von Mercy Ferrars
Schottland birgt das Potenzial zum schönsten Land Europas. Und doch scheint es überschattet vom Land des afternoon tea gleich südlich der Landesgrenze. Doch wo England im Lichte des Brexit zu trumpfen vermag, bleibt Schottland der Rückzugsort für Liebhaber der Kunst, der Poesie und der Natur (und natürlich des schottischen Highland-Whiskys). Man darf mich nicht falsch verstehen, England ist—abseits der politischen Entwicklungen—fantastisch und bringt in Vergangenheit sowie Gegenwart beneidenswerte künstlerische Schätze hervor, beispielsweise in der Literatur oder in der Musik. Doch Schottlands Magie haftet eine künstlerische Ruhe an, die Licht auf die Mitte in uns wirft, die uns erdet und die uns guttut—immer und überall durchzogen von einer rauen Schönheit, die das ästhetische Herz mir nichts, dir nichts erobert.
Wie die meisten Hauptstädte lässt sich das schottische Edinburgh an der Ostküste auch vom Nichtschotten relativ zuverlässig mit dem Finger auf der Landkarte identifizieren. Mich hingegen haben die Umstände an die Westküste gezogen, in das wunderschöne postindustrielle Glasgow und die westlichen Highlands. In Glasgow zeigt sich außerordentliche Architektur. Hier finden sich rote Signature-Sandsteingebäude zusammen mit viktorianischen Altbauten und State-of-the-Art-Jugendstil-Bauwerken unter der Handschrift des Architekten Charles Rennie Mackintosh. Hier findet sich schottischer Whisky, der den Hals hinabbrennt und das Herz erwärmt. Hier finden sich die nahe liegenden Highlands mit ihrer magischen, rauen Landschaft und ihrer außerordentlichen Schönheit. Glasgow und Umgebung werden gerne als New Yorker Filmkulisse gesetzt und dienten schon den Avengers, Downton Abbey, Cloud Atlas und, natürlich, Trainspotting als Schauplatz. Vor allen Dingen aber sind es die Menschen in Glasgow, die einem das Gefühl geben, zu Hause anzukommen, wohin immer man auch geht. Und wenn man Glasgow über seine futuristischen, hochgebauten Autobahn-Trassen gen Flughafen wieder verlässt, dann schmerzt das Herz mehr als sonst.
Die schottische Westküste braucht eigentlich kein Vorwort, schon gleich nicht von einer Touristin, die ihr Herz unweigerlich zwischen Merchant City und dem Trossachs Nationalpark verloren hat. Nicht nur ist meine Sicht, sobald ich in Schottland bin, ganz sicherlich verklärt von der künstlerischen Inspiration, die sich in meine Knochen setzt und mein Schaffen so stark beeinflusst, nein, die Schönheit des schottischen Westens ist so omnipräsent, dass man ihr auch gar nicht entkommen kann. Und dennoch entführe ich euch in diesem Artikel in fünf magische Zwischenstopps, von Pubs über magische Shops zu Kaminfeuern in den Highlands, und hoffe, ihr lasst euch bei eurem nächsten Kurztrip nach Glasgow genauso verzaubern.
1. Einen Tag in der Kelvingrove Art Gallery verbringen und sich in die Glasgow Boys verlieben
Der erste magische Zwischenstopp in Glasgow befindet sich in der Argyle Street, zwischen dem Kelvingrove Park, dem Fluss Kelvin und der University of Glasgow gelegen. Die Kelvingrove Art Gallery ist kein Ort, den man mal eben schnell auf seiner Sightseeing-Liste abarbeiten kann. Sie vereint in sich eine vollständige Museenlandschaft: Das 1902 eröffnete Gebäude im spanischen Barockstil aus typischem roten Glasgower Sandstein ist zugleich Naturkundemuseum, Architekturmuseum, Geschichtsmuseum, Stadtmuseum, Waffen- und Rüstungsmuseum und beherbergt eine der beeindruckendsten britischen Gemäldesammlungen in insgesamt 22 Ausstellungsräumen. Das bekannteste ausgestellte Werk ist Salvador Dalís Christ of St John of the Cross aus dem Jahre 1951. Die Gemäldesammlung umfasst unter anderem Rembrandt, Monet, van Gogh, Werke der niederländischen Maler der Renaissance, Werke schottischer Farbkünstler und der berühmten Glasgow Boys—ein Künstlerkreis, welcher um 1870 der Glasgow School of Art entsprang. Eine weitere Galerie widmet sich ausschließlich dem Design von Charles Rennie Mackintosh, einem schottischen Architekten, Innenarchitekten und Designer, welcher als eine der führenden und prägenden Persönlichkeiten der Art-Nouveau-Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts galt. Im Erdgeschoss kann man zwischen den unzähligen Galerien eine Pause bei Kaffee und Kuchen einlegen und den prachtvollen Barock-Baustil bewundern.
