von Mercy Ferrars
In dieser Artikelreihe gehe ich der Verzahnung von Architektur und Gesellschaftsideologie nach, welche sich in einer synergetischen Beziehung zueinander befinden.
In dieser Folge: In J.G. Ballards 1975 erschienenem Roman High-Rise verfällt eine Mikrogesellschaft in einem gigantischen Wohnturm langsam, aber sicher einem animalischen Anarchismus. Dabei sind die psychopathologischen Effekte der Mieter*innen eng mit der Bauweise und dem Eigenleben des Hochhauses verschlungen.
Den ersten Teil dieser Artikelreihe findest du hier.
Den zweiten Teil dieser Artikelreihe findest du hier.
1975 veröffentlichte der britische Autor James Graham Ballard seinen Roman High-Rise. Mit einem voyeuristischen Blick auf eine in sich geschlossene Gesellschaft in einer Wohnsiedlung in der Londoner City, die Ballard als „kleine, vertikale Stadt, deren zweitausend Einwohner in den Himmel gerückt sind” bezeichnet, wird suggeriert, dass das Leben in Hochhäusern eine gewisse gefährliche Persönlichkeit erfordert und psychopathologische Auswirkungen hat. Ballards Roman ist stark durch die Arbeit Sigmund Freuds beeinflusst und unter anderem durch das Es-Ich-Über-Ich-Paradigma strukturiert.
Ein Museum der menschlichen Psyche. Ballards Hochhaus ist ebenso manifestes Bauwerk wie Museum, das eine Mikrogesellschaft in einem Betonturm ‚ausstellt‘. Zweitausend Menschen, eingepfercht in eintausend Wohnungen auf vierzig Stockwerken. Der Wohnturm ist Teil eines Entwicklungsprojekts und der erste von fünf, der vollständig bewohnt ist. Er befindet sich entlang des Nordufers des Flusses und ist etwa eine Viertelmeile vom nächsten Hochhaus des Projekts entfernt. Zu den Hochhaustürmen gehören Supermärkte, Schwimmbäder, Schulen, Friseursalons, Banken und andere Institutionen, kurz gesagt, Bestandteile einer städtischen Infrastruktur. Dieser Faktor trägt in späteren Phasen des Romans zu einer allgemeinen Isolation von der realen Welt bei.
Ein Zoowärter und seine Biester. Verantwortlich für den psychopathologischen Einfluss des Gebäudes auf seine Bewohner ist der Architekt Anthony Royal, der sich in der obersten Penthouse-Wohnung in der Nähe zum Dach niedergelassen hat. Im gesamten Roman wird die Hochhausgesellschaft als sein privater Zoo bezeichnet, die Mieter als Tiere oder Bestien. Diese metaphorische Konzeption folgt der Entwicklung der Geschichte und schließlich dem Verfall der Gesellschaft. „Zoos und die Architektur großer Bauwerke waren schon immer das besondere Interesse von Royal,” der mit dem Bau des Hochhausprojekts seinen Traum verwirklichte. Faszinierend ist „die Art und Weise, wie sich [die Mieter] so bereitwillig in die ihnen zugewiesenen Plätze im Mietshaus einfügten.” Nach einer Reihe von Stromausfällen und anderen destabilisierenden Ereignissen beginnen die Mieter des Hochhauses, sich von der Außenwelt zu isolieren, und ihr Verhalten ändert sich radikal. Bald beginnen sie, sich in Klans zu organisieren; sie bekämpfen sich nicht nur gegenseitig auf Leben und Tod, sondern greifen auch zum Kannibalismus, wenn ihnen die Lebensmittel ausgehen. „Mit dem Wohnhaus wurde ein neuer sozialer Typus geschaffen, eine kühle, emotionslose Persönlichkeit, die dem psychologischen Druck des Hochhauslebens gegenüber unempfindlich war, mit einem minimalen Bedürfnis nach Privatsphäre” und das Leben dort „erforderte eine besondere Art von Verhalten, eines, das nachgiebig, zurückhaltend, vielleicht sogar leicht verrückt war.“ Die Gesellschaft innerhalb des Hochhauses ist vollständig selbstorganisiert, die Polizei oder externe Behörden werden nie konsultiert. Es herrscht Anarchie, eine animalische, brutale und wilde Autarkie.

