Die philosophischen Implikationen der Coronakrise

von Dr. Moritz Kirchner

Die ungekürzte Ver­sion dieses Beitrags wurde Anfang April auf moritz-kirchner.de veröffentlicht.

Die Coro­na-Pan­demie wirft ver­schiedene gedankliche Her­aus­forderun­gen auf, da sie bish­erige Gewis­sheit­en erschüt­tert, neue Dilem­ma­ta aufwirft und beste­hende ver­schärft — weil sie in sich wider­sprüch­lich und kom­plex ist, und weil sie auf­grund ihrer tief­greifend­en Auswirkun­gen sich wahrschein­lich auch fun­da­men­tal auf unser Denken auswirken wird. Welche Auswirkun­gen hier zu erwarten sind, und welche philosophis­chen Imp­lika­tio­nen sich schon jet­zt durch die Coro­n­akrise ergeben, wird nach­fol­gend erläutert.

Quelle: Anna Shvets via pexels.com

Der Kan­tian­is­mus der Krise
In Deutsch­land und Europa haben wir uns in starkem Maße  als Anhänger Immanuel Kants erwiesen. Denn Kants kat­e­gorische Imper­a­tiv, dass man stets so han­deln möge, dass das eigene Han­deln all­ge­meines Gesetz wer­den könne, zeigt sich daran, dass der Bitte der Regierung an die Bevölkerung, soziale Kon­tak­te auf das Nötig­ste zu beschränken, weitest­ge­hend nachgekom­men wur­den. Eben­so lehrt Kant, dass die Würde des Men­schen wesentlich in seinem Instru­men­tal­isierungs-ver­bot beste­ht. Das bedeutet: Der Men­sch darf stets Zweck, aber niemals Mit­tel zum Zweck sein. Zumin­d­est bish­er wurde dem Schutz von Men­schen­leben die höch­ste Pri­or­ität eingeräumt. Auch util­i­taris­tis­che Über­legun­gen wie die, dass man eben einige Tote mehr für mehr Frei­heit­en oder eine Wirtschaft­ser­hol­ung in Kauf nehmen müsse, waren und sind in Deutsch­land bish­er nicht ein­mal diskurs­fähig. Das Beispiel des tex­anis­chen Vize­gou­verneurs, der sich für die Wirtschaft opfern würde, erzeugt in Europa nur Kopf­schüt­teln. Ein der­ar­tig util­i­taris­tis­ches Denken ist uns also in der exis­ten­ziellen Krise fremd.

Denn dass es bei exis­ten­ziellen Fra­gen nicht nur keine ein­deuti­gen, son­dern sog­ar wider­sprüch­liche Anforderun­gen gibt, kön­nen viele Men­schen kaum aushal­ten. Dies aber wird auch unser grundle­gen­des Ver­ständ­nis des Staates transformieren.

Das Pan­demie-Para­dox: Ein­er­seits Eindäm­mung, ander­er­seits Resistenz
Die Pan­demie selb­st bringt allerd­ings ein beson­deres Para­dox her­vor — näm­lich, dass es ein­er­seits wün­schenswert ist, dass möglichst wenig Men­schen sich infizieren sollen, um Men­schen­leben zu ret­ten und großes Leid zu ver­mei­den.
Ander­er­seits ist es aber dur­chaus auch wün­schenswert, dass Men­schen sich immu­nisieren und eine entsprechende Her­den­im­mu­nität ein­tritt. Das heißt, es gibt grundle­gend kon­fligierende Anforderun­gen. Erschw­erend kommt hinzu, dass eine Fein­s­teuerung über­haupt nicht möglich ist, da erstens alle Maß­nah­men nur mit Zeitverzögerung wirken, zweit­ens alles men­schliche Ver­hal­ten und die konkreten Infek­tions­ket­ten (noch) nicht vorher­sag­bar sind und drit­tens auch die konkreten Kapaz­itäten des Gesund­heitssys­tems nicht genau bez­if­fer­bar sind, weil das Per­son­al der wesentliche Eng­pass wer­den wird.
Das bedeutet, dass wir uns an diese wider­sprüch­lichen simul­ta­nen Ziel­stel­lun­gen gewöh­nen wer­den müssen. Dies wird viele Men­schen gedanklich über­fordern. Denn dass es bei exis­ten­ziellen Fra­gen nicht nur keine ein­deuti­gen, son­dern sog­ar wider­sprüch­liche Anforderun­gen gibt, kön­nen viele Men­schen kaum aushal­ten. Dies aber wird auch unser grundle­gen­des Ver­ständ­nis des Staates trans­formieren. Denn ein­er­seits zeigt sich, dass er nicht alle Men­schen schützen kann. Es wird offenkundig, dass der Staat nicht ein­deutig han­deln kann. Und dass er gle­ichzeit­ig Garant und Begren­z­er grundle­gen­der per­sön­lich­er und bürg­er­lich­er Frei­heit­en ist. Dieser sub­stanzielle Ver­trauensver­lust in den Staat wird wesentlich eine Folge des Pan­demie-Para­dox­es sein.

