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PHILOSOPHIE, ARCHITEKTUR, LITERATUR

Wie das Panoptikum Gefängnisse auf der ganzen Welt inspirierte

by MERCY FERRARS

12/0/2020

Allsehende Kontrolle

Das Panop­tikum wurde ursprünglich im 18. Jahrhun­dert vom englis­chen Philosophen Jere­my Ben­tham entwick­elt. Ben­tham stellte sich ein kre­is­för­miges Gefäng­nis­ge­bäude vor, in welchem sich die Zellen der Insassen ent­lang der Außen­mauern, rund um einen im Zen­trum angelegten Wach­turm ange­ord­net befind­en. Der zen­trale Turm und die periph­eren Zellen sind so konzip­iert, dass die Insassen zwar gese­hen wer­den, aber selb­st nicht sehen kön­nen — das heißt sie wis­sen nie, ob sie ger­ade beobachtet wer­den. Allein die Möglichkeit der Beobach­tung würde aber, so Ben­thams Vision, dafür sor­gen, dass die Insassen sich jed­erzeit selb­st kon­trol­lieren und diszi­plin­ieren, um zusät­zliche Strafen zu ver­mei­den. Das Wach­per­son­al auf der anderen Seite kön­nte aus dem Turm alle Gefan­genen zu jed­er Zeit im Blick haben — buch­stäblich “allse­hend”, abgeleit­et aus dem griechis­chen panópt(ēs).

Das “Pre­sidio Mod­e­lo” auf der Insel der Jugend in Cuba. 

Zwar wur­den keine panop­tis­chen Gefäng­nisse auf Basis von Ben­thams Entwür­fen gebaut. Eine Vielzahl von Haft- und Iso­la­tion­sein­rich­tun­gen auf der ganzen Welt sind jedoch ein­deutig von Ben­thams Ideen bee­in­flusst wor­den, darunter die psy­chi­a­trische Klinik Padiglione Conol­ly in Ital­ien, das Stat­eville-Strafge­fäng­nis in Illi­nois, USA, und das Pre­sidio Mod­e­lo auf der Insel der Jugend in Kuba. In seinem berühmten Werk Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefäng­niss­es beze­ich­net der franzö­sis­che Philosoph und Sozi­ologe Michel Fou­cault das Panop­tikum als „eine Mas­chine zur Dis­sozi­a­tion der Dyade des Sehens/gesehen wer­den: Im periph­eren Ring wird man völ­lig gese­hen, ohne jemals zu sehen; im zen­tralen Turm sieht man alles, ohne jemals gese­hen zu wer­den.“ Man kön­nte fast behaupten, dass Ben­thams Panop­tikum eine frühe Form des Orwell‘schen Big Broth­er war.

Von panoptischer und synoptischer Überwachung

In der Tat ist Fou­caults Arbeit zu Machtver­hält­nis­sen in der Gesellschaft von zen­traler Bedeu­tung für unser Ver­ständ­nis dafür, wie der architek­tonis­che Entwurf des Panop­tikums die Genese von Macht­tech­nolo­gien – die auch heute noch in kaum abge­wan­del­ter Form in Kraft sind – widerspiegelt.

In Überwachen und Strafen rekon­stru­iert Fou­cault die Entste­hung mod­ern­er Macht­struk­turen – eine Macht, die im Innen­leben des Indi­vidu­ums ange­siedelt ist und vor allem durch nat­u­ral­isierte Diszi­plin­ierung wirkt. In seinem Werk stellt Fou­cault diesem mod­er­nen Macht­sys­tem eine ver­gan­gene Form der Macht ent­ge­gen, die dem Indi­vidu­um von außen, von ein­er ver­ant­wortlichen Autorität – wie einem König — aufgezwun­gen wurde; eine solche Dom­i­nanz wirk­te durch Dro­hung und Ter­ror, wurde jedoch vom Indi­vidu­um inner­lich abgelehnt. Sie verblieb stets lediglich ein Schaus­piel, welch­es gle­icher­maßen Über­lebensstrate­gie wie eine frühe Form von Sub­ver­sion war.

