Internetgeschichten entführen zu lassen.
* Anmerkung: Es existieren zwei Versionen dieser Geschichte. In diesem Artikel beziehe ich mich nicht auf die am 03.10.2008 erschienene Originalversion des Autors Sesseur, sondern auf die bekanntere Variante eines unbekannten Verfassers mit dem gleichen Pseudonym, die am 12.08.2012 veröffentlicht wurde, da diese als “offiziell” akzeptierte Ursprungsgeschichte von Jeff the Killer gilt.
Persönliche Creepypasta-Empfehlungen der Autorin
- Penpal
— House of Rules
— Dysphorie
— Das Haus an der Peary Road (deutsch)
— Das Schicksal von Kempton Rock (deutsch)
— The Midnight Lock-up (englisch)
— Whispers (englisch)
— Borrasca (deutsch) / (englisch)
— The Devil’s Cosmonaut (englisch)
— Satan’s Fall (englisch)
— Nahrung des Waldes (deutsch)
— Die Messingkirche (deutsch)
— 1999 (englisch)
— Zeitgeist (deutsch)
— Der Mann der AIDS heilen wollte (deutsch)
— The Tale of Robert Elm (englisch)
— The Showers (englisch)
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