Befreiung des Unterdrückten. Der radikale Verfall von Moral und zivilisiertem Verhalten lässt sich auf eine Befreiung des Unterdrückten zurückführen, so Ballard; eine Chance, pervers zu werden, sich von den Fesseln der Zivilisation zu befreien: „Alle Ereignisse der letzten Monate ergäben Sinn, wenn man sich bewusst würde, dass diese brillanten und exotischen Geschöpfe gelernt hatten, die Türen zu öffnen.“ Das Hochhaus ist ein Befreier, der die geheimen Triebe und Dränge enthüllt, die bereits in jedem einzelnen der Individuen angelegt sind. „Das Vorbild scheint hier weniger der edle Wilde zu sein als vielmehr unser unschuldiges post-Freudianisches Selbst, empört über all das übertriebene Toilettentraining, das hingebungsvolle Stillen und die elterliche Zuneigung — offensichtlich eine gefährlichere Mischung als alles, womit unsere viktorianischen Vorfahren zurechtkommen mussten. Unsere Nachbarn hatten eine glückliche Kindheit (…) und sind immer noch wütend. Vielleicht nehmen sie es uns übel, dass sie nie die Chance hatten, pervers zu werden…”
Kriegsarchitektur. Das Hochhaus besitzt ein eigenes Bewusstsein, „ein Modell all dessen, was die Technologie getan hatte, um den Ausdruck einer wahrhaft ‚freien’ Psychopathologie zu ermöglichen.” Es ist ein postmodernes Gebäude, mit Hochgeschwindigkeitsaufzügen, Entsorgungsschächten und Klimaanlagen, um nur einige zu nennen. Fast alles im Hochhaus ist automatisiert, Personal wird kaum benötigt, außer in der Lobby und in öffentlichen Räumen wie Restaurants oder Supermärkten. Der Betonturm, den Ballard für seinen Roman entworfen hat, scheint „eine für den Krieg entworfene Architektur zu sein, gar auf der Ebene des Unbewussten.” Es ist die ideale Umgebung, um die Freisetzung innerer Hemmungen auszulösen, was zu einem psychischen Krieg führt, den niemand kontrollieren, rechtfertigen oder rationalisieren kann.
Es, Ich und Über-Ich. Freuds System des menschlichen Bewusstseins spiegelt sich in den Hauptfiguren des Romans wider: Richard Wilder (Es), Robert Laing (Ich) und Anthony Royal (Über-Ich). Wilder, beklemmt durch das ganze Gewicht über seinem Kopf, beschließt, sein Unbehagen zu bewältigen, indem er durch das Gebäude aufsteigt, um einen Dokumentarfilm zu drehen; mit „starker persönlicher Voreingenommenheit, Teil eines kalkulierten Versuchs, mit dem Gebäude zurechtzukommen, sich der physischen Herausforderung zu stellen, die es für ihn darstellte, und es dann zu dominieren.” Während er aufsteigt, fällt er mehr und mehr in die Primitivität des Es zurück. Das Über-Ich hingegen vereinheitlicht alle in der Gesellschaft bestehenden moralischen Regeln. Es hat die Aufgabe, das Es zu sozialisieren, es repräsentiert Zurückhaltung, Intellekt und Kontrolle. Der Architekt des Hochhauses spielt diese Rolle, indem er die Menschen nach oben „lockt“ und seinen manifestierten Menschenzoo kontrolliert. Natürlich befindet sich das Ich zwischen diesen Extremen, es ist das, was wir gewöhnlich an die Oberfläche kommen lassen. Das Ich ist der psychische Anteil, der draußen in der Welt ist und sie erlebt. Robert Laing repräsentiert dieses Ich. Er lehnt brutale Gewalt, wie sie von Wilder gelebt wurde, eindeutig ab, aber inmitten seines rationalen Denkens, seiner Argumentation und seiner Selbstbeobachtung gibt er schließlich auch Kannibalismus und übermäßigem Genuss nach.

