Denken im Wandel: Postkoloniale Diskurse der Gegenwart

Es ist nun etwa 10 Wochen her, dass George Floyd von US-amerikanis­chen Polizis­ten ermordet wurde. Das Video vom 25. Mai 2020 löste weltweit die bis dato wohl größten Anti­ras­sis­mus-Proteste aus. In den let­zten zwei Monat­en wurde sich sol­i­darisiert, demon­stri­ert und vieles neu gedacht. Die Proteste richt­en sich vor allem gegen die Kolo­nial­is­mus­geschichte viel­er Gesellschaften und gegen die Gegen­wär­tigkeit von Ras­sis­mus. Im Mit­telpunkt der Debat­ten ste­ht dabei immer wieder die Frage: Wie kann eine Gesellschaft diskri­m­inierende Struk­turen über­winden und dabei bewusst gegen Ras­sis­mus vorge­hen? Doch auch wenn hier­auf noch lange keine Lösun­gen gefun­den wur­den, scheint sich die öffentliche Aufmerk­samkeit allmäh­lich wieder anderen The­men zuzuwen­den. Zeit also für ein Zwis­chen­faz­it. Wie ste­ht es um postkolo­niale Gegenwartsdiskurse? 

Black Lives Matter! — Der Kern der Proteste 

Die Forderung der Bewe­gung ist im Grunde: Schwarze Men­schen sollen in allen gesellschaftlichen Kon­tex­ten ein bedin­gungs­los diskri­m­inierungs­freies Leben führen kön­nen. Da die gesellschaftliche Real­ität jedoch eine andere ist, richt­en sich die Proteste gegen in den All­t­ag und die Gesellschaft eingeschriebene Ras­sis­mus-Struk­turen. Um diese aufzudeck­en und über­winden zu kön­nen, sollte jed­er eine nicht nur ras­sis­mus­freie, son­dern viel mehr anti-ras­sis­tis­che Hal­tung ein­nehmen. Wie dies im Konkreten ausse­hen kann, zeigt das gegen­wär­tige Spek­trum an Protest­for­men, Debat­ten und Lösungsan­sätzen. Von geplanten Straßenum­be­nen­nun­gen, über den Fall von Stat­uen bis hin zur Idee, die Polizei gän­zlich aufzulösen – die gegen­wär­ti­gen Proteste stoßen neue, pro­gres­sive Denkweisen an. Dabei sollte man nicht vergessen, dass die kolo­niale Geschichte des West­ens eine lange und die ver­meintlich postkolo­niale Gegen­wart eine kurze ist.

Koloniale Geschichte — Postkoloniale Gegenwart?

