von Mercy Ferrars
ACHTUNG: DIESE REZENSION ENTHÄLT SPOILER ZU STAFFEL 1 VON „YOU“
UND ERWÄHNUNGEN VON „GOSSIP GIRL“
INTENSIV. DUNKEL. SÜCHTIG MACHEND.
Kaum ein Wimpernschlag scheint vergangen zu sein, seit Joe Goldberg (Penn Bagdley) in Netflix’ YOU seine intensive Beziehung zur Brown-Studentin Guinevere Beck in einem Rausch aus intensiven Gefühlen mit bloßen Händen erstickte. Und doch fühlt es sich gleichermaßen viel zu lange an, seit wir zuletzt Joes faszinierenden Gedanken und seinen—wie es scheint, immerfort versehentlich—in Serie mordenden Händen folgen durften. Die erste Staffel von YOU spielt in New York und Joe ist die Art Buchhändler, für die wir ein bisschen zu gerne wieder in die Buchhandlung zurückkehrten. Die ersten 10 Episoden der ersten Staffel, wie auch der Erfolgsroman YOU von Caroline Kepnes, auf welchem die Serie basiert, präsentieren sich als eine unwiderstehliche Mischung aus einem undurchsichtigen Psychothriller, fantastischer Satire und einer etwas mehr auf den Boden gekommenen Version von Gossip Girl. Letzteres bedingt sich nicht nur durch New York als wundervolles Setting und eine Handvoll karikierter High-Society-Archetypen, sondern auch durch ein bekanntes Gesicht auf der Leinwand—denn auch wenn Dan Humphrey und Joe Goldberg nicht unterschiedlicher sein könnten, so beweist Schauspieler Penn Badgley, einst das Gesicht der New Yorker High-fashion-Erfolgsserie Gossip Girl, dass er nicht nur als introvertierter Autor klammheimlich seine Freunde der Upper East Side enthüllen, sondern auch als niedlicher Buchhändler mir nichts, dir nichts ein paar Menschen seinem Keller ermorden kann; und beide Male vergeben wir ihm nur allzu gerne. YOU ist intensiv und dunkel und süchtig machend. Die fantastische narrative Stimme adressiert gleichermaßen Joes Objekt der Begierde, Beck, als auch den Zuschauer in der direkten Anrede der zweiten Person und etabliert eine unheimlich emotionale, intime Verbindung, da sie fortwährend Joes Gedanken und Gefühle mit uns teilt. Augenblicklich fühlt man sich tief in Joes Welt verloren—oder gar zu Hause, ganz wie man’s nimmt.
“REJECTION IS A DISH BEST SERVED IN A PAPER ENVELOPE BECAUSE THEN AT LEAST YOU CAN TEAR IT UP AND BURN IT.”
Gelegentlich möchte man ihm den tödlichen Allergiker-Erdnussbuttershake oder den mörderischen Pflasterstein sanft aus der Hand zerren und ihn einfach in den Arm nehmen. Joe ist anders als die Serienmörder, die uns in anderen Kriminalgeschichten begegnen. Sicherlich hat auch er einen unheimlich anziehenden Charme, den er gekonnt einzusetzen weiß, und auch ihm fehlt eindeutig eine neurotypische Einschätzung der Situation, doch genau deshalb machen wir uns um ihn Sorgen anstatt um seine Opfer: Joe empfindet keine Freunde am Mord, doch er versteht ihn als notwendiges Opfer für die eine große, wahre Liebe; er ist hilflos im Angesicht seiner Emotionen und er ist hungrig nach einer Liebe, die er sich ambitioniert erkämpfen muss.
“THE REAL HORROR OF MY LIFE IS NOT THAT I’VE KILLED SOME TERRIBLE PEOPLE.
THE REAL HORROR IS THAT THE PEOPLE I’VE LOVED DIDN’T LOVE ME BACK.”