Still Life von David Horn, 1850
Wir haben in der Kelvingrove Art Gallery einen ganzen Nachmittag verbracht. Plant für euren Besuch gute 4 bis 5 Stunden ein—und schnappt danach unbedingt frische Luft bei einem Spaziergang zur Universität.
2. In Merchant Citys wunderschönen alten Pubs vegane Fish & Chips essen
Merchant City ist Glasgows ältester Stadtteil. Einst ein fluoreszierendes Zentrum für Kaufleute, so ziehen sich heute prunkvolle Einkaufsstraßen und teure, aber wunderschöne schottische Pubs in viktorianischen Gebäuden durch den Bezirk. Der Merchant in der Ecke West George Street/Renfield Street hat schon bei meiner ersten Reise meine Aufmerksamkeit durch sein imposantes georgianisches Exterieur gefangen, welches mich augenblicklich in eine andere Zeit zurückversetzte. Und das Beste daran: Im Merchant gibt es traditionelle britische Speisen auch in Vegetarisch und Vegan. Da ich keinen Fisch esse, habe ich hier die ersten (vegetarischen) Fish and Chips meines Lebens probiert und war absolut begeistert. Auch die vegetarische „Steak“-Pie lässt sich absolut empfehlen. Die Preise sind vergleichsweise niedrig für das Vereinigte Königreich, im Hintergrund läuft auf großer Leinwand leise Soccer und das Interieur ist rustikal und auf dem Boden geblieben. Wir waren hier zwei Mal in nur vier Tagen und werden das nächste Mal auf jeden Fall wiederkommen. Übrigens: Der Merchant wurde dieses Jahr zum besten Pub in Glasgow gekürt.
3. Sich im 23 Enigma die Karten legen lassen. Alternativ: Sich in eine wundervolle Unterhaltung über Magick im alten Schottland verwickeln lassen und sich noch mehr in Schottland verlieben
An einem halbsonnigen Nachmittag habe ich nach Magick- und Esoterikshops in Glasgow gegoogelt und fand mich knapp 20 Minuten später vor dem 23 Enigma in der High Street (welche von der Duke Street, der längsten Straße des Vereinigten Königreichs, abgeht) wieder. Nach ein paar schüchternen Blicken, die ich in das ästhetisch dekorierte Schaufenster geworfen habe, trat ich schlussendlich in den kleinen Laden ein und fühlte mich augenblicklich so, als hätte ich die zehn Quadratmeter einer alternativen Dimension betreten. Zwischen Büchern über Magie und Astrologie, zauberhaftem Schmuck und esoterischen Altarelementen fiel mein Blick schließlich auf eine kleine Hintertür, welche dazu einlud, sich die Karten durch ein Medium legen zu lassen. Da ich unfassbar gerne selbst Tarot-Spreads lege, hat mein Herz kurz wild geschlagen. Leider ist das 23 Enigma stark ausgebucht und man muss sich ein bis zwei Wochen zuvor für Lesungen anmelden. Aber keine Sorge, sich in ein Gespräch mit dem Ladenbesitzer des 23 Enigma verwickeln zu lassen, ist mindestens genauso faszinierend. Er entführte mich ins mittelalterliche Schottland, erzählte mir von heidnischen Ritualstätten und alten Festen, von Hexenzirkeln und Magie und mein lautes, lautes Herz war gleichermaßen in Schrecken versetzt, wie es sich wünschte, frei nach Outlander für ein paar Tage ins schottische Mittelalter zurückzureisen … Im 23 Enigma habe ich mindestens eine Stunde verbracht und die zehn Quadratmeter fühlten sich nach so viel mehr an. Empfohlen sei es allen Hexen und Zauberern, die für geraume Zeit aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert entfliehen möchten. Zugebenermaßen fühlte es sich seltsam an, wieder ins laute und moderne 2019 zu treten, als ich den Laden verließ. Spätestens als mir mein Uber-Fahrer auf dem Weg zurück in die Innenstadt House um die Ohren knallte, war das 23 Enigma nur noch eine blasse Erinnerung—ein Tagtraum beinahe.
4. Auf einen Roadtrip in die Highlands fahren, bei flackerndem Kaminfeuer und strömendem Regen deftige Suppen essen und Highland-Kühe beobachten.
