FILM, FLINTA*, PRIDE
Draculas Töchter—Die queeren Wurzeln des Vampires
by ADRIEN FIELDS

20/10/2019
Scheinbar geht es dem Vampir in der Popkultur wie im Leben. Seit Anbeginn der Filmkunst taucht er alle paar Jahre wieder auf, nur um dann als Kitsch betitelt in der Dunkelheit zu verschwinden. Von Bram Stokers Dracula allein existieren über 100 Verfilmungen. Untote Blutsauger finden sich in zahlreichen mythologischen Überlieferungen, fast unabhängig von Epoche und Geografie. Verständlich, wenn man bedenkt, dass sie eine Antwort auf eine universelle menschliche Frage bieten: Was passiert nach unserem Tod? Ist das wirklich das Ende? Könnte uns noch mehr erwarten—beispielsweise ewige Jugend und Blutdurst?
Vampir-Narrative können auf unterschiedliche Arten ausgelegt werden. Eine queere Interpretation stellt nur eine dieser facettenreichen Auslegungen dar. Identitätspolitische Sprache, die den heutigen Diskurs stark prägt und strukturiert, entstand größtenteils im Zuge der schwul-lesbischen und feministischen Emanzipationsbewegungen der 1970er bis 1990er Jahre und existierte nicht zur Zeit der Veröffentlichung der hier diskutierten Medien. Dennoch kann uns die Betrachtung aus queeren Perspektiven die gesellschaftlichen Konventionen der Vergangenheit—sowie ihren Einfluss auf die Moderne—näherbringen.
Wenn man länger darüber nachdenkt, ist es verständlich, weshalb queere Individuen sich mit Vampiren (und anderen Monstern) identifizieren oder als solche identifiziert werden: Über Tag versteckt, in der Nacht aktiv, lebt der Vampir in (vielleicht selbst auferlegter) Einsamkeit und Isolation. Wer sich mit ihm abgibt, läuft Gefahr, selbst ein Mitglied der Randgruppe zu werden.
In der prä-Twilight Ära bevorzugten Vampire oft Opfer des eigenen Geschlechtes. In der Novelle Carmilla des irischen Autors Sheridan Le Fanu, die 1872 erstmals veröffentlicht wurde, wird eine junge Frau von einem weiblichen Vampir namens Carmilla heimgesucht. Auch die sexuelle Identität des Graf Dracula aus Bram Stokers gleichnamigen Roman von 1897 wird von Fans des Genres heiß debattiert. Der Graf verkörpert viktorianische Tabus wie keine andere Figur seiner Zeit. Er ist von androgyner Schönheit, hat mehrere Liebhaber (drei weibliche Vampire, die mehr schlecht als recht in seiner Burg leben) und zeigt vereinnahmendes Interesse am Erzähler und Protagonisten des Romans, Jonathan Harker. “How dare you touch him, any of you?”, schreit er seine drei untoten Ehefrauen an. “How dare you cast eyes on him when I had forbidden it? Back, I tell you all! This man belongs to me!”
Bram Stoker selbst schrieb Briefe voller Bewunderung an seinen Zeitgenossen Walter Whitman und war eng mit Oscar Wilde befreundet. Seine Ehe zu Florence Balcombe wird in vielen Quellen als lieblos beschrieben. Daher diskutieren Fans, ob es sich bei Dracula nicht um die Manifestation von Stokers eigenen queeren Tendenzen handeln könnte.
Die wohl bekannteste Verfilmung von Dracula entstand 1931 mit Bela Lugosi in der Hauptrolle. Viel aussagekräftiger hinsichtlich des queeren Subtextes in Vampirfilmen ist jedoch der Nachfolge-Film Dracula’s Daughter (1936), mit Gloria Holden in der Hauptrolle. Die Handlung folgt Gräfin Marya Zeleska, der Tochter Graf Draculas, die sich nach dem Tod ihres Vaters durch Vampirjäger Dr. van Helsing in Therapie begibt, um von ihrem Vampirismus geheilt zu werden. Zum Ende ergibt sie sich dennoch ihrer Blutlust und entführt die Sekretärin ihres Therapeuten. Der lesbische Subtext des Filmes war für das Produktionsteam klar sichtbar und wurde teilweise sogar zur Vermarktung des Filmes benutzt. So lautete der Untertitel in der Werbung des Filmes: „Save the women of London from Dracula’s daughter!”
Als Dracula’s Daughter erschien, war die Konversionstherapie eine als valide angesehene psychoanalytische Methode. Auch wenn diese erst in den 1950er Jahren den Höhepunkt ihrer Beliebtheit erreichte—in Folge der Assoziation von Schwulen und Lesben mit dem Kommunismus, auch als Lavender Scare bekannt—bekamen viele psychoanalytische Studien über die angebliche Heilung der Homosexualität öffentliche Aufmerksamkeit. Dracula’s Daughter ist dementsprechend nicht nur ein Zeugnis des aufkommenden Interesses an Psychotherapie, sondern auch der gesellschaftlichen Auffassung der queeren Frau als Monster. Nach dem feurigen Begräbnis ihres Vaters—wie freud-isch!—glaubt die Gräfin, von ihrem Fluch geheilt zu sein und versucht sich am ‚normalen Leben‘. Doch ihr Bediensteter Sandor konfrontiert sie mit der Wahrheit: Sie kann sich nicht vor ihrem Vampirismus verstecken.
