100 Jahre Groß-Berlin—Die Frühphase moderner Stadtplanung

von Mar­tin Bäckert

In der Geschichtswis­senschaft ist ein Jubiläum meist ein gern gese­hen­er Anlass, um sich mit den jubilierten Ereignis­sen und Prozessen inten­siv­er auseinan­derzuset­zen. Zusam­men mit ein­er medi­alen Öffentlichkeit entste­ht, je nach beigemessen­er Bedeu­tung für das Ereig­nis, ein bre­it angelegtes Gedenken. Da dieses mal mehr oder mal weniger kri­tisch aus­fällt, stellt es His­torik­erIn­nen vor die Her­aus­forderung nach der reflek­tieren­den Einord­nung des Ganzen. Ob 500 Jahre Ref­or­ma­tion oder 30 Jahre Mauer­fall, es ist eine stetige Grat­wan­derung zwis­chen ein­fachem Nar­ra­tiv und kom­plex­er Geschichte. In diesem Beitrag soll es um ein Ereig­nis gehen, das nicht im kollek­tiv­en Gedächt­nis ver­ankert ist. Der Blick fällt mit dem Zusam­men­schluss zu Groß-Berlin vor rund 100 Jahren auf ein stadt­planer­isches Ereig­nis, das bis heute zen­trale Auswirkun­gen auf die Bun­de­shaupt­stadt hat. Denn die Straßen­ver­läufe, Bezirks­gren­zen und Verkehr­swege, die unser alltäglich­es Leben bee­in­flussen und in gewiss­er Weise struk­turi­eren, sind keine gegen­wär­ti­gen Phänomene. Sie sind his­torisch gewach­sene Struk­turen des ver­gan­genen Städte­baus. Die Geschichte der Zusam­men­le­gung Berlins führt uns daher zu zen­tralen Fra­gen der Stadt­pla­nungs­geschichte: Wie lässt sich eine Stadt pla­nen? Welche Schw­er­punk­te set­zten wir bei der Pla­nung? Was macht eine Stadt Lebenswert? Auf diese Fra­gen for­mulierten Stadt­plan­er im Laufe der Zeit unter­schiedliche Antworten. Um die Grün­dung Groß-Berlins ver­ste­hen zu kön­nen, bedarf es dem­nach einen Blick zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Der Hobrecht-Plan

Im 19. Jahrhun­dert erfasste die von Großbri­tan­nien aus­ge­hende Indus­tri­al­isierung schrit­tweise ganz Europa. Die vorindus­trielle Agrarge­sellschaft löste sich in den Bal­lungszen­tren der Indus­triellen Rev­o­lu­tion in kurz­er Zeit auf. Tex­til­fab­riken wur­den errichtet, Eisen­bah­nen in Betrieb genom­men und Men­schen zogen vom Land in die ras­ant wach­senden Städte. Ab ca. 1840 erre­ichte sie schließlich in vollem Maße den Deutschen Bund. Berlin wurde als Haupt­stadt des preußis­chen Kön­i­gre­ich­es in kürzester Zeit ein indus­trielles Bal­lungszen­trum und die Ein­wohn­erzahl der Stadt stieg im Ver­lauf des 19. Jahrhun­derts von ca. 172.000 auf ca. 1.9 Mil­lio­nen an. Eine Entwick­lung, welche die Woh­nungs­frage immer mehr ins Zen­trum poli­tis­ch­er Diskurse rück­te. Die darauf for­mulierte Antwort des preußis­chen Staates war ein kon­se­quentes Fes­thal­ten am Lib­er­al­is­mus. Für das städtis­che Pla­nungsrecht bedeutete dies, dass jed­er Grundbe­sitzende mit seinem Eigen­tum machen kon­nte, was er oder sie wollte. Der Staat griff kaum und wenn dann nur in prob­lema­tis­che Entwick­lun­gen ein, die langfristig nicht gelöst wer­den kon­nten. Eine solche Entwick­lung zeigte sich schließlich im Berlin der 1850er Jahre. Das Grund­prob­lem lag in der man­gel­haften Koor­di­na­tion pri­vater Baupro­jek­te bei gle­ichzeit­iger Zurück­hal­tung des Staates. Das so ent­standene willkür­liche Ver­hält­nis zwis­chen Verkehrs‑, Wohn- und Indus­trieflächen war dem zunehmenden Sozial­druck des Ein­wohn­er­anstiegs kaum gewach­sen. Vor allem herrschte im Berlin­er Wohn­raum Man­gel in den Bere­ichen Hygiene, Feuer­sicher­heit und Wasserver­sorgung. Es bedurfte also ein­er poli­tis­chen Reak­tion auf diese Umstände. Diese fol­gte schließlich 1862 mit dem „Bebau­ungs­plan der Umge­bun­gen Berlins“ von James Hobrecht.