Nachdem das Hochhaus den Tiefpunkt erreicht hat, erholt sich die Gesellschaft plötzlich wieder. Für die Wiederherstellung der sozialen Werte, der Moral und der Vernunft ist es notwendig, auch das Hochhaus selbst zu restaurieren, und so beginnen die Hochhausbewohner mit der Reinigung und Reparatur, um das Gebäude wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Aber, alás, in der Ferne fangen schon im nächsten Hochhaus des Projekts die Lichter an zu flackern.
J. G. Ballards High-Rise ist eine fantastische Fallstudie, um die enge Verbindung zwischen der Struktur einer Architektur und der Gesellschaft, die sie nutzt, zu veranschaulichen. Der Roman zeigt auf wunderbare Weise, wie ein Gebäude im Einklang mit seinen Menschen zerfällt und restauriert wird; Moral und Menschlichkeit sind mit der Höhe, Sauberkeit und Integrität des Gebäudes verwoben. Darüber hinaus organisiert das Hochhaus seine Bewohner nach sozialen Klassen, wobei in den unteren Stockwerken Menschen mit niedrigerem Status und in den oberen Stockwerken wohlhabendere Leute wohnen. Ob die Mitte des Hochhauses die Mittelschicht oder das Ich repräsentiert, ist fraglich, vielleicht beides: Als physische Struktur verstanden, kann eine Mittelschicht sehr wohl vorhanden sein; als psychisches Diagramm verstanden, lebt das Ich im Zentrum des Hochhauses.
Gedankenwelten und Gesellschaftsformen spiegeln sich also in der Architektur.
Die Architektur beeinflusst den Menschen auf vielfältige Weise. Sei es das Mackintosh House, das den Besucher durch eine dunkle und beruhigende Trance führt, hin zur Helligkeit und Ruhe, wenn man die Wohnung hinaufsteigt. Sei es die Mietskaserne, die ihre Bewohnerin zu einem unwürdigen Leben verurteilt und sie stets daran erinnert, wo ihr Platz im System ist. Sei es Ballards High-Rise, das seine Mieter*innen nicht nur nach sozialem Rang und Status kategorisiert, sondern ihnen schließlich die ideale Umgebung bietet, um ihre unterdrückten Wünsche zu entfesseln und pervers zu werden. Sei es die Schönheit, die Macht oder das Verhalten – Architektur leitet unseren Weg, beeinflusst unsere Emotionen und formt unsere Gedanken. Aber die Beziehung zwischen Architektur und Gesellschaft ist eine Synergie, keine Diktatur. Und so wirkt sich die Gesellschaft auf die Architektur aus; denn einerseits stellt sie ein Kollektiv von Akteuren zur Verfügung, die für ihre Gestaltung und ihren Bau verantwortlich sind, und andererseits bedingt sie das Bild des Menschen, der Natur, der Schönheit und der Macht, das zum Zeitpunkt ihres Ausdrucks vorhanden ist. Die Ideale der Gesellschaft spiegeln sich immer in der Architektur wider, die sie hervorbringt. Es wird von besonderem Interesse sein, zu sehen, ob und wie humanitäre Ideale in einer kapitalistischen Gesellschaft künftig umgesetzt werden können – ob wir in der Lage sein werden, zu Gemeinschaft und Fürsorge zurückzukehren, ohne auf eine Wiederholung der Vergangenheit und ihres rückständigen Denkens zurückzufallen. Es wird eine faszinierende Reise sein, zu beobachten, wie sich unsere Bezirke und Städte verändern werden. Leider könnte die fortschreitende Gentrifizierung auf Dauer Schaden anrichten. Ein Haus, das einmal abgerissen wurde, kann nie wieder in seiner alten Form errichtet werden. Doch während wir um die Gebäude trauern, die verloren gegangen sind – diejenigen, die Geschichten erzählen, die Träger der Vergangenheit sind –, schlägt Adorno vor, dass wir nicht versuchen sollten, eine Gesellschaft zu erhalten oder wiederaufzubauen, die längst vergangen ist. Stattdessen sollten wir uns, so könnte man meinen, auf die zukünftige Gesellschaft und ihre Bedürfnisse und Ideale konzentrieren. In anderen Worten:
Goodbye, Klassengesellschaft.
Quellennachweis:
Ballard, J. G. (2014). High-Rise. London: 4th Estate.
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