Vor rund 500 Jahren, gegen Ende des 14. Jahrhun­derts, begann mit der “Ent­deck­ung” Amerikas die Kolo­nial­is­mus­geschichte Europas. Die Grund­la­gen für diese glob­al struk­turi­erte, sys­tem­a­tis­che Kolo­nial­isierung lagen in der durch den Frühkap­i­tal­is­mus gewach­se­nen Macht europäis­ch­er Königshäuser. Die durch den Übersee­han­del mit dem asi­atis­chen Raum zu Geld gekomme­nen Län­der Spanien und Por­tu­gal finanzierten so erste Erkun­dungs­fahrten, um eine west­liche Han­del­sroute zu erschließen. Als jedoch statt einem neuen Seeweg in den asi­atis­chen Raum ein neuer Kon­ti­nent ent­deckt wurde, etablierte sich seit­ens der west­lichen Mächte eine Den­klogik, die sich lange Zeit nicht ändern sollte: Die der eige­nen uneingeschränk­ten Über­legen­heit. Was darauf fol­gte, war die gewalt­same Kolo­nial­isierung der Welt durch europäis­che Län­der, welche Sklav*innen und Güter zur eige­nen Gewin­n­max­imierung im soge­nan­nten Dreieck­shan­del zirkulieren ließen. Dieser Zus­tand hielt mehr oder weniger 400 Jahre an. Ein Großteil der Entkolo­nial­isierung fand erst nach dem Zweit­en Weltkrieg statt. Im soge­nan­nten „Afrikanis­chen Jahr“ erk­lärten sich 1960 ins­ge­samt 18 afrikanis­che Län­der, darunter Sene­gal, Nige­ria oder auch Kon­go von ihren Kolo­nialmächt­en unab­hängig. Allein das Größen­ver­hält­nis bei­der Abschnitte – 400 Jahre gegen 60 Jahre – zeigt, dass unsere Gegen­wart nur bed­ingt postkolo­nial sein kann.Nach wie vor gibt es sowohl inner­halb west­lich­er Gesellschaften als auch in glob­alen Abhängigkeitsver­hält­nis­sen kolo­niale Macht­struk­turen. Es ist die Auf­gabe von weißen Men­schen, diesen aktiv ent­ge­gen­zutreten, statt sie zu repro­duzieren. Die Vorstel­lung ein­er postkolo­nialen Gegen­wart ist daher vielmehr Hoff­nung als Real­ität. Die wohl größte und ein­deutig­ste dieser kolo­nialen Gegen­wartsstruk­turen ist der Ras­sis­mus. Wird ein Schwarz­er Men­sch auf­grund sein­er Haut­farbe von einem weißen Men­schen diskri­m­iniert, so fällt let­zter­er zurück in die kolo­niale Den­klogiken. Doch diese indi­vidu­elle und klar erkennbare Ebene ist nur eine von vie­len. Denn wenn nun, wie im Falle Floyds, die Polizei als staatliche Insti­tu­tion Schwarze Men­schen ermordet, so wird struk­tureller und insti­tu­tioneller Ras­sis­mus sicht­bar. Dies wird unter­mauert von ein­er Sta­tis­tik, nach der Schwarze Men­schen in den USA prozen­tu­al dreimal so oft Opfer tödlich­er Polizeige­walt wer­den als weiße Men­schen. Die dahin­ter liegen­den Prob­lematiken sind dabei kom­plex. Sie reichen vom Grund­ver­ständ­nis polizeilich­er Arbeit über das amerikanis­che Waf­fenge­setz bis hin zu Ras­sis­mus fördern­den Denkmustern weißer Bevölkerungss­chicht­en. Ger­ade let­ztere stellen einen so großen Bere­ich dar, dass abseits der Polizeige­walt-Debat­te weit­ere Diskurse ent­standen. Die Liste an zu hin­ter­fra­gen­den Denkmustern ist dabei lang. Dazu gehören unter anderem die durch Stat­uen oder Straßen­na­men man­i­festierte Ehrung kolo­nialer Akteure, das Fes­thal­ten an der Wert­frei­heit von Begrif­f­en wie „Mohr“ oder auch die Bew­er­tung der Farbe Beige als Haut­farbe. Jedes dieser Denkmuster leis­tet dabei seinen mal kleinen, mal großen Beitrag daran, dass ras­sis­tis­ches Denken und Han­deln in Gesellschaften möglich wird. Die an das Auf­brechen dieser Denkmuster geknüpfte Hoff­nung auf eine postkolo­niale Gegen­wart ver­langt dabei nach mehreren Reflek­tion­sebe­nen, wie die Prob­lematik des Whataboutism zeigt. 

