Die revolutionäre Macht des Alltags

von Ralph Mönius

Ich muss zugeben: Es gab eine Zeit, da habe ich mich auf ein neues Cold­play-Album gefreut, obwohl das natür­lich nie cool war. Ganz im Gegen­teil, es war für Indie-Fans und Musikn­erds schon immer deut­lich leichter diese Band zu has­sen, die sich die massen­tauglich­sten Aspek­te von Radio­head oder U2 her­aus­pick­te und daraus zwar ihren eige­nen, aber eben nie einen wirk­lich neuen oder sog­ar unbe­que­men Sound entwick­elte. Nein, Cold­play, das stand schon immer für Har­monie, für Kalen­der­spruch-Lyrik und ein Stück weit für eine Art wohlige Langeweile. Gerne wurde dabei überse­hen, dass die Band dur­chaus ihr Handw­erk im Song­writ­ing ver­stand (wie etwa auf A Rush of Blood to the Head) und auch eine beein­druck­ende Vielfalt an Sounds und Stilen vere­inen kon­nte (vor allem auf Viva la Vida or Death and All His Friends). Doch wie bei vie­len Bands sorgte auch bei Cold­play nach und nach der gewaltige Erfolg für eine Ver­schiebung in Rich­tung Mitte, in den Main­stream und in die Beliebigkeit, bis auf dem 2015 erschiene­nen Album A Head Full of Dreams jede einzelne Note, jed­er Sound nach pur­er Kom­merz-Kalku­la­tion klang. Von Musik keine Spur mehr.

… Every­day Life ist das mit Abstand inter­es­san­teste Stück Musik, das Cold­play seit vie­len Jahren abgeliefert haben.

Deshalb waren meine Erwartun­gen an das neue Album Every­day Life diplo­ma­tisch aus­ge­drückt nicht ger­ade hoch. Allein schon der Titel: Every­day Life, ein Dop­pelal­bum mit den bei­den Seit­en Sun­rise und Sun­set, mehr kle­in­ster gemein­samer Nen­ner geht eigentlich nicht. Aber was auch immer es war, das mich dazu brachte, dann doch ein­mal in die Scheibe hinein zu hören – ob hämis­ches Inter­esse oder eine ver­quere Loy­al­ität gegenüber ein­er Band, die ich mal toll fand –, diesem Etwas danke ich für den Impuls, denn Every­day Life ist das mit Abstand inter­es­san­teste Stück Musik, das Cold­play seit vie­len Jahren abgeliefert haben.

Und damit sind wir schon beim ersten Punkt: Musik. Es geht wieder um Musik, na endlich! Ich hat­te die Hoff­nung ehrlich gesagt schon aufgegeben, denn wer als früher­er Cold­play-Fan in den let­zten Jahren glaubte, die neuen Alben durch den Besuch eines Konz­erts umge­hen zu kön­nen, hat­te sich schw­er getäuscht. Ja, natür­lich wur­den die Klas­sik­er gespielt, aber auch hier ging es nur um Show, nicht mehr um Musik. Alles groß, alles bunt, alles ziem­lich leb­los und jet­zt – jet­zt begin­nt das neue Album mit dem wun­der­schö­nen Instru­men­tal Sun­rise, das sich seinem Namen gemäß nach und nach in die Höhe schraubt, bis es erhaben am Sound-Him­mel ste­ht. Die Aus­sage ist klar: Wir nehmen uns wieder mehr Zeit für Songs und gehen freier mit diesen um. Ein Ver­sprechen, das immer wieder ein­gelöst wird, etwa auf dem entspan­nt grooven­den Arabesque mit seinen mächti­gen Bläsern, das zwis­chen­drin ein­fach mal zur Jam-Ses­sion mutiert und Zeit für ein vir­tu­os­es Sax­ophon-Solo bietet. Mit Guns eröffnet dann gle­ich mal Cold­plays erster Protest­song die zweite Hälfte, inklu­sive des ersten auf Plat­te geban­nten F‑Worts der Band.