Hobrechtplan_Berlin_1862 (1) (1)Der Hobrecht-Plan von 1862: Die Berliner Innenstadt sollte mit vordefinierten Straßenverläufen durch das rot markierte Gebiet erweitert werden. Heute ist hier ungefähr das Innengebiet des S‑Bahn-Rings. © Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Der Hobrecht-Plan war im Wesentlichen eine gezielte Erweiterung der Berlin­er Innen­stadt. Hierzu wur­den in den rot markierten Flächen Plätze, Verkehr­swege und vor allem Straßen­ver­läufe geplant. Sie soll­ten bei zukün­fti­gen Baupro­jek­ten die Gren­ze zwis­chen öffentlichem Raum und pri­vatem Grundbe­sitz vordefinieren. In der zweit­en Hälfte des 19. Jahrhun­derts wurde der Hobrecht-Plan schließlich größ­ten­teils umge­set­zt. Die Berlin­er Innen­stadt bekam so einen dicht bebaut­en Siedlungsgürtel–den soge­nan­nten Wil­helminis­chen Ring. Doch obwohl durch den Hobrecht-Plan das Straßen- und Verkehrsnetz geord­net wer­den kon­nte, zeigten sich ger­ade beim Woh­nungs­bau weit­er­hin große Prob­leme. Vor allem die Bauord­nung set­zte kaum Ein­schränkun­gen, sodass Grundbe­sitzer den rechtlichen Freiraum zur eige­nen Prof­it­max­imierung nutzen kon­nten. Der pri­vate Wohn­raum im Wil­helminis­chen Ring wurde deshalb im Sinne ein­er max­i­malen Platzeinsparung zunehmend verdichtet. Die soge­nan­nten Miet­skaser­nen entstanden.

Meyers HofGrundriss des Meyers Hof in Berlin: Mit seinen sechs engen Hinterhöfen das Abbild einer typischen Mietskaserne des 19. Jahrhunderts.© Dietmar Reinborn, Städtebau […], S. 27.

Sie waren Wohnan­la­gen mit mehreren Hin­ter­höfen, deren Bau im Zeichen ein­er max­i­malen Platzeinsparung stand. Den rechtlichen Freiraum des Bau­rechts nutzen die Groß­grundbe­sitzer zur eige­nen Prof­it­max­imierung. Die teils unwürdi­gen Lebensver­hält­nisse inner­halb der Miet­skaser­nen ver­suchte man von staatlich­er Seite aus, mit einzel­nen Sanierungs­maß­nah­men zu begegnen–ohne durch­schla­gen­den Erfolg. Berlin entwick­elte sich bis 1900 zu ein­er Metro­pole, bei der die Gegen­sätze der Indus­tri­al­isierung sicht­bar wur­den: Während die Indus­triear­beit­er in den lichtar­men Hin­ter­höfen der Miet­skaser­nen lebten, grün­de­ten die Groß­grundbe­sitzer im Süd­west­en der Stadt weitläu­fige Vil­lenkolonien. Gle­ichzeit­ig war die Stadt durch tief­greifende Inno­va­tio­nen wie die Elek­tri­fizierung im steti­gen Wan­del. Bis zur Jahrhun­der­twende zeigte sich dem­nach ein Ver­ständ­nis von Stadt­pla­nung, bei dem konkrete Stadt­prob­leme durch einen vere­inzelt ein­greifend­en Staat gelöst wer­den soll­ten. Eine ein­heitlich koor­dinierte und in die Zukun­ft blick­ende Stadt­pla­nung kon­nte sich in diesem Zeitraum nicht durchsetzen.

