FLINTA, MUSIK

Der Fall Lindemann und die Kunstfreiheit

by HANNAH JÄGER

Bild: Wiki­com­mons

22/04/2020

Dieser Artikel setzt sich mit sexualisierter Gewalt und der Kunstfreiheit auseinander. Für Menschen, die durch sexualisierte Gewalt ein Trauma erlitten haben, könnte das triggernd wirken. Ansprechpartner*innen findest du bundesweit unter https://www.hilfeportal-missbrauch.de/, https://beauftragter-missbrauch.de/hilfe/hilfetelefon, https://weisser-ring.de/ und nach Ort gegliedert unter https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/organisationen.html.

Der Medi­en­auf­schrei war laut die let­zten Wochen. Ramm­stein-Sänger Till Lin­de­mann veröf­fentlichte im März dieses Jahres seinen Gedicht­band 100 Gedichte im renom­mierten KiWi Ver­lag, welch­er das Gedicht “Wenn du schläf­st” enthält. Dabei han­delt es sich zunächst um plumpe Worte und den­noch ist das kurze Gedicht eine klare Verge­wal­ti­gungs­fan­tasie, die nicht nur beschönigt, son­dern den Reiz zum Nach­machen bein­hal­tet. Unter anderem auch, weil die K.o.-Tropfen klar mit Namen benan­nt werden:

“Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas).
Kannst dich gar nicht mehr bewegen.
Und du schläfst, es ist ein Segen.”

Till Lin­de­mann

Mein erster Impuls war klar: Ich war angeekelt, fühlte mich gelähmt und wurde sehr wütend. Die Tage darauf dachte ich viel über das Gedicht, das baldige Medi­ene­cho sowie die Kun­st­frei­heit im All­ge­meinen nach. Dieser Artikel soll eine Diskus­sion über sex­u­al­isierte Gewalt in der Kun­st und Sprache aufw­er­fen, die die Prob­lematik lauter und sicht­bar­er machen soll.

Zunächst: Was ist eigentlich sexualisierte Gewalt?

Sex­u­al­isierte Gewalt umfasst alle sex­uellen Hand­lun­gen, die einem anderen Men­schen den eige­nen Willen aufzwin­gen. Dabei ist es wichtig zu beto­nen, dass es sich um einen Akt der Aggres­sion und des Macht­miss­brauchs han­delt. Indem man sagt, dass jemand seine Triebe nicht unter Kon­trolle hat, beschreibt man sex­u­al­isierte Gewalt schlichtweg nicht richtig. Fern­er reicht sex­u­al­isierte Gewalt von der sex­uellen Beläs­ti­gung erwach­sen­er Frauen und Män­ner bis hin zum Kindesmissbrauch. 

Sex­u­al­isierte Gewalt erset­zt in der Fach­welt weitest­ge­hend den Begriff “sex­uelle Gewalt”, da dieser schnell dazu ver­leit­et, die psy­chisch-emo­tionale Kom­po­nente und deren Fol­gen auszublenden. Dabei ist ger­ade diese so wichtig. 

Sprache und Sein

Wie Yuval Noah Hararis in Eine kurze Geschichte der Men­schheit (2015 im Pan­theon Ver­lag erschienen) beschreibt, bre­it­ete sich der “Homo sapi­ens” deshalb aus, weil er sich in großen Grup­pen organ­isieren kon­nte. Solch eine Organ­i­sa­tion ist nur auf­grund ein­er fik­tiv­en gemein­samen Sprache möglich. Men­schen kön­nen sich mith­il­fe von Sprache über Dinge aus­tauschen, die es gar nicht gibt: 

You make me feel homesick”

DREAMSTATE

Sprache wird Realität. Und diese Realität wird wiederum von der Sprache legitimiert. 

Indem Gedichte wie “Wenn du schläf­st” von Till Lin­de­mann von einem bekan­nten deutschen Ver­lag ver­legt wer­den, wird sex­u­al­isierte Gewalt (im vor­liegen­den Fall gegen Frauen) als etwas Alltäglich­es dargestellt. Somit tra­gen Lin­de­mann und der KiWi Ver­lag aktiv dazu bei, dass Gewalt gegen Frauen weit­er­hin beschönigt und legit­imiert wird. Und das macht mich wütend!