Orwells Big Broth­er illus­tri­ert anschaulich, dass eine intrin­sis­che Form von Macht effek­tiv­er ist – oder, wie Fou­cault sagen würde, pro­duk­tiv­er. Dadurch, dass diese Macht ein Teil von uns selb­st zu sein scheint, wird sie also nie als eine fremde oder extrin­sis­che Form von Dom­i­nanz emp­fun­den. Wir fürcht­en natür­lich das Gesetz und seine Voll­streck­er: die Polizei, das Gericht und das Gefäng­nis; aber wir hin­ter­fra­gen sel­ten, wie wir zu ein­er solchen Ehrfurcht gekom­men sind. Wir scheinen eben­falls zu wis­sen, was einen guten Bürg­er aus­macht, ohne allzu viel darüber nachzu­denken; wir gehorchen nat­u­ral­isierten Prinzip­i­en und ver­wech­seln sie mit objek­tiv­en Wahrheit­en. George Orwell pro­duziert in seinem 1949 erschienen Roman1984 allerd­ings nicht nur einen panop­tis­chen Effekt, in welchem wir uns selb­st überwachen. Eher han­deln die Men­schen unter Big Broth­er auch syn­op­tisch, d.h. sie überwachen sich gegen­seit­ig. Während Orwells Roman diese The­matik inner­halb eines (fik­tiv­en) total­itären Regimes unter­sucht, um die Auswirkun­gen ein­er solchen selb­st aufer­legten Kon­trolle zu ver­an­schaulichen, muss keine der­ar­tige Staats­form in Kraft sein, um eine panop­tis­che und/oder syn­op­tis­che Gesellschaft zu unter­stützen – dieser Überwachungsmech­a­nis­mus scheint auch inner­halb eines ‘demokratis­chen’ Staat­sys­tems vol­lkom­men umset­zbar zu sein. Oft­mals sind wir uns nicht bewusst, dass wir damit den Arm des Geset­zes ver­längern und so eine asym­metrische Hier­ar­chie ver­stärken und repro­duzieren. Es braucht nicht an jed­er Ecke ein Polizist ste­hen — wir sind immer und über­all mit unseren Kam­eras, unserem geschärften Bewusst­sein für Geset­zesübertre­tun­gen und dem uns innewohnen­den Pflicht­ge­fühl aus­ges­tat­tet, zu melden, was wir beobachten.

Wo Architektur und Gesellschaft aufeinandertreffen

Das Stat­eville Cor­rec­tion­al Cen­ter in Illi­nois, USA

„Ben­thams Panop­tikum ist die architek­tonis­che Fig­ur dieser Kom­po­si­tion“, schreibt Fou­cault. Nach sein­er Analyse sind es eine Rei­he architek­tonis­ch­er Ele­mente, die das Panop­tikum so wirkungsvoll machen:

Sicht­barkeit. Das Panop­tikum, so Fou­cault, „kehrt das Prinzip des Ver­lieses um“, indem es sicht­bar macht, was zuvor im Dunkeln ver­bor­gen war. Die Dunkel­heit, die ein­schließen und ver­graben sollte, hat­te let­ztlich eine Schutzwirkung, und es ist in der Tat das helle Licht des Panop­tikums, das jede Ecke der Zellen der Häftlinge beleuchtet, welch­es sie unter panop­tis­ch­er Kon­trolle ver­let­zlich macht. 