Ja, ihr habt richtig gele­sen: Protest­song. Denn neben der musikalis­chen Öff­nung des Albums wer­den Cold­play auf dieser Plat­te zum ersten Mal so richtig poli­tisch – auf Cold­play-Art ver­ste­ht sich. Aber immer­hin: Ger­ade die pos­i­tive kul­turelle Ein­bindung von Sounds und Kün­stlern aus der ara­bis­chen Welt ist für aktuelle Main­stream-Ver­hält­nisse doch zumin­d­est ungewöhn­lich. Und wenn Chris Mar­tin dann ganz läs­sig die Zeile “And we share the same blood” hin­legt, dann ist das in der Cold­play-Welt schon eine kleine Rev­o­lu­tion. Darüber hin­aus sind selb­st die mehr auf Hit und großen Cho­rus aus­gelegten Tracks wie Orphans oder Church poli­tisch aufge­laden, denn sie beschäfti­gen sich mit Geflüchteten, die sich nach ihrer ver­lore­nen Heimat sehnen, und mit der Frage wie und wo Glaube heute aus­gelebt wer­den kann. Und natür­lich verkün­den Cold­play in ihrem neu erwacht­en poli­tis­chen Bewusst­sein erst dann wieder touren zu wollen, wenn sie das min­destens kli­ma­neu­tral, am besten sog­ar kli­mafre­undlich hin­bekom­men. Ein großes Ver­sprechen, auf dessen Ein­lö­sung man ges­pan­nt sein darf, das aber auch das Poten­zial in sich trägt, ein großes Vor­bild abzugeben.

Absolutes High­light des Albums sowohl in poli­tis­ch­er, als auch musikalis­ch­er Hin­sicht ist jedoch der Song Trou­ble in Town, der mit min­i­mal­is­tis­chem Arrange­ment und anges­pan­nter Atmo­sphäre begin­nt und sich im Laufe sein­er Erzäh­lung über Polizeibru­tal­ität in den USA in ein wahres Infer­no hinein steigert, dabei sog­ar mit der Orig­i­nal-Auf­nahme eines schnell eskalieren­den Über­griffs die Real­ität auf erschüt­ternde Weise mit ein­bindet. Weit­er waren Cold­play wohl noch nie von der schillern­den Pop-Welt ent­fer­nt, in der sie sich die let­zten Jahre bewegt haben.

Den­noch gibt es natür­lich auch die großen Pop-Momente wie auf Cham­pi­on of the World oder dem bere­its erwäh­n­ten Orphans, die jew­eils von einem Cho­rus leben, der ein ganzes Sta­dion spren­gen soll. Oder das san­fte, herzzer­reißende Dad­dy, ein Song, den Chris Mar­tin aus der Sicht sein­er eige­nen Kinder geschrieben hat, in deren Leben er zu wenig präsent ist, wenn er auf Tour geht, ein Song, der in seinem Kitsch unerträglich sein kön­nte, würde er nicht so ver­dammt zer­brech­lich und gefüh­lvoll klingen.

Protest­song. Denn neben der musikalis­chen Öff­nung des Albums wer­den Cold­play auf dieser Plat­te zum ersten Mal so richtig poli­tisch – auf Cold­play-Art ver­ste­ht sich.

Doch selb­st diese Pop-Hym­nen fügen sich naht­los in die Vielfältigkeit des Albums ein, auf dem Cold­play zwis­chen Gospel, ara­bis­ch­er Dich­tung, afrikanis­chen Rhyth­men und allen möglichen mod­er­nen Pop-Rich­tun­gen von R&B bis zum amerikanis­chen Folk das tun, was sie am Besten kön­nen: Har­monie schaf­fen und Klänge miteinan­der ver­söh­nen, die schein­bare Gegen­sätze darstellen. Und dass dies so rund und fre­undlich und schon fast beiläu­fig funk­tion­iert, ohne dabei irgend­wo richtig anzueck­en ist die eigentliche rev­o­lu­tionäre Sprengkraft dieses Albums. Cold­play nehmen die Welt so, wie sie der All­t­ag ihnen präsen­tiert, begeg­nen ihr mit Empathie und Fre­undlichkeit und schaf­fen so ein ganz seltenes Kun­st­stück: Das rel­e­vante Main­stream-Album. Bitte weit­er so!


Bildquellen:
By Christo­pher John­son (glob­alite) on Flickr — "Fuji Rock pho­tos: Cold­play", CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48417230


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