Die Problematik des Whataboutism

Inner­halb der gegen­wär­ti­gen Ras­sis­mus-Debat­ten zeigen sich mehrere Argu­men­ta­tion­slin­ien, die dem Whataboutism – also der Ver­rück­ung des Diskurs­es durch Scheinar­gu­mente – zuzuord­nen sind. Die wohl promi­nen­teste von ihnen ist der aus rechts-kon­ser­v­a­tiv­en Kreisen vorge­brachte Slo­gan des All Lives Mat­ter. Die damit ein­herge­hende Imp­lika­tion, dass der Ver­weis auf „all lives mat­ter“ ein Gege­nar­gu­ment zu „black lives mat­ter“ darstellt, ist ein klas­sis­ches Scheinar­gu­ment. Denn im Gegen­satz zu dem Leben weißer Men­schen besitzt das Leben Schwarz­er Men­schen in west­lichen Gesellschaften lei­der nicht die gle­iche gesellschaftliche Stel­lung. Oder anders gesagt: „All lives mat­ter“ kann es nur dann geben, wenn zunächst „black lives mat­ter“ gilt. An dieser Stelle set­zt nun eine weit­er­er Whataboutism an. Dieser erken­nt zwar die Rel­e­vanz der Schwarzen Protest­be­we­gung prinzip­iell an, stellt diese aber im gle­ichen Zuge anderen Prob­le­men gegenüber. Nach dieser Logik sei Black Lives Mat­ter in bes­timmten Kon­tex­ten dur­chaus wichtig, andere Prob­lem­stel­lun­gen wie Recht­sex­trem­is­mus, die Coro­na-Krise oder der Kli­makrise seien im eige­nen Lan­deskon­text jedoch wichtiger. Dabei zeigen sich vor allem zwei Prob­lematiken: Ein­er­seits zeigt diese schein­bare Gegenüber­stel­lung keine Lösungswege für jene Prob­lematiken auf. Ander­er­seits ver­schließt es den Blick auf struk­turelle Verbindun­gen, die zwis­chen den The­men­feldern liegen. Denn sowohl die Coro­na-Krise als auch der Kli­mawan­del ver­stärken bere­its vorhan­dene Ungle­ich­heitsstruk­turen, von der Schwarze Men­schen in beson­der­er Weise betrof­fen sind. So sind Schwarze Men­schen auf­grund man­gel­nder Medi­z­in­ver­sorgung einem bis drei mal höheren COVID19-Infek­tion­srisiko aus­ge­set­zt als weiße Men­schen. In ein­er glob­al ver­net­zten Welt sind struk­turelle Prob­lematiken miteinan­der gekop­pelt und müssen daher miteinan­der gedacht und gelöst wer­den, statt scheinar­gu­men­ta­tiv gegeneinan­der aus­ge­spielt zu werden.

Gesellschaftssysteme nach Luhmann

Luh­manns Gedanken sind hin­sichtlich der gegen­wär­ti­gen Diskurse beson­ders span­nend, weil mit Hil­fe sein­er Sys­temthe­o­rie neue, kon­struk­tive Per­spek­tiv­en abgeleit­et wer­den kön­nen. Die Suche nach der Über­win­dung von Ras­sis­mus ist dabei kein gegen­wär­tiges Phänomen. Denn die Black Lives Mat­ter Bewe­gung ist ent­ge­gen der öffentlichen Wahrnehmung nicht erst mit dem Tod von George Floyd ent­standen. Ihre Ursprünge liegen in ein­er Social-Media-Kam­pagne von 2013. All­ge­meine Proteste gegen Ras­sis­mus in den USA sind tief in der Geschichte des Lan­des ver­ankert. Die USA sind dabei ein Fall von vie­len. Spätestens mit der Pop­u­lar­isierung der Protestkul­tur inner­halb der 1960er wird sich über­all dort wo gesellschaftlich­er Ras­sis­mus auftrifft meist auch dage­gen gewehrt. Ob Mar­tin Luther King oder Nel­son Man­dela, die Lis­ten an Ereignis­sen, Protesten und Namen sind lang. Die gegen­wär­tige Ras­sis­mus-Diskurse knüpfen an die his­torischen Vor­läufer an — teils mit alten, teils mit neuen Forderun­gen. Luh­manns Gesellschaft­s­the­o­rie verdeut­licht, dass die aktuellen Proteste Poten­tial für nach­halti­gen Wan­del haben. Für den Sozi­olo­gen ist die Grund­lage jed­er Gesellschaft Kom­mu­nika­tion. Dem­nach kön­nen nur The­men über die gesprochen und kom­mu­niziert wird gesellschaftliche Rel­e­vanz erhal­ten. Darüber hin­aus gliedert sich nach Luh­mann die Gesellschaft in mehrere Teil­sys­teme, die jew­eils ihre eigene Kom­mu­nika­tion­slogik besitzen. Zu den wichtig­sten Gesellschaftssys­te­men gehörten unter anderem Wirtschaft, Poli­tik und Recht. Im Hin­blick auf die Black Lives Mat­ter Bewe­gung wird vor allem die Kom­mu­nika­tion des poli­tis­chen Sys­tems span­nend. Um die Legit­im­ität des Sys­tems aufrecht zu hal­ten, ist die Poli­tik stets um möglichst großen Kon­sens bemüht. Denn über­tra­gen auf Wäh­ler­stim­men sichert jen­er Kon­sens den Machter­halt des poli­tis­chen Sys­tem ab. Poli­tisch rel­e­vant wer­den The­men daher erst dann, wenn eine Mehrheit der Wäh­ler begin­nt darüber zu kom­mu­nizieren. Ein klas­sis­ches Beispiel dafür ist die Kli­makrise, die erst seit­dem eine bre­ite Mitte der Gesellschaft sie in den Fokus nahm, poli­tis­che Real­ität wurde. In Hin­blick auf die gegen­wär­ti­gen Debat­ten lässt sich dem­nach fol­gen­des ableit­en: Nur wenn die Mitte der Gesellschaft langfristig anhal­tend über die Über­win­dung von ras­sis­tis­chen Struk­turen kom­mu­niziert, reflek­tiert und danach han­delt, wird dies zu poli­tis­chen Verän­derun­gen führen. Da die gegen­wär­tige Sol­i­darisierung weißer Men­schen mit der Black Lives Mat­ter Bewe­gung die bish­er Weitre­ichend­ste ist, steckt in den gegen­wär­ti­gen Debat­ten eine his­torische Chance. Das Reflek­tieren über Sprach­wahl, das Umstürzen von Stat­uen oder auch die Umbe­nen­nung von Straßen sind daher ein guter aber eben nur erster Teil eines lan­gen Kom­mu­nika­tion­sweges. Ihn zu beschre­it­en bedeutet einen dauer­haften kri­tis­chen Umgang mit Ras­sis­mus. Dafür ist es grundle­gend sich auf die Erfahrungswerte, Forderun­gen und Per­spek­tiv­en der Schwarzen Com­mu­ni­ties zu fokussieren.