Indem wir in Deutsch­land nur sehr zöger­lich über sex­u­al­isierte Gewalt sprechen, bleibt es ein The­ma, welch­es nicht nur auf­grund der trau­ma­tis­chen Folgeschä­den sen­si­bel ist. Wenn also ein 57-jähriger erwach­sen­er Mann ein solch­es The­ma anspricht, dann ste­ht da der Anspruch an Moral­ität und Ver­ant­wor­tung im Raum — das­selbe gilt für den Ver­leger des KiWi-Ver­lages. Wenn in Lit­er­atur und Kun­st men­schen­feindliche Ide­olo­gien wie Ras­sis­mus, Sex­is­mus oder Homo­pho­bie dargestellt wer­den, kann sich dadurch die Möglichkeit zum Gespräch öffnen—und dieses wiederum öffnet notwendi­ge Verän­derun­gen in Poli­tik und Kul­tur. Doch solch ein Umdenken und die richtige, sen­si­ble Aufar­beitung von The­men wie sex­u­al­isiert­er Gewalt set­zt zweifel­sohne einen konkreten Wis­sens­stand voraus, welch­er in den Lehrplä­nen an deutschen Schulen so nicht ver­mit­telt wird. Nicht nur die the­ma­tis­che Auf­bere­itung in der Kun­st lei­det unter einem solchen Defiz­it, son­dern auch das kon­textuelle Ver­ständ­nis von­seit­en der Leser*innen, denen die nötige Sen­si­bil­isierung schlichtweg fehlt.

Ich hätte mir von Till Lin­de­mann als ein­flussre­iche Per­son der Öffentlichkeit eben­so wie von seinem Ver­lag gewün­scht, diese fehlende Sen­si­bil­isierung für ein solch­es The­ma im Hin­terkopf zu behal­ten. Provozieren ist in Ord­nung. Polar­isieren wollen ist in Ordnung.

Doch in der Öffentlichkeit trägt man die Ver­ant­wor­tung für die Inhalte, die man ver­mit­telt. Man hat die Chance, die eigene Stimme als Sprachrohr für diejeni­gen zu nutzen, die nicht selb­st sprechen kön­nen oder wollen. Ein solch­er Text sollte also nicht unkom­men­tiert abge­druckt wer­den. Fol­gen und Kon­se­quen­zen soll­ten für alle Beteiligten klar umze­ich­net wer­den. Es muss laut wer­den: sex­u­al­isierte Gewalt hat trau­ma­tis­che Folgeschä­den und schw­er­wiegende legale Nachwirkungen—wenngleich diese noch immer nicht dem ent­stande­nen Schaden an emo­tionaler und kör­per­lich­er Unversehrtheit angepasst sind. Es mag sein, dass Till Lin­de­mann nicht gegen deutsches Recht ver­stoßen hat. Aber moralisch hat er das für mich ganz klar.

Abgedruckt ja, aber nicht unkommentiert!

Ich bin klare Ver­fech­terin der Kun­st­frei­heit und sehr dankbar dafür, dass diese im Grundge­setz im Artikel 5, Absatz 2 ver­ankert ist: 

„(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.
Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“

An der Uni­ver­sität belegte ich das Sem­i­nar “Medi­en­recht” und war tat­säch­lich kurz erstaunt, wie wenige Gren­zen die Kun­st­frei­heit in Deutsch­land hat. Die bei­den existieren­den Schranken betr­e­f­fen das Per­sön­lichkeit­srecht sowie den Jugend­schutz. Und es ist gut so, dass die Kun­st­frei­heit einen hohen Stel­len­wert in Deutsch­land hat. Denn nicht nur zu Zeit­en des Nation­al­sozial­is­mus, son­dern auch in der Ver­fas­sung der DDR existierte Kun­st­frei­heit nur auf dem Papier.

Ohne Kun­st­frei­heit haben wir keine Mei­n­ungs­frei­heit und damit keinen kri­tis­chen Diskurs.

