BERLIN, GESELLSCHAFT, KUNST
Der Tod der freien Kunst in Berlin: Das Ende der Ära vom Kunsthaus Tacheles und der Cuvrybrache
byMERCY FERRARS

01/08/2020
Was in Berlin weicht, sind nicht nur Clubs, Kneipen, autonome Kollektive oder Kreativität. Es sind auch nicht nur irgendwelche solche Orte. Es sind diejenigen Orte, die mindestens seit der Wende das Berliner Lebensgefühl definierten. Mit dem Kunsthaus Tacheles weicht ein weiterer Freiraum der Gentrifizierung. Unsere Autorin über die Verdrängung und den Verlust.
Ich bin ein Kind des Westens, aufgewachsen in einer Kleinstadt, in der selten etwas Bedeutsames passierte. Meine Kindheit war ziemlich behütet, und selbst die Metalkneipe, in der ich jeden Freitagabend mit meinen Freunden rumhing, ist 10 Jahre später betrachtet eben auch nur der Keller eines gutbürgerlichen Restaurants am Marktplatz gewesen. Der Rockclub in Stuttgart, in den es mich mit 20 trieb, war nicht mehr als ein unscheinbarer Raum in einem Einkaufszentrum. Zuhause war alles sauber, alles repariert. Zuhause standen Häuser mit blendenden Glasfassaden oder nichtssagende Raufaserklötze aus den Sechzigern. Zuhause fuhr ich auf glatten, dunkelgrauen Straßen und aß Eis hinterm Sportheim am Fluss im Dorf. Viel passiert ist nicht.
Natürlich war ich überwältigt, als ich 2010 das erste Mal durch Berlin schlenderte. Und so wie die meisten anderen Kinder des Westens faszinierte mich vor allem das östliche Berlin, in dem der Geist der Zeit nach dem Mauerfall auch knapp 20 Jahre später noch zu spüren war, wenn auch sicherlich nicht annähernd so bunt wie in den Neunzigern. Ich schoss Fotos von den Schusslöchern in den Altbauten in Kreuzberg, an denen ich auf dem Weg zur U‑Bahn vorbeilief – das „NO PHOTOS!“-Schild gekonnt ignorierend – und entwickelte ein fragwürdiges Faible für grell pinke Abflussrohre. Ein bisschen cheesy, ein bisschen peinlich. Aber es war halt anders: Berlin war kaputt. Berlin war rau. Berlin war unhöflich. Und als ich das erste Mal aus Berlin heimkehrte, empfand ich die makellose Oberfläche meiner Heimatstadt als ziemlich störend. Ja, störend.

2012, während meines inzwischen dritten Besuches in Berlin, stand ich dann schließlich das erste Mal vorm Tacheles in der Oranienburger Straße, dessen Adresse ich mir zuvor ergoogelt hatte – natürlich ohne einen blassen Schimmer um die eigentliche Bedeutung dieses Gebäudes. Ich hatte außerdem meine Mama im Schlepptau, der ich ein Gefühl zeigen wollte, das ich im Südwesten vergeblich suchte. Es war kurz bevor das Gebäude zwangsgeräumt werden sollte, aber das wusste ich natürlich auch nicht.

Das Tacheles fühlte sich an wie eine andere Welt. Mama fühlte sich schnell unwohl, und ich spürte, wie mir die behütete Kindheit im Westen im Nacken saß. Um ehrlich zu sein, war ich vom Tacheles mit seinen autonomen Künstlerateliers, den Autowracks im sandigen Hinterhof, und der Bedeutungsschwere, die vom Gebäude ausging, tatsächlich ein bisschen eingeschüchtert. Ich kannte das als Westkind einfach nicht. Nachdem wir uns das Gebäude angesehen und ich auf der unglaublich weitläufigen Brachfläche hinter dem Tacheles, die durch eine Teilsprengung des Gebäudes in den 80ern entstanden war, einem Traum nachjammerte, der nicht meiner war, schoss ich noch ein Foto vom bunten “Tacheles”-Schriftzug am Eingang und irgendwie atmeten sowohl Mama als auch ich erst wieder aus, als wir wieder auf der Straße standen.






