Kunst, Kunstphilosophie, Berlin

Architektur und Ideologie (1): Was ist Architektur?

by MERCY FERRARS

15/08/2020

Berlin ist eine zer­ris­sene Stadt; ein­er­seits geprägt von Leer­räu­men und Brachen, von dem was fehlte, von dem was vergessen wurde, von vielle­icht gar überse­henen Men­schen und Geschicht­en. Auf der anderen Seite find­en sich Men­schen und ihre Geschicht­en über­all in der Stadt, man kann ihnen kaum entkom­men. Spätestens seit dem Mauer­fall ver­fall­en in Berlin so viele Gebäude, dass Urban Explo­ration Guides ent­standen sind, die die span­nend­sten vergesse­nen Orte anpreisen und ihre Geschichte zusam­men­tra­gen. Diese Orte sind Relik­te der Zeit, in der sie erbaut wur­den. Sie zeu­gen nicht nur von Epochen von Kun­st und Stil, son­dern dien­ten in der Regel auch bes­timmten Zweck­en. Die Ide­olo­gien, für die die Gebäude entwed­er über­haupt erst errichtet oder für die sie im Rah­men später­er Zwecke miss­braucht wur­den, lassen sich manch­mal noch an der physis­chen Struk­tur selb­st able­sen, manch­mal sind von der Ver­gan­gen­heit nur noch his­torische Berichte übrig geblieben.

Berlin ist eben­falls ein Parade­beispiel für das Zusam­men­spiel von Architek­tur und Gesellschaft, wobei keines von bei­dem lange ohne das andere beste­hen kann. Die Architek­tur bed­ingt sich durch men­schliche Akteure, die sie erbauen und bewohnen; durch ihre Hand wird sie ent­wor­fen und belebt; aber der Men­sch braucht auch die Architek­tur auf sehr unmit­tel­bare Weise: als Schutz und Zuflucht; für util­i­taris­tis­che, soziokul­turelle und poli­tis­che Zwecke oder als kul­turellen Aus­druck von Ästhetik und Denkweise. Architek­tur ist wed­er reines Bauen noch reine bildende Kun­st. Sie liegt irgend­wo in der Mitte zwis­chen Men­schen, Ide­olo­gien und der Kun­st. Dabei ist sie immer ein direk­ter Aus­druck der Zeit, in der sie errichtet wird und des anthro­pol­o­gis­chen Ver­ständ­niss­es, welchem sie sich verpflichtet. Was ist es also in der Beziehung zwis­chen Architek­tur und Gesellschaft, was so einzi­gar­tig ist? 

In dieser Artikelreihe gehe ich der Verzahnung von Architektur und Gesellschaftsideologie nach, welche sich in einer synergetischen Beziehung zueinander befinden.

In dieser Folge: Was ist eigentlich Architektur?

Architektur als Dienst am Menschen: Mackintoshs humanitäres Design

Es scheint eine ein­fache Frage zu sein, und doch wird sie unter Architekt*innen, Kulturtheoretiker*innen und in der Öffentlichkeit kon­tro­vers disku­tiert: Was ist Architek­tur? Man wird ihr nicht gerecht, indem man sie auf den bloßen Prozess des Erbauens reduziert; aber Architek­tur ist auch keine tra­di­tionelle Kun­st wie die Malerei. Malerei, Bild­hauerei oder mod­erne Fotografie existieren nicht aus ein­er Notwendigkeit her­aus, sie dienen der Sym­bo­l­ik und Ästhetik. Ihr unmit­tel­bar­er Nutzen ver­lei­ht der Architek­tur hinge­gen eine Dringlichkeit, die den darstel­len­den Kün­sten fehlt. Jedoch ist Architek­tur auch keine bloße Schutz­maß­nahme, denn sie baut auf Design auf—und gutes Design ist niemals nur prak­tisch oder nur schön, son­dern eine Ver­schmelzung dieser Aspek­te. Wir dür­fen nicht vergessen, dass Design niemals bloß in der The­o­rie verbleibt—sei es Pro­dukt- und Kom­mu­nika­tions­de­sign, Innenar­chitek­tur oder Mod­edesign, immer reagiert Design auf äußere Bedürfnisse und eine gewisse funk­tionale Zweck­mäßigkeit. Wäre Architek­tur nur ästhetisch ohne jegliche Funk­tion­al­ität, würde sie, wie die Malerei, zu ein­er bilden­den Kun­st.

Aber was ist nun Architek­tur?