Trilem­ma Men­schen­leben, lib­erale Demokratie und Wirtschaftswach­s­tum
Doch es ist nicht nur dieses Pan­demie-Para­dox, welch­es uns gedanklich zu schaf­fen machen wird. Son­dern es zeigt sich zunehmend auch ein weit­er­er kom­plex­er Zielkon­flikt, welch­er unsere Ambi­gu­i­tät­stol­er­anz fordert. Denn die Bewäl­ti­gung der Fol­gen der Coro­n­akrise erscheint immer wie ein Trilem­ma mit den drei Polen Men­schen­leben, Wirtschaft und lib­eraler Demokratie. Ein Trilem­ma bedeutet, dass man immer nur zwei von drei Sachen haben kann, aber eben nicht alle drei. Was genau aber nun geopfert wird, ob Men­schen­leben, lib­erale Demokratie oder die Wirtschaft, hängt natür­lich stark von den jew­eili­gen gesellschaftlichen Prä­gun­gen und Wertvorstel­lun­gen ab.
Die chi­ne­sis­che Vari­ante der Pan­demiebekämp­fung ist, Men­schen­leben und Wirtschaft zu schützen, unter völ­liger Inkauf­nahme von Selb­st­bes­tim­mung und Bürg­erin­nen- und Bürg­er­recht­en. Die Preis­gabe der lib­eralen Demokratie ist für Sie allerd­ings ger­ing, denn Chi­na war ja auch schon vorher eine Dik­tatur, in der ins­beson­dere indi­vidu­elle Rechte wenig gel­ten.
Die lib­erale Demokratie und die Wirtschaft intakt zu lassen und dafür im Zweifel Men­schen­leben zu opfern ist der schwedis­che Weg und war der britis­che Weg, die Strate­gie der Her­den­im­mu­nität. Natür­lich stellt sich hier die Frage, wie viele Opfer eine Gesellschaft aushält. Zudem hat bis­lang kein Land kon­se­quent diesen Weg nach­haltig beschrit­ten, wahrschein­lich, weil er poli­tisch nicht durch­halt­bar ist und zu hohes unmit­tel­bares Leid verur­sacht.
Die Men­schen­leben und die lib­erale Demokratie halb­wegs intakt zu lassen, aber dafür die Wirtschaft nach­haltig zu schädi­gen, scheint etwa dem weit­ge­hend europäis­chen Weg zu entsprechen. Denn zwar gibt es Aus­gangssper­ren oder Kon­tak­tver­bote, aber den­noch kön­nen die Par­la­mente mitregieren, und bes­timmte Bürg­er­rechte wie die Ver­fü­gung über indi­vidu­elle Handy­dat­en und der Track­ing-Verzicht sind noch in Kraft. Es gibt zumin­d­est ein erkennbares Bemühen, die Demokratie und rechtsstaatliche Prinzip­i­en in Kraft zu lassen. Dies zeigt sich schon daran, dass eine Zwangsin­stal­la­tion ein­er Coro­na-App bish­er in Europa trotz der voran­schre­i­t­en­den Epi­demie nicht mehrheits­fähig und durch­set­zbar ist.