Das Tacheles 2012. © alle Aufnahmen: Mercy Ferrars Photographer
Aber irgendwas war im Tacheles auch mit mir passiert, auch wenn ich das damals noch nicht so richtig verstanden hatte – Begriffe wie Autonomie, Kapitalismus oder Anarchie waren für mich zu jener Zeit Fremdwörter. Komischerweise entwickelte ich nach diesem ersten und einzigen Besuch eine seltsame Melancholie für dieses Gebäude, welches mich gleichermaßen faszinierte und mir ein bisschen Angst machte, und hoffte, es würde für immer da stehen, inmitten des zu Tode gentrifizierten Stadtteils zwischen Friedrichstraße und Oranienburger Straße, zwischen sauberen Häuserfassaden, öden Einzelhandelsgeschäften und touristischen Restaurantketten.
Inzwischen lebe ich seit mehr als sieben Jahren in Berlin. Als ich letztens mal wieder mit der Straßenbahn am Tacheles vorbeifuhr, war es nahezu vollständig von Baugerüsten bedeckt. Der markante Schriftzug an der Außenwand des Gebäudes — “HOW SOON IS NOW?” — und sämtliche an der Wand angebrachten Objekte fehlten vollständig. Das alte Schriftdisplay über dem ehemaligen Kino, welches jahrelang noch die Titel der Filme, die hier vor der Schließung zuletzt gezeigt wurden, auswies, fehlte ebenfalls. Der bunte TACHELES-Schriftzug am Eingangstor wurde durch “Am Tacheles” ersetzt. Dahinter ragt imposant und beklemmend ein gigantisches Neubaugerüst in die Luft. Das Tacheles wird gentrifiziert und in ein modernes Stadtquartier mit Einkaufszentrum, Luxuswohnungen und ‑büros verwandelt. Mit dem Verlust des einst autonomen Kunsthauses verliert Berlin auch ein Stück seines Traums.

Wie das Tacheles zu dem wurde, was es war
Im Jahre 1909 als “Friedrichstraßenpassagen” von Franz Ahrens als fünfgeschossiger Stahlbetonbau mit Kuppel eröffnet, galt das Gebäude in seinen frühesten Tagen als zweitgrößte Einkaufspassage Berlins, welche die Friedrichstraße mit der Oranienburger Straße verband. Darüber hinaus galt er als der letzte Passagenbau in Europa. Bis 1914 konnte sich das Kaufhaus halten und wurde anschließend noch vor dem ersten Weltkrieg zwangsversteigert. Ab 1928 wurde das Gebäude als “Haus der Technik” von der AEG (‚Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft‘, gegründet 1883) genutzt. Unter den Nationalsozialisten zog die DAF (Deutsche Arbeitsfront) und das Zentralbodenamt der SS ein. Während der DDR diente das Haus den unterschiedlichsten Anmietern wie Einzelhändlern oder Handwerksleuten, darunter auch das Kino Camera. Ab 1980 wurde das Gebäude aufgrund mehrerer Statikgutachten teilweise abgerissen. Nach dem Mauerfall besetzte das Tacheles Künstlerkollektiv schließlich im Februar 1990 den letzten noch existierenden Gebäudeteil und verhinderte so den vollständigen Abriss.

“Unser Motto war: Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruine”, schreibt Fotograf Andreas Rost, der von 1990 bis 1993 in der besetzten Ruine gewohnt hatte. Die ersten Jahre in der Ruine waren hart. Rost berichtet von Sommern der Anarchie und von harten Wintern ohne Strom und fließend Wasser. Aber er spricht auch vom Freiraum — und vom Freidenken des DDR-Regimes, welches nach Orwell‘schen Paradigmen regierte.
Vor seiner Schließung war das Tacheles dann ein Kulturzentrum, welches unter anderem das Kino “High End 54”, einen Salon, das “Café Zapata” und rund 30 Künstler*innenateliers, Ausstellungsflächen und Verkaufsräume für zeitgenössische Kunst beherbergte. Im Zapata fanden unter anderem Konzerte und Lesungen statt. Gen Ende des ersten Zweitausenderjahrzehnts fand schließlich ein großer Umbruch statt: Der vom Tacheles e.V. in den späten Neunzigern ausgehandelte Mietvertrag lief Ende 2008 aus, 2011 fand schließlich eine Zwangsversteigerung statt. Gegen eine Zahlung von einer Million Euro wurden das Kino, das Erdgeschoss und der Hinterhof geräumt; die Künstler*innen verblieben jedoch im Gebäude. Im September 2012 wurde das Tacheles schließlich endgültig geräumt. Als ich im Tacheles zu Besuch war, war es also bereits nur noch ein Schatten seiner selbst. Nach der Räumung stand es lange still ums Tacheles. Ein wenig war es aus meiner Erinnerung verschwunden, aber ich lächelte jedes Mal, wenn ich an dem nun stillen, aber bunten Haus in Mitte vorbeifuhr. Ein letzter Rest des “Berliner Traums” — und irgendwie gab es da die Hoffnung, dass die Stadt nicht zulassen würde, dass das Tacheles gentrifiziert würde. Aber hey, “die Stadt” hat vor einigen Jahren auch Teile der East Side Gallery abreißen lassen, um Luxusappartements zu bauen. Heilig zu sein scheint ihr wenig. “Als die Polizei das Gebäude 2012 räumte, ging ein Traum kaputt. Freiräume wie das Tacheles haben Berlin berühmt gemacht und verschwinden jetzt. Warum soll noch jemand hierherkommen, wenn es nur noch Luxuswohnungen und Shoppingcenter gibt?”, schreibt Rost 2016 in der Vice.
Gentrifizierung in Berlin: Wenn kein Gefühl mehr bleibt

