von Bianca Ierullo
„[…] Will reißen, will beißen, zerfleischen, zerfetzen, bei lustvoller Jagd meine Beute hetzen. Glutrote Augen folgen deiner Spur, die Witterung führt über weite Flur. Ich mutier zum Tier, bin ein Geschöpf der Nacht. Ich bin der Jäger des Mondes, bis der Morgen erwacht. […]“—E Nomine
Werwölfe begegnen uns in Filmen und der Literatur gleichermaßen. Seit jeher sind sie eines der beliebtesten Wesen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Doch woher stammt der Mythos, dass sich ein Mensch bei Vollmond in eine wolfsähnliche Gestalt verwandelt? Handelt es sich lediglich um eine verrückte Geschichte, um kleine Kinder zu erschrecken, oder steckt vielleicht auch ein Fünkchen Wahrheit dahinter? Die folgenden Zeilen, die ich schreibe, während ich auf den wundervollen Vollmond blicke, sollen über die historischen Wurzeln und die mögliche Existenz eines der faszinierendsten urbanen Fabelwesen berichten.
Während der moderne Werwolf heutzutage oft mit den indianischen Form- oder Gestaltwandlern verwechselt wird, hat der europäische Werwolf seinen eigentlichen Ursprung, wie in so vielen Geschichten und Mythen, in altertümlichen Erzählungen durch den Teufel. Mittelalterliche Berichte erzählen meist nur von Männern, die von Satan persönlich einen Gürtel aus Wolfsfell zum Verwandeln bekommen haben sollen. Sie sollen Angst und Schrecken verbreitet haben und die Menschen daran erinnert haben, dass der Teufel seine Schergen ausgesandt hat und ihnen nicht mal Gott helfen kann. Allerdings bedeutet dies nicht, dass es nicht auch weibliche Werwölfe geben kann. Auch die Filmindustrie hat diesen Schritt gewagt und, beispielsweise in Ginger Snaps, zwei junge Frauen in die Rollen der Werwölfe geschrieben, welche ihr Unwesen treiben und nicht weniger blutrünstig sind. Prinzipiell spricht man von Lykanthropie, wenn ein Mensch die Fähigkeit hat, sich in einen Wolf zu verwandeln—oder der Wahnvorstellung unterliegt, es zu können.
Während der Hexenverfolgung zwischen 1550 und 1650 wurden nicht nur zahlreiche Frauen der Hexerei beschuldigt, es wurden auch unendlich viele Männer der Lykanthropie angeklagt. Diese Ereignisse forderten unzählige Tote, die für Verbrechen sterben mussten, die sie möglicherweise nicht begangen haben. Allerdings gab es unter allen Opfern auch einen Mann, der tatsächlich gestand, ein Werwolf zu sein: Peter Stumpp. Der im 16. Jahrhundert lebende Bauer beschrieb sich selbst als „nimmersatten Blutsauger“. Unter Folter gestand er, vierzehn Kinder sowie zwei schwangere Frauen und deren ungeborene Kinder getötet und gegessen zu haben. Berichten zufolge behauptete er, der Teufel habe ihm einen Gürtel aus Wolfsfell gegeben, wodurch Peter Stumpp die Macht und die Kraft besessen haben soll, all diese Taten zu begehen. Später erlitt er durch sein Geständnis einen qualvollen Tod.
Grundsätzlich gesagt sei aber, dass der Werwolf nur eine Unterart der Werwesen ist. Im Allgemeinen spricht man von Wesen, die raubtierähnlich Jagd auf Menschen machen und sich unter dem Vollmond in eine tierische Gestalt verwandeln können. Die Tiergestalt ändert sich dabei je nach Land und Kontinent. In Indien zum Beispiel ist die Rede von Wertigern, in Afrika von Werleoparden, aber auch von Werschlagen und ‑füchsen wird in Geschichten und Legenden gesprochen. Durch die weite Verbreitung des Wolfes als großer Landräuber Europas hat sich in unseren Erzählungen der Werwolf etabliert, das bekannteste unter den Werwesen. Sein Image kann dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben, schließlich war er früher das pure Böse—und nach langem Fernbleiben kehrt der Wolf nun wieder in die heimischen Wälder zurück, aber es hat sich noch immer nichts an seiner Darstellung geändert.
In der Reihe Ritus und Sanctum von Markus Heitz werden die oben genannten und weitere Werwesen beschrieben. Er schreibt über die große Bestie des Gévaudan, die einer wahren Gegebenheit zufolge im Frankreich des 18. Jahrhunderts bis zu achtzig Männer, Frauen und Kinder getötet haben soll. Die Vorfälle hörten erst auf, als alle Wölfe der Gegend getötet worden waren und nur ein Einziger das Wolfsmassaker überlebt haben soll. Die Überlieferung spricht sowohl den Jägern als auch den Menschen der umliegenden Dörfer nach nur von einem Werwolf, dem sie die Bezeichnung einer „Blutrünstigen Bestie“ gaben. Markus Heitz erzählt die Geschichte in seinen Büchern auf seine ganz spezielle Art und Weise. Durch seine Ausschmückung bekommt sie einen bestimmten Reiz, der die Erzählung einmalig und unvergesslich macht.