Quelle: Anna Shvets via pexels.com

Stärkung der Sol­i­dar­ität und des Repub­likanis­mus
Die Coro­na-Pan­demie ist ein abso­lut her­ber Rückschlag für den Indi­vid­u­al­is­mus, welch­er die let­zten Jahrzehnte ins­beson­dere west­liche Gesellschaften geprägt hat. Denn es zeigt sich ganz offenkundig, dass wir eben doch nicht so frei und autonom sind, wie wir dacht­en. Zumin­d­est aber, dass Frei­heit und Autonomie als zen­trale Ver­sprechen des Indi­vid­u­al­is­mus keine überzeitliche Selb­stver­ständlichkeit sind.
Durch die eben­falls para­doxe Auf­forderung, anderen nah zu sein, indem man ihnen fern bleibt, zeigt sich ein­drucksvoll, wie sehr wir voneinan­der abhängig sind und das Leben jed­er Per­son das ein­er anderen bee­in­flusst. Die durch die Pan­demie erneut offen­gelegte, inten­sive und exis­ten­zielle gegen­seit­ige Inter­de­pen­denz eröffnet natür­lich auch Möglichkeit­en. Hinzu kommt, dass im gesellschaftlichen Bewusst­sein die Berufe, die jet­zt bei der Bewäl­ti­gung der Pan­demie an vorder­ster Front ste­hen, wie Verkäuferin­nen und Verkäufer, Kranken­schwest­ern und Krankenpfleger, LKW-Fahrerin­nen und LKW-Fahrer, eine beson­dere Wertschätzung erfahren, was eine wichtige Voraus­set­zung für deren Aufw­er­tung, auch materielle Aufw­er­tung, ist.
Jedoch erscheint es sehr wahrschein­lich, dass diese Sol­i­dar­ität eine nation­al ver­fasste Sol­i­dar­ität sein wird und daher eher einen neuen Repub­likanis­mus befördern wird. Das heißt, dass das Gefühl ein­er gegen­seit­i­gen Verpflich­tung und Iden­ti­fika­tion zwis­chen dem Staat und seinen Bürg­erin­nen und Bürg­ern gestärkt wird. Die staatlich koor­dinierten Rück­hol­ungsak­tio­nen für die Staats­bürg­er von Indus­tri­es­taat­en, die vie­len Frei­willi­gen, welche die Bun­deswehr unter­stützen wollen, die nicht abge­bügelte Debat­te um einen Coro­na-Soli, aber eben auch die Begren­zung der Hil­fen für Geflüchtete sind hier klare Indizien für eine Renais­sance des Republikanismus.

Die Coro­n­akrise hat jedoch gezeigt, dass — wenn es hart auf hart kommt — nach wie vor die Nation­al­staat­en die bes­tim­mende Instanz sind; und dass durch geschlossene Gren­zen erneut nation­al frag­men­tierte Gesellschaften entste­hen können.

Der große Ver­lier­er der Coro­n­akrise: Der Kos­mopolitismus
Der Auf­schwung des Repub­likanis­mus hat dann ein entsprechen­des Spiegel­bild, näm­lich den nach­halti­gen Abge­sang auf den Kos­mopolitismus, die Vorstel­lung ein­er Welt­ge­sellschaft und Welt­bürg­er­schaft. Diese war auf­grund des Unbe­ha­gens ins­beson­dere der Fol­gen der ökonomis­chen und kul­turellen Glob­al­isierung — beispiel­sweise durch den Zuwachs an Geflüchteten in Europa- unter Druck. Eben­so gab und gibt es schon vor der Coro­n­akrise Zweifel an der Steuerungs-fähigkeit und Inklu­siv­ität mul­ti­lat­eraler Insti­tu­tio­nen wie der Europäis­chen Union. Jedoch braucht eine Welt­ge­sellschaft solche Insti­tu­tio­nen und Kos­mopolitismus zeigt sich am stärk­sten in offe­nen oder irrel­e­van­ten staatlichen Gren­zen. Die Coro­n­akrise hat jedoch gezeigt, dass  — wenn es hart auf hart kommt — nach wie vor die Nation­al­staat­en die bes­tim­mende Instanz sind; und dass durch geschlossene Gren­zen erneut nation­al frag­men­tierte Gesellschaften entste­hen kön­nen. Und es wird sich das Nar­ra­tiv etablieren, dass bei einem weniger an Glob­al­isierung und Kos­mopolitismus auch Pan­demien uns deut­lich weniger tre­f­fen wür­den. Nach mehr als drei Jahrzehn­ten Glob­al­isierung und Kos­mopolitismus kön­nte das philosophis­che Pen­del jet­zt also zurück zu den Nation­al­staat­en schlagen.


Moritz Kirch­n­er ist Dok­tor der Poli­tik­wis­senschaften, Diplom-Psy­chologe, sowie Ver­hal­tens- und Kom­mu­nika­tion­scoach. Sein Inter­esse gilt außer­dem der Sprache und Rhetorik. Alle seine Beiträge, Inter­views, sowie Infor­ma­tio­nen über Webina­re sind auf sein­er Web­site zu finden.

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