Mul­ti­pliz­ität. Fou­cault argu­men­tiert, dass durch die Gestal­tung von Einzelzellen für jeden Häftling die Deck­ung der sich ver­sam­mel­nden Menge zer­ris­sen wird. Das Poten­zial ein­er Grup­pen­ver­schwörung wird aus­gelöscht. „Die Menge, eine kom­pak­te Masse, ein Ort mehrfachen Aus­tauschs, (…) wird abgeschafft und durch eine Ansamm­lung getren­nter Indi­vid­u­al­itäten erset­zt.” Fou­cault para­phrasiert Ben­tham weit­er­hin, indem er sagt, dass es eine solche Mul­ti­pliz­ität der Wache über­aus leicht macht, zu zählen, struk­turi­eren und zu überwachen – im Gegen­satz zum unüber­sichtlichen Wuseln der Menge, in der immer Platz für das Pri­vate ist, für das, was dem Blick der Wache ent­gleit­et. Für die Häftlinge hinge­gen ist diese Mul­ti­pliz­ität eine Maß­nahme der Einzel­haft — in Gesellschaft hun­dert­er ander­er isoliert­er See­len. Ben­tham ging später aus zwei Grün­den Kom­pro­misse in Bezug auf den Aspekt der Einzel­haft ein; erstens wäre es zu teuer gewe­sen, für jeden Häftling indi­vidu­elle Zellen zu bauen, wo doch all­ge­mein bekan­nt ist, dass die Gefäng­nisse fast über­all unter unzure­ichen­den Mit­teln lei­den, und zweit­ens ist die Einzel­haft tat­säch­lich eine Maß­nahme, die am besten für Extrem­fälle vor­be­hal­ten ist. Einzel­haft kann uner­wün­schte Effek­te aus­lösen, die man eigentlich ver­mei­den möchte, beispiel­sweise ein Verküm­mern des Ein­füh­lungsver­mö­gens, der Gesellschafts­fähigkeit und ander­er eigentlich wün­schenswert­er Charakterzüge.

Unüber­prüf­bare Macht. „(…) Ben­tham legte den Grund­satz fest, dass Macht sicht­bar und nicht über­prüf­bar sein sollte. Sicht­bar: Der Häftling wird ständig den hohen Umriss des zen­tralen Turms vor Augen haben, von dem aus er auss­pi­oniert wird. Unüber­prüf­bar: Der Häftling darf nie wis­sen, ob er ger­ade beobachtet wird, aber er muss sich­er sein, dass er es immer sein kann”, fährt Fou­cault fort. Er stellt eine Rei­he architek­tonis­ch­er Raf­fi­nessen vor, die diese Dual­ität gewährleis­ten, wie zum Beispiel Jalousien an den Fen­stern des zen­tralen Turms und Zick­za­ck-Öff­nun­gen anstelle von Türen für den Durch­gang zwis­chen den Zellen, um zu ver­mei­den, dass Licht und Schall den sich bewe­gen­den Kör­p­er der Wache ver­rat­en. Das Panop­tikum stützt sich in seinem Design also nicht nur auf seine Grund­struk­tur von Periph­erie und Zen­trum, son­dern auch auf Licht und Schat­ten sowie auf Geome­trie. „Die Schwere der alten ‘Häuser der Hochsicher­heit’ mit ihrer fes­tungsähn­lichen Architek­tur kön­nte durch die ein­fache, ökonomis­che Geome­trie eines ‘Haus­es der Gewis­sheit’ erset­zt wer­den“, fährt Fou­cault fort. Der Häftling wird so „zum Prinzip sein­er eige­nen Unterwerfung.“

Das Panop­tikum wäre schließlich zum architek­tonis­chen Abbild der Ver­schiebung der Macht­struk­turen, die sich im poli­tis­chen und sozialen Bere­ich vol­l­zog, gewor­den, wäre es wirk­lich nach Ben­thams Entwür­fen umge­set­zt wor­den. Im Falle des Panop­tikums bezeu­gen wir Architek­tur, die das Ergeb­nis eines sozialen Wan­dels war, diese neu gefun­dene Ide­olo­gie daraufhin mit eige­nen Mit­teln repro­duzierte, und dann ihrer­seits wiederum das soziale Leben inner­halb des Panop­tikums bee­in­flusste. Das Panop­tikum ist “das Dia­gramm eines auf seine ide­ale Form reduzierten Macht­mech­a­nis­mus; sein Funk­tion­ieren, (…) muss als ein reines architek­tonis­ches und optis­ches Sys­tem dargestellt wer­den: es ist in der Tat eine Fig­ur der poli­tis­chen Tech­nolo­gie, die von jedem spez­i­fis­chen Gebrauch los­gelöst wer­den kann und muss”, schließt Foucault.

Übri­gens: Wer selb­st ein­mal Wächter*in im Panop­tikum spie­len möchte, dem sei dieses Online­spiel nahegelegt.


Quel­len­nach­weis:

Fou­cault, M. (1995). Dis­ci­pline and Pun­ish: The Birth of the Prison. New York: Vin­tage Books.
* mit eige­nen Übersetzungen

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