Dracula’s Daughter unterlag dem Motion Picture Production Code, auch als Hays Code bekannt, dessen Absicht es war, das Ansehen des Hollywood-Films durch moralische Richtlinien für Produzenten und Regisseure anzuheben. Der Code markierte positive Darstellungen von Homosexualität als ’sexuelle Perversion’ und erklärte sie damit für unziemlich. Der Hays Code blieb bis Ende der 1960er Jahre Richtlinie für die amerikanische Filmproduktion, wurde dann aber wegen mangelnder Durchsetzungsfähigkeit aufgegeben und durch ein Altersfreigaben-System ersetzt.
Die folgenden zwei Jahrzehnte gelten als goldenes Zeitalter von Exploitationsfilmen— Filmen mit reißerischer Prämisse, oft voller Sex, Gewaltdarstellungen und Blasphemie. Interessanterweise erweist sich diese Zeit auch als Renaissance der mehr oder weniger subtil homoerotischen Vampirfilme. Viele der Werke sind entsprechend übertrieben sexuell und/oder ironisch; Parodien der Tropen und Stereotypen der Hays-Era. Das Fan-Archiv queerhorror.com listet unter anderem Filme wie Vampyres (1974)—ein Film über ein lesbisches Vampirpärchen, die ihre Opfer beim Trampen erlegen; Blood Splattered Bride (1972)—über eine neu verheiratete Frau, die eine Affäre mit einer Vampirin hat—und Dragula (1973), in dem ein junger New Yorker in einen Vampir verwandelt wird, dessen Biss unwissende Heterosexuelle in Drag Queens verwandelt. Dass es sich bei diesen Werken um ein Zeichen der fortschreitenden Emanzipation von queeren Menschen handelt, ist leider weniger wahrscheinlich, als dass die Darstellungen von homosexueller—oft betont körperlicher—Liebe als affektive Subversion christlich-westlicher Werte das Publikum schockieren oder vielleicht auch amüsieren sollte.
Die Bilanz des queeren Vampires ist vor allem negativ: Entweder ist er (oder historisch öfter sie) ein Monster, an dem selbst die Psychotherapie verloren ist und welches die Regeln der Zivilisation zu Gunsten hedonistischer Morde ablehnt, oder aber ein schockierendes Mittel zum Zweck, nicht mehr als Subversion um der Subversion Willen. Dennoch erfreut sich das Genre an einer sehr queeren Fangemeinde. Das Onlineportal queerhorror.com präsentiert eine umfangreiche Subkategorie “Vampire”, inklusive Interviews, Filmarchiv und geschichtlicher Info-Seiten. Die Seite wird von einer Person mit dem Pseudonym QVamp verwaltet. Der Umfang der Seite spricht für QVamps immense Aktivität.
Im Weiteren wird die Vampirgeschichte, alt wie neu, weiter durch die queere Linse neuaufgesetzt. Carmilla wurde 2014 in einer Webserie mit überwiegend queerem Cast neu inszeniert. Die Vampirin Carmilla Karnstein ist cool, mysteriös und auf sehr menschliche Weise verliebt. Berühmter sind Anne Rices Vampire Chronicles, eine elfteilige Buchreihe, die weltweit über 80 Millionen Exemplare verkaufte. 1994 wurde ein Teil der Geschichte unter dem Titel Interview With The Vampire verfilmt. Tom Cruise spielt den 200 Jahre alten Untoten Louis de Pointes Du Lac, der 1791 vom weit älteren Vampir Lestat, verwandelt wird. Beide Männer haben unterschiedliche Auffassungen über ihre Unsterblichkeit und leben dennoch fortan zusammen. Später verwandelt Lestat ein im Sterben liegendes Mädchen namens Claudia, welches beide wie eine gemeinsame Tochter großziehen. Anders als Lestat, leiden Louis und Claudia immer noch unter ihrer abgeschotteten Existenz, doch zusammen lässt sich die Ewigkeit einfacher ertragen. Das Thema der chosen family scheint sowohl im queeren Rahmen als auch außerhalb prävalent zu sein. Weitere Beispiele dafür sind What We Do In The Shadows (2014) und natürlich Twilight (2008).
Wieder einmal scheinen die Parallelen zur Realität fast surreal: Die Vampire müssen keine einsame Existenz am Rande der Gesellschaft führen. Sie sind nicht mehr allein. Sie finden ihre Familie und treten metaphorisch ins Licht der Gesellschaft.