Von den Highlands und ihrem beinahe schon therapeutischen Effekt auf meine mentale Gesundheit habe ich bereits in einem meiner älteren Artikel erzählt. Das erste Mal verschlug es uns in das Berg-Resort in Glencoe, wo wir Highland-Rehe fütterten und deftig speisten. Außerdem fuhren wir rund um den Loch Lomond im Trossachs Nationalpark—ein Ort, an dem Worte verloren sind, strahlend vor endloser Weite und dem Gefühl, am Ende der Welt zu stehen, fern von den Menschen und dem eigenen Leben.
Das letzte Mal zog es uns nach Inveraray, einer kleinen 500-Seelen-Ortschaft im Verwaltungsgebiet Argyll and Bute. Inveraray liegt am Meeresarm des wunderschönen Loch Fyne, nach dem auch unzählige Whisky-Sorten in den auffallend üppigen und vielzähligen Whisky-Läden des Dorfes benannt waren. Neben dem wunderschönen See birgt Inveraray ein historisches Gefängnis und das märchenhafte Traum-Schloss Inveraray Castle, welches einst 2012 im Weihnachts-Special von Downton Abbey als fiktionales „Duneagle Castle“ agierte.
Besonders verzaubernd war unser kleines Mittagessen im lokalen The George, einem mittelalterlichen Pub im Herzen Inverarays, den Tripadvisor-User Iancasterman als „probably the best pub in Scotland“ bezeichnete. Draußen regnete es in Strömen. Wir saßen zwischen Kaminfeuern und rauen Steinmauern. Der Tresen war in dunklem Holz gehalten, es flackerten Kerzen, zwischen den Tischen lagen neugierig in die Luft schnuppernde Hunde und es duftete nach deftigem, schottischem Essen. Wir entschieden uns für herzhafte Suppen und Mac and Cheese, vielleicht nicht traditionell schottisch, aber dennoch verdammt lecker. Am Strand von Inveraray sahen wir bei unserem Verdauungsspaziergang Hunde, die vor einem Regenbogen spielten, und wir, wir träumten uns in ein kleines Häuschen ans Ufer des Loch Fyne. Glücklich fuhren wir anschließend quer durch die Highlands zurück nach Hause. Auf unserem Weg begegneten uns zufrieden grasende Highland-Kühe mitten im strömenden Regen und atmosphärische Klaviermusik vermengte sich mit dem regnerischen Trommeln auf der Windschutzscheibe zum puren Glück.
5. Bei Nacht, Nebel und Regen die Necropolis besuchen
Um euren Kurztrip nach Glasgow abzurunden und noch ein letztes Mal in die Magie der Stadt einzutauchen, lohnt sich ein Spaziergang zur Necropolis. Die Necropolis in Glasgow gilt vermutlich als der schönste, magischste und faszinierendste Ort, den ich je besucht habe. Hoch über der Stadt wacht—bis in den Himmel, scheint es—die Stadt der Toten über dem geschäftigen, postindustriellen, viktorianischen Glasgow. Mächtige Gräber, die weit über meinen Kopf hinaus in die Höhe ragen, Skulpturen der Toten und prächtige Monumente erheben sich auf mehreren Ebenen auf dem viktorianischen Friedhof, welcher sich der formalen Strenge der heutigen Friedhöfe entgegensetzt. Schmale Pfade schlängeln sich um den Hügel östlich der Glasgow Cathedral. Als wir ihn besuchen—bei mir ist es bereits das zweite Mal—, ist es spätabends und pechschwarze Nacht. Es regnet in Strömen und wabernder weißer Nebel zieht sich vor der Necropolis auf, als wir über eine große steinerne Brücke auf die Tore des Friedhofs zuspazieren. Unter uns schimmern bunte Ampeln schemenhaft durch den Nebel und goldenes Licht taucht die Brücke in eine etherische Schönheit. Die Welt um uns verschwindet so weit in den Hintergrund, dass es nichts und niemanden gibt, außer uns, mit schwarzen Regenschirmen und einem sich langsam mit Melancholie vollziehenden Herzen. Auf der höchsten Plattform des Friedhofes angekommen, schimmern die Dächer und die Lichter Glasgows durch die meterhohen Gräber, welche sich im Gegenlicht schwarz erheben.
Es ist ausgerechnet in der Stadt der Toten, dass ich mich plötzlich unglaublich lebendig fühle—und voller Dankbarkeit, solch unsagbarer Schönheit beiwohnen zu dürfen. Wer sich selbst ein Bild davon machen möchte, dem sei ein Besuch der Necropolis sehr ans Herz gelegt. Für Fans von Architektur und Geschichte lohnt sich ein Besuch bei Tag, für Fans der Melancholie und der Tagträumerei ein Besuch bei Nacht und Nebel. Aber Vorsicht: Die Schließzeiten des Friedhofes zu beachten, bedarf eines besonderen Hinweises. Wir wurden nämlich eingeschlossen!
Bildquelle: Mercy Ferrars Photographer
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