Konkret bedeutet dies, dass die Kun­st­frei­heit nur dann eingeschränkt wer­den kann, wenn die Ehre ein­er Per­son durch verunglimpfende Darstel­lun­gen ver­let­zt wird, beispiel­sweise wenn Pornografie den Jugend­schutz ver­let­zt. Und den­noch erfordert diese Kun­st­frei­heit auch eine the­ma­tis­che Sen­si­bil­isierung und offene Debatte.

Gedichte, die eine Verge­wal­ti­gung beschönigt darstellen, wer­den abgedruckt.

Ohne die Pflicht, diese zu kom­men­tieren. Die Frauen(rechts-)bewegung wird in den meis­ten Schulen aus dem Lehrplan aus­ges­part. Nicht in jedem Sex­u­alkunde-Kurs wird über sex­u­al­isierte Gewalt gesprochen. In mein­er kom­plet­ten Schul­lauf­bahn wurde kein einziges Mal über “sex­uelle Gewalt” disku­tiert. Viele Men­schen ken­nen das Sym­bol “Orange the world” anlässlich des “Inter­na­tionalen Tags zur Besei­t­i­gung von Gewalt gegen Frauen” (immer der 25. Novem­ber) nicht. Frauen wur­den his­torisch immer wieder sys­tem­a­tisch Opfer von Gewalt. Erst seit 1997 ist die Verge­wal­ti­gung in der Ehe eine Straftat in der Bun­desre­pub­lik. Erst seit 2016 gilt in Deutsch­land geset­zlich “Nein heißt Nein.” 

Ist es damit nicht auch ein Teil der deutschen Geschichte, dass Frauen sys­tem­a­tisch unter­drückt wur­den und sex­u­al­isierte Gewalt somit sen­si­bles Gedankengut?

Parallele: die Pädophilie-Debatte in der Kunst

Ich bin wed­er Sprach­wis­senschaft­lerin noch Kun­stken­ner­in, den­noch hat mich die aktuelle Debat­te an die Pädophilie-Debat­te in der Kun­st erin­nert. Oft wer­den Ausstel­lun­gen ver­boten, die Kinder in sex­u­al­isierten Posen zeigen. Der Leit­er des Muse­ums Mors­broich in Lev­erkusen, Markus Heinzel­mann argu­men­tiert dage­gen, dass das Muse­um ein Ort der öffentlichen Diskus­sion sei. Er meint: “Bildende Kun­st ist dazu da, gedacht zu wer­den, Kinder-Pornografie dazu, kon­sum­iert zu wer­den”. Heinzel­mann appel­liert, dass ein Muse­um der Ort sei, um über Gewalt oder Tabus der Gesellschaft “in einem vernün­fti­gen Rah­men” zu diskutieren.

Das bringt es gut auf den Punkt: Bes­timmte Bilder kön­nen mod­eriert wer­den, in dem Besuch­er ein bes­timmtes Gemälde zum Beispiel nur mit ein­er Führung besichti­gen können.

Mit Worten ist das weitaus schwieriger. Der Zugang zu einem Gedicht lässt sich nicht einschränken—und erfordert einen ver­ant­wor­tungs­be­wussten Umgang mit sen­si­blen Themen. 

Von einem Publikumsverlag erwarte ich mehr!

Wie reagierte der Ver­leger nun auf die Vor­würfe? Am 3. April 2020 nahm Helge Mal­chow erst­mals Stel­lung zu den Vor­wür­fen, die im Netz ent­bran­nten: „Die moralis­che Empörung über den Text dieses Gedichts basiert auf ein­er Ver­wech­selung des fik­tionalen Sprech­ers, dem soge­nan­nten „lyrischen Ich“ mit dem Autor Till Lindemann.“

Der fol­gende Shit­storm und die Reak­tio­nen sprachen für sich. „Es reicht“ von der Mit­grün­derin des Zen­trums für Fem­i­nis­tis­che Außen­poli­tik, Kristi­na Lunz, ging viral. Zahlre­iche Medi­en disku­tierten das Gedicht. Opfer sex­ueller Gewalt, wie die Autorin und Aktivistin Sophia Hoff­mann ergrif­f­en das Wort. So beschreibt sie Symp­tome von ein­er post­trau­ma­tis­chen Belas­tungsstörung, nach­dem sie das Gedicht sowie die Stel­lung­nahme des Ver­legers las: „Mich traf bei­des wie ein Schlag ins Gesicht, mein Herz begann zu rasen und ein Gefühl der Läh­mung bre­it­ete sich in meinem Kör­p­er aus.“