Gartenstadtbewegung

Im Laufe der 1890er Jahre kam schließlich mit der Garten­stadt ein neues städteplaner­isches Leit­bild auf. Die the­o­retis­che Grund­lage lieferte dabei der Brite Ebenez­er Howard in seinem 1898 erschiene­nen Werk „Tomor­row. A Peace­ful Path to Real Reform“. Kerngedanke dieser neuen Bewe­gung war eine Entzer­rung des Bal­lungszen­trums durch die Grün­dung kom­plett neuer Städte in der direk­ten Periph­erie der Großstädte. Diese soge­nan­nten Garten­städte soll­ten, so die Idee, die Vorteile von Land und Stadt miteinan­der verbinden. Im Konkreten bedeutete dies, dass jene Städte ein­er­seits von land­wirtschaftlich genutzter Grün­fläche umschlossen autonom existieren kön­nen soll­ten. Die autonome Selb­stver­wal­tung sollte durch das Vorhan­den­sein aller zen­tralen Ein­rich­tun­gen garantiert wer­den. Ander­er­seits wurde die max­i­male Ein­wohn­erzahl ide­al­typ­isch auf 50.000 fest­gelegt, um die Garten­stadt fußläu­fig durch­dring­bar zu hal­ten. Doch wie sah die real­isierte Umset­zung aus? In Eng­land kam es in der Nähe von Lon­don mit Letch­worth (1904) und Wel­wyn (1919) zur Grün­dung ide­al­typ­is­ch­er Garten­städte und auch auf deutschem Gebi­et zeigt die Idee Wirkung. Die 1902 gegrün­dete Deutsche Garten­stadt-Gesellschaft set­zte sich poli­tisch für den Bau solch­er Städte ein. Mit Heller­au bei Dres­den kam es jedoch ab 1909 zum einzi­gen Bau ein­er deutschen Garten­stadt. Die restlichen Ergeb­nisse der deutschen Bewe­gung blieben auf vorstädtis­che Sied­lun­gen ohne Selb­stver­wal­tungsanspruch beschränkt.

Garden_City_Concept_by_Howard_2 (1) (1)Das Gartenstadt-Konzept nach Howard: Im Umkreis einer zentral gelegenen Großstadt sollten mehrere Kleinstädte gegründet werden. © Ebenzer Howard, Garden Cities of tomorrow, 1902.

An Hand der Garten­stadt­be­we­gung lässt sich im Zeitraum von 1900 — 1914 ein Wan­del im all­ge­meinen Ver­ständ­nis von Städte­bau fest­stellen. Die lib­er­al bebaute Stadt des 19. Jahrhun­derts stand nun zunehmend in der Kri­tik. Man erkan­nte, dass es ein kaum kon­trol­liert­er Städte­bau durch pri­vate Unternehmer langfristig nicht funk­tion­ieren kon­nte. Vielmehr rück­ten nun soziale Belange in den Fokus. Die Ein­wohn­er ein­er Garten­stadt soll­ten im Gegen­satz zum Leben in Miet­skaser­nen durch genü­gend Zugang zu Grün­flächen ein aus­geglich­enes Leben in ein­er über­schaubaren Kle­in­stadt führen kön­nen. Das zeugt von ein­er neuen Idee von Stadt­pla­nung. Durch inter­diszi­plinäre Koor­di­na­tion soll­ten nun Städte nach ein­heitlichen Ord­nungskonzepten (z. B. Garten­stadt) struk­turi­ert wer­den. Architek­ten, Stadt­plan­er und Inge­nieure arbeit­eten gemein­sam an Lösun­gen für Prob­leme indus­trieller Bal­lungszen­tren wie Berlin. In diesen Zeitraum fällt auch der erste öffentliche Ideen­wet­tbe­werb zur Zusam­men­le­gung Berlins.