Veränderung ist ein natürlicher Teil vom Lauf der Zeit. Wo Zeit vergeht, ändern sich auch Dinge, Orte, Menschen und Kulturen. Gentrifizierung ist jedoch ein Strukturproblem, welches lokale Nachbarschaften von charakteristischen Besonderheiten in makellose, glatte und oftmals beliebig austauschbare Gegenden verwandelt und dabei Menschen und Geschäfte, die sich die steigenden Mieten in neu- oder umgebauten Luxushäusern nicht leisten können, verdrängen. Manchmal nur an den Rand der Stadt, manchmal an den Rand der Gesellschaft, und manchmal auch über den Rand ihrer gesamten Existenz hinaus.
“Der Begriff Gentrifizierung wurde in den 1960er Jahren von der britischen Soziologin Ruth Glass geprägt, die Veränderungen im Londoner Stadtteil Islington untersuchte. Abgeleitet vom englischen Ausdruck „gentry“ (= niederer Adel) wird er seither zur Charakterisierung von Veränderungsprozessen in Stadtvierteln verwendet und beschreibt den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer statushöheren (finanzkräftigeren) Bewohnerschaft, der oft mit einer baulichen Aufwertung, Veränderungen der Eigentümerstruktur und steigenden Mietpreisen einhergeht. Im Zusammenhang mit dem Aufwertungsprozess erfolgt oft die Verdrängung sowohl der alteingesessenen, gering verdienenden Bevölkerung als auch von langansässigen Geschäften, die dem Zuzug der neuen kaufkräftigeren Bevölkerung und deren entsprechend veränderten Nachfrage weichen müssen. In der Regel sind es innerstädtische Viertel, die von Gentrifizierung betroffen sind.”
Deutsches Institut für Urbanistik
In Berlin scheint die Gentrifizierung schneller und drastischer voran zu schreiten als anderorts. Das mag vielleicht an der Vielzahl von Brachflächen oder Bauruinen liegen, die mindestens seit der DDR lieblos vor sich hin verwesen. Der berühmte Blog Abandoned Berlin hat nicht umsonst unzählige verlassene Orte besucht, um die sich keiner zu kümmern scheint – solange man dort kein Kapital wittert. Und manchmal nicht einmal dann. Vielleicht liegt es aber auch an der Stadt, deren Kultur und Mentalität sich in den letzten Jahren doch auch stark verändert haben. Es ist eben immer ein Zusammenspiel — nie bloß ein Ort, nie bloß ein Gedanke, sondern eine Wechselwirkung aus Stadt und Mensch, die sich gegenseitig beeinflussen. Positiv wie negativ. Für Neugierige hat die ze.tt in einem Artikel zusammengetragen, wie sich einige Orte in Berlin allein in den letzten 10 Jahren verändert haben.
Brachen sind ein Relikt der Vergangenheit.