Daraufhin entschuldigte sich der Ver­lag am 9. April für seine erste Stel­lung­nahme und bezieht klar Stel­lung­nahme gegen sex­uelle Gewalt: „Sex­u­al­isierte Gewalt gegen Frauen gehört benan­nt und bekämpft.“

Ein Gegenbeispiel: #UnhateWomen

Dass Lin­de­manns Texte nicht die einzi­gen sind, in denen Sex­is­mus gelikt und gefeiert wird und so Teil unseres All­t­ags und unser­er Sprache wird, zeigt das Beispiel Deutschrap. Beson­ders zynisch wird es, wenn man die Kam­pagne #Unhate­Women betra­chtet. Ende Feb­ru­ar startete die Men­schen­recht­sor­gan­i­sa­tion Terre des Femmes die Online-Kam­pagne #Unhate­Women, die frauen­feindliche Sprache deutschsprachiger Rap­per anprangerte.

Unter den vertrete­nen Rap­pern befind­en sich unter anderem Kol­le­gah und Farid Bang, Finch Asozial und GZUZ. Mith­il­fe der Kam­pagne fordert Terre des Femmes die kon­se­quente Bekämp­fung und Strafver­fol­gung von Has­skrim­i­nal­ität gegen Frauen und Mäd­chen im Internet.

Äußerst inter­es­sant ist das Echo auf die Kam­pagne: Der Rap­per Fler reagiert mit Belei­di­gun­gen, zahlre­iche Medi­en rück­en das The­ma frauen­feindliche Sprache in den Fokus. Die Ange­sproch­enen, die Rap­per selb­st, äußern sich kaum zu Wort auf die Vor­würfe. Auch im Rah­men der Kam­pagne das The­ma sex­u­al­isierte Gewalt in den Medi­en­fokus gerückt, aber im Gegen­satz zu Lin­de­manns Gedicht auf kri­tis­chere Art und Weise. Das zeigt, dass es geht: die Verbindung von sen­si­blen The­men, provozieren­der Aufar­beitung und kri­tis­chem Gespräch.

Bildquelle: https://www.unhate-women.com/de/


Han­nah Jäger lebt und schreibt zwis­chen Frankre­ich und Deutsch­land. Neben dem Stuttgart­magazin Lift blog­gt sie auf Gedanken­grün über Fem­i­nis­mus, Poli­tik und Poesie.

Hannahs Literaturtipps: 

Fix­po­et­ry, Ein offen­er Brief an den Kiepen­heuer-Witsch-Ver­lag: https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kolumnen/2020/offener-brief-an-den-kiepenheuer-witsch-verlag-bzgl-der-reaktion-auf-die-kritik-an-till-lindemanns

Dig­i­tales Deutsches Fraue­nar­chiv: “Frauen im Netz. Über Sprachge­walt und gewaltvolle Sprache”: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/blog/frauen-im-netz-ueber-sprachgewalt-und-gewaltvolle-sprache

Edi­tion F., Kristi­na Lunz, “Bei Gewalt gegen Frauen geht es immer um Macht”: https://editionf.com/bei-gewalt-gegen-frauen-geht-es-immer-um-macht/

#Unhate­Women Kam­pagne: https://www.unhate-women.com/de/

Bun­desver­band Frauen­ber­atungsstellen und Frauen­notrufe, Frauen gegen Gewalt: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/aktuelles.html

Yuval Noah Hararis: “Eine kurze Geschichte der Men­schheit”, Pan­theon Ver­lag, 2015

Quellen

https://www.gewaltinfo.at/fachwissen/formen/sexualisiert/
https://www.monopol-magazin.de/was-darf-die-kunst-zeigen
https://www.unhate-women.com/de/
https://twitter.com/Kristina_Lunz/status/1247124555233140736
https://www.sophiahoffmann.com/warum-aus-nein-heisst-nein-ein-ja-heisst-ja-werden-muss/
https://de.wikipedia.org/wiki/Kunstfreiheit

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