Eine schöne Darstel­lung der Architek­tur und ihrer Auf­gabe gibt der schot­tis­che Architekt Charles Ren­nie Mack­in­tosh (1868 — 1928) in The Archi­tec­tur­al Papers, ein­er Samm­lung von Mack­in­toshs einzi­gen bekan­nten Vorträ­gen über Architek­tur zu seinen Lebzeit­en, die 1990 post-mortem von Pamela Robertson—Senior-Kuratorin an der Hunter­ian Art Gallery (Uni­ver­sität Glasgow)—veröffentlicht wurde. Der in Glas­gow geborene Mack­in­tosh war nicht nur Architekt, son­dern auch Innenar­chitekt und Maler; ein Pio­nier des Jugend­stils, berühmt für seine einzi­gar­ti­gen Entwürfe—stark bes­timmt von flo­ralen Motiv­en, recht­en Winkeln und bee­in­flusst von der tra­di­tionellen schot­tis­chen Architek­tur. Sein größtes Werk, das ihm einen inter­na­tionalen Ruf ein­brachte, war der Entwurf der Glas­gow School of Art, die er auch selb­st besuchte. Dort lernte er seine spätere Ehe­frau und zwei Fre­unde ken­nen, mit denen er fol­glich die Künstler*innengemeinschaft The Glas­gow Four grün­dete, deren markan­ter ‘Glas­gow Style’ inter­na­tion­al bekan­nt wurde und großen Ein­fluss auf die entste­hende Jugend­stil­be­we­gung nahm. Mack­in­toshs Kar­riere war kur­zlebig, aber lei­den­schaftlich, obwohl er gegen Ende seines Lebens eine aufgewühlte Seele zu sein schien. In seinen Vorträ­gen ist Mack­in­toshs tiefe Liebe zur Architek­tur in jedem Wort zu spüren; das zutief­st human­itäre Engage­ment sein­er Kun­st wird laut und deut­lich zum Aus­druck gebracht. Im Jahr 2019 besuchte ich das Mack­in­tosh House, eine Rekon­struk­tion seines ehe­ma­li­gen Zuhaus­es in der Flo­rence Ter­race 6 in Glas­gow, das jet­zt in der Huntar­i­an Art Gallery der Uni­ver­sität Glas­gow zu besichti­gen ist. Alle Zim­mer schienen mit ein­er solchen Sorgfalt und Absicht konzip­iert und von einem aus­geprägten Bewusst­sein dafür gestal­tet zu sein, wie sich eine Per­son durch die jew­eili­gen Räume bewe­gen würde, wie sie Licht und Schat­ten erleben würde, aber auch was sie von jedem Wohn­raum benöti­gen würde.

Im Erdgeschoss fand ich zuerst einen schö­nen Kor­ri­dor, der sich von der Ein­gangstür aus erstreck­te. Durch das Fen­ster der Haustür fiel das Licht auf eine ganz beson­dere Weise, so dass ich ste­hen blieb und staunte, während ich beobachtete wie es sich an den Wän­den brach, sich in dem aufge­hängten Spiegel reflek­tierte und den ganzen Flur in eine ätherische, traumhafte Atmo­sphäre tauchte. Von dort aus lag das Essz­im­mer zu mein­er linken Hand, aus­ges­tat­tet mit einem schmalen, aber lan­gen Holztisch, Mack­in­toshs berühmten Stühlen mit den lan­gen Rück­en­lehnen, dun­klen, schw­eren Schränken und braunem Pack­pa­pi­er an den Wän­den, auf das ein Sch­ablo­nen­dekor rosa­far­ben­er Rosen gemalt war. Das Schlafz­im­mer in der 3. Etage glich ein­er „Sin­fonie aus Licht und Raum.“ Ein geräu­miges, L‑förmiges Zim­mer, ganz in Weiß gehalten—meine Wahrnehmung wurde von Licht durch­flutet, von Hoff­nung, von Leichtigkeit. Sofort fühlte ich mich, als hätte ich die Trance der Dunkel­heit der unteren Etage ver­lassen und wäre stattdessen in einen men­tal­en Zus­tand der Klarheit einge­treten. Trotz seines strahlen­den Weiß fühlte sich der Raum nicht etwa klin­isch an: Mack­in­tosh gelang es, trotz all dieser Hel­ligkeit Wohn­lichkeit herzustellen. In der ober­sten Etage fand ich dann ein Gästez­im­mer, das wiederum eine ganz andere Atmo­sphäre ausstrahlte als die anderen Stock­w­erke. Es fühlte sich erd­ver­bun­den­er und schlichter an, die Möbel und Stoffe waren wun­der­bar aufeinan­der abges­timmt. Mack­in­tosh ging auch hier auf die Bedürfnisse der Bewohn­er ein und ent­warf einen beruhi­gen­den, ver­wurzel­ten, ein­laden­den Raum zum Schlafen und Aus­ruhen. Das Mack­in­tosh House lässt seine Besuch­er den human­itären Ansatz in Mack­in­toshs Werk aus erster Hand erfahren, und hat mich von sein­er Aus­rich­tung hin­sichtlich der Def­i­n­i­tion von Architek­tur überzeugt. In sein­er Arbeit erwäh­nt Mack­in­tosh häu­fig andere Architekt*innen und Kulturtheoretiker*innen und bezieht sich auf deren Arbeit, denn natür­lich sind seine Ideen nicht alle radikal neu. Jedoch ist sein Ver­ständ­nis davon, warum wir Architek­tur (die er übri­gens gerne kurz „Archi“ nen­nt) entwer­fen, und wie wir Architek­tur pla­nen, von erfrischend phil­an­thropis­ch­er Natur.