Zeitweise hielt ich kurz inne und fragte mich, woher diese Sympathie für Joe zu stammen scheint, schließlich verkörpert er den Archetyp des toxischen weißen, maskulinen Serienmörders, der mit allem davonkommt, weil er seinen nerdy, introvertierten Buchhändler-Charme gekonnt einsetzt, um alle Menschen in seinem Leben um den Finger zu wickeln. Zweifelsohne sind Joes Taten nicht zu entschuldigen—weder sein unerlässliches Stalking, noch seine blutende Eifersucht und, offensichtlich, schon gleich gar nicht, dass er seine emotionalen Zwiespalte gerne mit dem ein oder anderen Mord auflöst. Und dennoch springt mir ein laut fühlendes, brennend einsames und schrecklich unverstandenes Herz von der Leinwand entgegen und verbindet sich mit meinem; ein Herz, dessen intensive Bedürfnisse und dysfunktionalen Bewältigungsstrategien und beißende Reue sich sehr vertraut anfühlen.
“WE’RE TOO OLD TO BE YOUNG”
In der zweiten Staffel der Serie, welche Netflix kurz nach Weihnachten veröffentlichte, flieht Joe nach Los Angeles, ermächtigt sich kurzerhand einer neuen Identität und schwört sich, dass solcher Kram nie wieder passieren darf. Von nun an verspricht er sich, ein besserer Mann zu werden. Kurzum: Er erstickt jeglichen Ansatz toxischer Obsession im Keim, er lässt die Menschen aus seinem Käfig wieder gehen, anstatt sie zu töten, und er übernimmt Verantwortung für diejenigen, die ihn wirklich brauchen. Ausgerechnet in Los Angeles, wo Joe alles und jeden hasst, fühlt er sich sicher vor Candace, seiner Ex-Freundin, die er glaubte, umgebracht zu haben, und die ihn im nervenaufreibenden Cliffhanger am Ende der ersten Staffel kurzerhand in seinem New Yorker Buchladen mit den Worten „Ich glaube, wir müssten mal reden“ überraschte.
Er nennt sich jetzt Will und arrangiert Büchertische in einem hippen angelino-Café, wo er sich innerhalb kürzester Zeit in Love (Victoria Pedretti) verliebt, eine Konditorin und Köchin mit reicher Familienhistorik, welche das Café gemeinsam mit ihrem Bruder Forty schmeißt. Blöd nur, dass die wahre Liebe in Joe bisher nie das Beste ausgelöst hat. Und so sehr er sich Mühe gibt, sich von Love fernzuhalten, so sehr scheint sein Schicksal irre Wege zu gehen. Denn nicht nur findet Candace unter einem fremden Namen zurück in sein Leben, sondern Love entpuppt sich in einem schwindelerregenden, berauschenden Twist der Ereignisse auch als alles, was er sich je erträumt hat—den ganzen Weg bis zum Schluss.
“I FOLD MY HANDS UNDER MY HEAD AND TELL THE BOOKS ALL ABOUT YOU. THEY LISTEN, BECK. I KNOW IT SOUNDS CRAZY, BUT THEY DO.”
YOU scheint wie ein wundervoll romantischer Psychothriller, einer, in dem man sich fast selbst in den Serienmörder verliebt oder zumindest tief mit ihm sympathisiert—ein Phänomen, was im historischen Lichte gar nicht so unüblich zu sein scheint. In der zweiten Staffel erfahren wir endlich mehr über Joes Kindheit und es ist dieser Kontext, der uns bloß umso tiefer für ihn schmerzen lässt. Im Angesicht seiner traumatischen, einsamen Kindheit fällt es uns schwer, lange zu schmollen, selbst wenn er mal wieder aus Versehen jemanden in seinem Fleischwolf entsorgen muss.
Cinematografisch scheint die Serie wie ein flüchtiges Gedicht im Frühling, eine Kamera, welche an den Rändern verschwimmt, eine ausgeprägte Hingabe zum Detail—die Schönheit im Moment, der Schmerz eines einsamen und ängstlichen Herzens wird wunderschön eingefangen. Mit ruhiger, poetischer Stimme erzählt Penn von Joes Gedanken, von seiner Innenwelt, seiner hohen Intelligenz. In seinem Gesicht ziehen sich die Furchen seiner emotionalen Innenwelt entlang, welche sich so intim auf ihm abbildet, als kehre er sie furchtlos nach außen. Ein tief verletzter Antiheld, der sich sein ganzes Erwachsenenleben lang in der Suche nach Liebe selbst im Weg steht—nur um sie letztlich dort zu finden, wo er niemals zu suchen gewagt hätte: in der Dunkelheit.
Bildquellen: pexels
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