Zusammenlegung Groß-Berlins

Obwohl es bere­its 1820 erste Stim­men für eine Zusam­men­le­gung Berlins gab, nahm die Diskus­sion erst nach der Jahrhun­der­twende richtig Fahrt auf. Im Jahre 1908 rief der Regierungs­baumeis­ter Emanuel Heimann schließlich den inter­na­tionalen „Wet­tbe­werb Groß-Berlin“ aus. Ziel war die Erstel­lung eines ein­heitlichen Grundlin­ien­plans für die Stadt­pla­nung Berlins. Doch trotz des Wet­tbe­werbs, bei dem ein Architek­tenkollek­tiv prämiert wurde, kam es bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges nicht zur geplanten Zusam­men­le­gung. Ein­er der wohl zen­tral­sten Gründe waren die ökonomis­chen und sozialen Diskrepanzen des Berlin­er Umlands. Während sich wohlhabende Gemein­den wie Char­lot­ten­burg im Süden und West­en gegen eine Einge­mein­dung wehrten, waren Gemein­den im Nor­den und Osten für eine Zusam­men­le­gung. Darüber hin­aus wehrte sich das Preußis­che Kön­i­gre­ich gegen einen Zusam­men­schluss, da es eine zu autonome Stel­lung Berlins fürchtete. Eine Auflö­sung dieser gegen­sät­zlichen Posi­tio­nen gelang erst mit dem Zusam­men­bruch des Deutschen Kaiser­re­ichs nach dem Ersten Weltkrieg. Die poli­tis­chen Ver­ant­wortlichen der neu­formierten Weimar­er Repub­lik erkan­nten die Notwendigkeit eines geein­ten Berlins. Allen voran Adolf Wer­muth, der seit 1912 Ober­bürg­er­meis­ter Berlins war und es nach dem Krieg bliebt. Während des Krieges wur­den die Defizite des in Gemein­den zer­stück­el­ten Bal­lungsraums Berlin offen­sichtlich. Vor allem die unter­schiedliche Ver­sorgung mit Lebens­mit­teln sorgte für große Unzufrieden­heit inner­halb der Bevölkerung. Wer­muth reagierte mit der Ein­führung ein­heitlich­er Lebens­mit­telka­rten, die für den gesamten Bere­ich des späteren Groß-Berlins gal­ten. Nach dem Krieg sah der Ober­bürg­er­meis­ter schließlich die Chance gekom­men, Berlin auch geopoli­tisch zu einen. Nach zähen Ver­hand­lun­gen mit den Nach­barge­mein­den kam das soge­nan­nte Groß-Berlin-Gesetz schließlich am 25. April 1920 zur Abstim­mung. Mit ein­er knap­pen Mehrheit von nur 16 Stim­men wurde es schlussendlich angenom­men und trat am 1. Okto­ber 1920 offiziell in Kraft. Berlin wurde so auf einen Schlag zur flächen­mäßig zweit­größten und ein­wohn­ertech­nisch drittgrößten Stadt der Welt.

GroßberlinDie Zusammenlegung Groß-Berlins: Das ursprüngliche Stadtgebiet (hellblau) wurde durch umliegene Gebiete (dunkelblau) erweitert. Insgesamt gab es zu diesem Zeitpunkt 20 Berliner Bezirke. 

Die Geschichte der Zusam­men­le­gung Berlins zeigt uns, wie sich das Ver­ständ­nis von Stadt­pla­nung im Laufe der Zeit änderte. Während beim Hobrecht-Plan noch mit vorgeze­ich­neten Straßen­ver­läufen gear­beit­et wurde, ent­stand mit der Garten­stadt die Idee eines plan­baren Städte­baus. Die staatliche Per­spek­tive auf die Stadt­pla­nung änderte sich von ein­er bewussten Zurück­hal­tung hin zur aktiv­en Stadt­poli­tik. Berlin und seine umliegen­den Gemein­den entwick­el­ten sich von ein­er ländlichen Region über ein indus­trielles Bal­lungszen­trum hin zum poli­tisch geein­ten Stadt­ge­bi­et. Dabei hat jede der hier beschriebe­nen Entwick­lun­gen Ein­flüsse auf das heutige Stadt­bild, allen voran der Hobrecht-Plan, der in weit­en Teilen heute noch die Straßen­ver­läufe der Bezirke Pren­zlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg prägt. Ob Eber­swalder Straße, Box­ha­gen­er Platz oder Reichen­berg­er Straße–sie alle haben ihren Ursprung im Hobrecht-Plan. Auch die Garten­stadt­be­we­gung mit ihrer Fokussierung auf plan­mäßige Stadt­grün­dun­gen mit städtis­chen Grü­nan­la­gen hat bis heute ihren Ein­fluss. Die Ideen der Bewe­gung wur­den unter anderem für den Bau von Vorstädten und Großsied­lun­gen ver­wen­det. Stück für Stück kon­nten so alter­na­tive Wohn­for­men einge­führt wer­den, welche langfristig die engen Woh­nun­gen der Miet­skaser­nen ablösten. Zu guter Let­zt die Zusam­men­le­gung Berlins, die abge­se­hen von kleineren Verän­derun­gen bis heute Stadt­ge­bi­et und Bezirks­gren­zen definiert.

Die Ereignisse und Entwick­lun­gen zeigen uns, wie sehr das Leben ein­er Stadt wie Berlin his­torisch geprägt ist. Die Straßen, durch die wir gehen, sowie die Plätze, auf denen wir entspan­nen, sind Teil ein­er lang­wieri­gen Stadtplanungsgeschichte.


Bildquellen: Zen­tral- und Lan­des­bib­lio­thek Berlin, Diet­mar Rein­born, Städte­bau […], S. 27., Eben­z­er Howard, Gar­den Cities of tomor­row, 1902.


Lit­er­atur:


Quellen:


Martin_Kurz

Ferrars & Fields Magazine 

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