“Am Anfang ist [Architektur] nicht Bauen. (…) in diesem Sinne hört Archi auf, eine der schönen Künste zu sein. (…) Die Geschichte der Architektur, wie sie üblicherweise mit ihrer Theorie der utilitaristischen Ursprünge aus der Hütte & dem Grabhügel geschrieben wird, (…) ist eher die Geschichte des Bauens, der Architektur in dem Sinne, wie wir das Wort so oft benutzen, aber nicht die Architektur, die die Synthese der schönen Künste, die Kommune aller Handwerke ist. (…) Die Architektur durchdringt dann das Bauen nicht zur Befriedigung der einfacheren Bedürfnisse des Körpers, sondern der komplexeren des Intellekts. (…) Und so (…) sind (…) Architektur & Bauen ganz klare und unterschiedliche Vorstellungen die Seele & der Körper.”

Für Mack­in­tosh “(…) war alle große & lebendi­ge Architek­tur der direk­te Aus­druck der Bedürfnisse & Überzeu­gun­gen des Men­schen zur Zeit ihrer Entstehung (…).” 

“Was ist dann Architektur? Wenn Gothe sie ‘eine versteinerte Religion oder Madame de Stael ‘gefrorene Musik’ nennt, dann haben sie mit Dichtern & Rednern aller Zeiten gemeinsam, dass sie nur als eine Bildende Kunst betrachtet wird, aber eine gerechtere, weil umfassendere Beschreibung ist die Sir Gilbert Scotts, wenn er sagt: ‘Die Architektur unterscheidet sich darin von den Schwesterkünsten Malerei & Skulptur, während sie direkt aus künstlerischen Inspirationen unserer Natur entstehen, abgesehen von praktischer Notwendigkeit oder Nützlichkeit, erwächst [die Architektur] aus der Notwendigkeit & dann aus dem Wunsch, das Ergebnis mit Schönheit zu bekleiden. (…) Ja, Archi ist eine schöne, aber auch eine nützliche Kunst. (…) “Wir müssen moderne Ideen in ein modernes Gewand kleiden— unsere Entwürfe mit lebendiger Phantasie schmücken. Wir werden Entwürfe von lebenden Menschen für lebende Menschen haben—etwas, das die frisch gewonnene Erkenntnis einiger heiligen Tatsache ausdrückt—des persönlichen Grübelns über das Können—der Freude an der Natur in der Anmut der Form & der Fröhlichkeit über die Farbe.”

Charles Ren­nie Mackintosh—The Archi­tec­tur­al Papers

Was konstituiert die Architektur?