Wenn man vor 10 Jahren über die Oberbaumbrücke in Ostberlin geschlendert ist, hat einen kurz vor Kreuzberg der Ausblick auf die Cuvrybrache und die Cuvrygraffitis willkommen geheißen. Die Cuvrygraffitis auf dem Weg in den ehemaligen Kreuzberger Club Magnet (heute “Musik und Frieden”) waren für mich was der über allem emporragende Fernsehturm in Mitte ist: ein Symbol der Wiedererkennung, der inoffiziellen Bezirksidentität. 2014 wurden die Cuvrygraffitis mit Erlaubnis des italienischen Street-Art-Künstlers Blu übermalt. Anstelle der Kunstwerke, die sich seit 2007/2008 über die großen Brandwände zweier Kreuzberger Altbauten zogen, liegt jetzt schwarze Farbe, auf einer Hauswand ist vom ursprünglichen Slogan “Reclaim your city” nur noch “Your City” übrig geblieben. Und das nicht einfach so. Der Prozess des Übermalens als auch der ausradierte erste Teil des Slogans waren ein Protest sowohl gegen die Gentrifizierung Berlins, wie auch das Kapitalschlagen großer Investoren aus der Berliner Street Art, die an anderen Stellen zum Großteil aus den Kiezen verdrängt wird — “wie die verblassende Ära Berlins, die sie repräsentierten”, schrieb der Berliner Kulturwissenschaftler Lutz Henke einst 2014 in der Berliner Zeitung. Das Übermalen der berühmten Graffitis ist demnach auch ein Statement an Berlins verfehlte Stadtplanung und den nachlässigen Umgang der Stadt mit ihrer Kunst, ihren Künstler*innen und dem Freiraum. Übrig bleibt eben nur noch “your city” und nicht unsere Stadt – und damit müsst ihr leben. Wo einst Bedeutung war, ist jetzt schwarze Leere. Eine Botschaft, so leise, dass sie in ihrer Stille laut dröhnt. Der TAZ sagte Henke 2014 im Interview:
“Es gibt eine permanente Verwertung der Street Art – von Seiten der Stadt Berlin, von der Stadtvermarktung und der Kiezverwaltung zum Beispiel. Im Bereich der Street Art ist eine Industrie entstanden, die einer Verwertungslogik gehorcht; spätestens, seit es Street Art-Reiseführer gibt oder Graffiti und Street Art im Stadtmarketing aufgegangen sind. Dass wir uns nicht falsch verstehen: Diese Kunst ist da, um gesehen zu werden. Die Kunst aber einerseits zu verwerten, es aber andererseits politisch nicht zu schaffen, die Voraussetzungen für unabhängige Kunst in der Stadt zu erhalten und dafür zu sorgen, dass diese Kunst zukünftig Raum hat, ist widersinnig. Es sind ähnliche Phänomene, wie sie die Koalition Freie Szene auch erlebt: Wir tragen aktiv zum Mehrwert der Stadt bei, aber es kommt nichts zurück.”
„Eine Art ’Kill your darlings’“, TAZ, Dezember 2014
Ich liebe Brachen. Weshalb?
Ich bin gewiss keine Expertin für den Berliner Städtebau. Ich bin Zugezogene, die die stadtplanerische Veränderung Berlins und die Gentrifizierung vor Ort erst seit den letzten 10 Jahren selbst miterlebt. Aber weite Brachflächen, bemalte Brandwände und die ungewohnten lückenhaften Perspektiven, die sich dadurch ergeben, haben das Berliner Gefühl 2010 für mich definiert. Vielleicht ein Ausdruck der Leere nach dem Mauerfall, der durch zeitgenössische Kunst und neuen Botschaften gefüllt wurde, anstatt mit glatten austauschbaren Häusern. Vielleicht, dass alles ein bisschen anders lief als in der heilen Welt, in der ich aufgewachsen bin. Dass es rau und holprig war, in alten Bauruinen spazieren zu gehen und weit weg von der ermüdenden Welt des Konsums und des transparenten Glases zu sein, die die jüngsten Designbauten in Berlin dominieren (zu sehen unter anderem in diesem Artikel). Mit jeder gefüllten Brache, jedem gesäuberten Graffiti und jedem neuen Kaufhaus zerstört sich die Stadt selbst.

Die Kunst und die Freiheit sind verdrängt.
Was in Berlin weicht, sind nicht nur Clubs, Kneipen, autonome Kollektive oder Kreativität. Es sind auch nicht nur irgendwelche solche Orte. Es sind diejenigen Orte, die mindestens seit der Wende das Berliner Lebensgefühl definierten. Mit dem Tacheles, mit den Untergrundkneipen, und mit den Kreativen verschwindet also auch das Lebensgefühl, das die Welt nach Berlin zieht. Geschichte wird überschrieben, Kultur durch Kommerz ersetzt. Mitte ist tot, das ist schon seit längerer Zeit bekannt. Bald ist es ganz Berlin. Erst wenn das hundertste glattpolierte Einkaufszentrum auch noch den letzten Freiraum ersetzt hat und Berlin einfach ist wie jede andere deutsche Großstadt, wird es sich wehmütig den Bildbänden der Vergangenheit zuwenden. Solange wird die Fassade allerdings weiterhin munter makellos poliert.