» Weiße Men­schen tra­gen Ver­ant­wor­tung an jed­er Stelle der Gesellschaft Ras­sis­mus mit zu dekon­stru­ieren. Ein kollek­tives Schweigen oder Vergessen darf nie wieder ein­set­zen. Deshalb: Bleibt aktiv, wach und in Bewegung!«

Tupo­ka Ogette

»Ich habe mal eine Fußball­mannschaft trainiert und immer die Kids abge­holt und zum Train­ing gebracht. Die haben dann live mit­bekom­men, wie ich jedes Mal, mehrmals die Woche ange­hal­ten wurde. Die Kinder waren geschockt, weil sie das noch nie erlebt hat­ten, dass die Polizei so oft das Auto anhält. Für mich ist Racial Pro­fil­ing ein ganz nor­maler Teil meines Lebens.«

Emmanuel Amoako-Jansen

»Es bräuchte ein Fach wie “Soziale Gerechtigkeit”, wo über Ras­sis­mus, Herrschaft­skri­tik und diskri­m­inierende Struk­turen bere­its in den Schulen unter­richtet wird«

Shayli Kar­tal Khozeini

»Wir sind ras­sis­tisch sozial­isiert wor­den. Wie bere­its viele Gen­er­a­tio­nen vor uns. Es ist nicht leicht, diese soziale Brille abzunehmen und eine ras­sis­muskri­tis­che Sichtweise zu entwick­eln. Aber: Es ist nicht unmöglich.«

Tupo­ka Ogette

»Es gab vor uns Schwarze Frauen, die bere­its gekämpft haben, wir sind jet­zt da und es wer­den immer Frauen nachkom­men. Unser Kampf und auch unsere Suche nach Liebe wird nur gemein­sam funk­tion­ieren. Zusam­men sind wir stark.«

Meni­na Morenike Ugwuoke

Weit­er­führende Empfehlun­gen:
Büch­er:
- Deutsch­land Schwarz Weiss — Noah Sow
- Exit Racism — Tupo­ka Ogette
- Black Skin, White Masks — Frantz Fanon

Pod­casts:
- Wakan­dis­che Welle
- The Break­down
- Feuer & Brot

Filme / Serien:
- When They See Us
- Fruit­vale Sta­tion
- I Am Not Your Negro

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- Tupoka Ogette


Bildquellen: pex­els

Ferrars & Fields Magazine 

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