Mack­in­tosh zählt Struk­tur, Nüt­zlichkeit und Schön­heit als kon­sti­tu­tive Ele­mente der Architek­tur auf—eine Tri­ade, die sich bis in die Antike zurück­ver­fol­gen lässt. In den Zehn Büch­ern über die Architek­tur, ein­er der einzi­gen über­liefer­ten Schriften des antiken Rom, erk­lärt der Architekt Mar­cus Vit­ru­vius Pol­lio (81 v.Chr. — 15 v.Chr.), dass alle Gebäude, ob sie nun zu Verteidigungs‑, religiösen oder human­itären Zweck­en errichtet wur­den, “in Bezug auf Dauer­haftigkeit, Zweck­mäßigkeit und Schön­heit gebaut wer­den müssen. Dauer­haftigkeit ist gewährleis­tet, wenn die Fun­da­mente auf den fes­ten Unter­grund getra­gen wer­den und die Mate­ri­alien klug und frei gewählt sind; Zweck­mäßigkeit, wenn die Anord­nung der Woh­nun­gen ein­wand­frei ist und die Benutzung nicht behin­dert (.…); und Schön­heit, wenn das Ausse­hen des Werkes gefäl­lig und geschmack­voll ist und wenn seine Mit­glieder nach kor­rek­ten Sym­me­trieprinzip­i­en in den richti­gen Pro­por­tio­nen sind.” Später definiert der Brite John Ruskin—führender vik­to­ri­an­is­ch­er Kun­stkri­tik­er, Sozialthe­o­retik­er und selb­st auch Künstler—Architektur schlicht und ein­fach als die “Kun­st, die die vom Men­schen zu welchem Zweck auch immer errichteten Bauw­erke so anord­net und schmückt, dass ihr Anblick zu sein­er geisti­gen Gesund­heit, Kraft und Freude beiträgt” in seinem Werk Die Sieben Lam­p­en der Architek­tur (1849). Deut­lich wird, dass Ruskins Sicht der Architek­tur Mack­in­toshs gle­icht, welch­er sich in der Tat in seinen Vorträ­gen häu­fig auf Ruskin bezog. Ruskins architek­tonis­che Prä­gung ist sowohl human­itär­er als auch ide­ol­o­gis­ch­er Art, da sie die Architek­tur in den Dienst des men­schlichen Geistes und der men­schlichen Bedürfnisse stellt, aber sie lässt die Her­vorhe­bung der Architek­tur als Aus­druck von Macht nicht außen vor. 

Schließlich schlägt Ruskin die “sieben Lam­p­en der Architek­tur” vor. Darunter befind­en sich

Wahrheit. Die Aufrichtigkeit von Handw­erk und Moral.

Macht. Als Gegen­stück zur „Schön­heit” eines Bauw­erks drängt die Macht das Majestätis­che, das Große auf und sucht zu regieren. Wo Macht herrscht, ver­schwindet die Schön­heit, und wo Schön­heit sich durch­set­zt — Schön­heit, nach dem Bild der Natur geschaf­fen, zum Schmück­en hergestellt, darum bit­tend, ange­betet, bewun­dert und gemocht zu wer­den — löst sich Macht auf. Ruskin nen­nt Größe, Form, Gewicht und Schat­ten als bes­tim­mende Ele­mente der Macht ein­er Struk­tur.

Schön­heit. In all ihren Auf­fas­sun­gen durch die Zeit.

Architek­tur kann also entwed­er human­itär oder nutzbrin­gend gedacht wer­den. Für die Ide­al­istin ste­ht sie stets im Dien­ste der Men­schlichkeit. Angepasst an men­schliche Bedürfnisse schme­ichelt sie dem men­schlichen Kör­p­er und Geist, indem sie den Men­schen führt, ihr Schutz gewährt und Schön­heit ausstrahlt. Für die Ide­olo­gin hinge­gen ist Architek­tur ein nutzbrin­gen­des Werkzeug, welch­es für eigene Zwecke miss­braucht wer­den kann; als Aus­druck von Macht, als Mit­tel der Unterdrückung.

Im näch­sten Artikel der Serie beschäftige ich mich mit der Syn­ergie zwis­chen Architek­tur und Ide­olo­gie am Beispiel der während der Indus­tri­al­isierung erbaut­en Berlin­er Miet­skaser­nen, des deutschen Städte­baus und ver­lassen­er Orte.


Bibliographie

Fiell, C., & Fiell, P. (2004). Charles Ren­nie Mack­in­tosh. Köln: Taschen.

Pol­lio, V., Mor­gan, M. H., War­ren, H. L., & Robin­son, N. (2008). Vit­ru­vius: The Ten Books on Archi­tec­ture. Cam­bridge: Har­vard Uni­ver­si­ty Press.

Robert­son, P., & Mack­in­tosh, C. R. (1990). Charles Ren­nie Mack­in­tosh: The Archi­tec­tur­al Papers. Wendle­bury: White Cockade.

Ruskin, J. (n.d.). THE SEVEN LAMPS OF ARCHITECTURE. Retrieved August 13, 2020, from https://freeditorial.com/en/books/the-seven-lamps-of-architecture/related-books

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