Aber auch Werwolf ist nicht gleich Werwolf, denn seine Vorgehensweise bei der Jagd unterscheidet sich danach, welche Sage man betrachtet. Die bekanntesten Arten sind Hetzen und Zerfleischen, aber es scheint noch weitere Methoden gegeben zu haben. Eine westeuropäische Volksüberlieferung erzählt von einer etwas anderen Art des Werwolfs, dem Stüpp. Dieser soll seinen Opfern meist an Kreuzungen aufgelauert, sie angesprungen und sich dann von ihnen getragen lassen haben, bis die Träger durch völlige Erschöpfung starben. Eine rheinische Sage dagegen spricht von dem so genannten Aufhocker, welcher häufig zuerst den Reisenden als kleines verspieltes Hündchen begleitet, aber immer größer wird und seinem Opfer schließlich auf den Rücken springt. Mit jedem Schritt wächst der zuvor kleine Welpe immer weiter, wird schwerer, und lässt sich nicht mehr abschütteln, bis der Mensch unter ihm entweder zusammenbricht oder den Rest seines Lebens von dem Ereignis gezeichnet ist und im schlimmsten Fall den Verstand verliert.
Erst im 17. Jahrhundert soll es laut des Psychologen und Biologen Dr. Gregory Bambenek einen mit dem König befreundeten Psychiater gegeben haben, der befand, dass Menschen, die glaubten, ein Werwolf zu sein, psychisch erkrankt waren und ein Geständnis unter Folter als nicht aussagekräftig galt. Die angeklagten Frauen und Männer galten seitdem als Psychopathen und nicht mehr als Monster. Von nun an kam die Hetzjagd auf Werwölfe zum Stillstand. Seit den 1960iger Jahren soll die Medizin schließlich die Lykanthropie medikamentös fast vollständig eliminiert haben. Dennoch wird immer wieder von Menschen berichtet, die das Gegenteil behaupten und geistig völlig gesund zu sein scheinen.
Offensichtlich gibt es keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass Werwölfe tatsächlich existieren. Dennoch gibt es auch im 21. Jahrhundert nach wie vor Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass die Geschöpfe der Nacht unter uns wandeln. Auf der ganzen Welt berichten Augenzeugen immer wieder davon, einen Werwolf gesehen oder gehört zu haben—das typische Heulen oder die scharfen, im Mondlicht glänzenden Krallen, das dichte Fell eines aufrecht gehenden Wolfes. Kann es sich dabei noch um Zufall handeln oder wandeln die Werwesen möglicherweise tatsächlich unter uns?
Ein Augenzeugenbericht lautet: „Wir waren mit dem Auto zu einem Fischessen unterwegs. Plötzlich, mitten auf der Brücke, musste ich bremsen, weil etwas die Straße blockierte. Erst konnte ich nicht erkennen, was es ist, und habe mich gefragt, was es sein könnte. Dann sah ich im Scheinwerferlicht eine große Gestalt, völlig behaart. [Sie] kehrte uns den Rücken zu und als [sie] sich umdrehte, mein Gott, bestimmt über 2 m groß. Wir hatten Augenkontakt und mir lief es eiskalt den Rücken runter. Ohne eine Vorwarnung sprang [sie] dann die Brücke runter und war weg. Ich fragte meine Frau, ob sie [sie] auch gesehen hat, sie starrte nur nach vorne und fragte mich genau das Gleiche. Wir waren uns einig, dass es kein Traum war, es muss ein Werwolf gewesen sein.“
Immer wieder wurden einige der Zeugen einem Lügendetektortest unterzogen, nicht unbedingt, weil man ihnen nicht glaubte, sondern viel mehr, weil man sich dadurch mehr Informationen erhoffte. Und die Ergebnisse waren eindeutig: Alle Resultate waren trotz des zusätzlich gemessenen Stresslevels positiv und wiesen auf keinerlei Täuschungsversuch hin. Und trotzdem wird ihnen versucht zu erklären, dass sie sich getäuscht und keinen Werwolf, sondern möglicherweise einen Bären beobachtet haben. Die Menschen aber, die berichten, einen Werwolf gesehen zu haben, haben für jedes Argument gegen ihre Sichtung eine Erklärung. Bären können beispielsweise zwar auf den Hinterbeinen gehen, verglichen mit der Art des Stehens und Laufens eines beschriebenen Werwolfs aber sehen diese bei Bären gänzlich anders aus. Dennoch werden die vermeidlichen Zeugen für ihre Geschichten belächelt und verspottet.
Im Grunde aber ist es doch wie mit so vielem, was man nicht greifen kann, sei es die Existenz Gottes und des Teufels, Vampire, die nachts literweise Blut verdrücken, oder ob tief unten im Meer Atlantis und Meerjungfrauen existieren. Die Mehrheit möchte Beweise, etwas, das sie fassen kann, aber sofern es diese nicht gibt, gilt alles als reine Fiktion und wird möglicherweise sogar als Geisteskrankheit betitelt.
Ich persönlich habe bisher keinen Werwolf oder etwas Ähnliches gesehen, finde aber die Vorstellung, dass es die Kreaturen der Nacht wirklich geben soll, sehr schön. Es ist das Unbekannte und Geheimnisvolle. Es ist dieses eindringliche Heulen bei Vollmond, welches dich erzittern lässt, diese glutroten Augen, die bis in deine Seele schauen können, die Lähmung, die dich überkommt und dass du ganz plötzlich weißt: Lauf.
Bildquelle: pixabay.com
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