Kunst, Kunstphilosophie, Berlin

Architektur und Ideologie (3): Die Psychopathologie des Hochhauses

by MERCY FERRARS

19/08/2020

In dieser Artikelreihe gehe ich der Verzahnung von Architektur und Gesellschaftsideologie nach, welche sich in einer synergetischen Beziehung zueinander befinden.

In dieser Folge: In J.G. Ballards 1975 erschienenem Roman High-Rise verfällt eine Mikrogesellschaft in einem gigantischen Wohnturm langsam, aber sicher einem animalischen Anarchismus. Dabei sind die psychopathologischen Effekte der Mieter*innen eng mit der Bauweise und dem Eigenleben des Hochhauses verschlungen.

Den ersten Teil dieser Artikelreihe findest du hier.
Den zweiten Teil dieser Artikelreihe findest du hier.

1975 veröf­fentlichte der britis­che Autor James Gra­ham Bal­lard seinen Roman High-Rise. Mit einem voyeuris­tis­chen Blick auf eine in sich geschlossene Gesellschaft in ein­er Wohn­sied­lung in der Lon­don­er City, die Bal­lard als „kleine, ver­tikale Stadt, deren zweitausend Ein­wohn­er in den Him­mel gerückt sind” beze­ich­net, wird sug­geriert, dass das Leben in Hochhäusern eine gewisse gefährliche Per­sön­lichkeit erfordert und psy­chopathol­o­gis­che Auswirkun­gen hat. Bal­lards Roman ist stark durch die Arbeit Sig­mund Freuds bee­in­flusst und unter anderem durch das Es-Ich-Über-Ich-Par­a­dig­ma struk­turi­ert.

Ein Muse­um der men­schlichen Psy­che. Bal­lards Hochhaus ist eben­so man­i­festes Bauw­erk wie Muse­um, das eine Mikro­ge­sellschaft in einem Beton­turm ‚ausstellt‘. Zweitausend Men­schen, eingepfer­cht in ein­tausend Woh­nun­gen auf vierzig Stock­w­erken. Der Wohn­turm ist Teil eines Entwick­lung­spro­jek­ts und der erste von fünf, der voll­ständig bewohnt ist. Er befind­et sich ent­lang des Nor­dufers des Flusses und ist etwa eine Viertelmeile vom näch­sten Hochhaus des Pro­jek­ts ent­fer­nt. Zu den Hochhaustür­men gehören Super­märk­te, Schwimm­bäder, Schulen, Friseur­sa­lons, Banken und andere Insti­tu­tio­nen, kurz gesagt, Bestandteile ein­er städtis­chen Infra­struk­tur. Dieser Fak­tor trägt in späteren Phasen des Romans zu ein­er all­ge­meinen Iso­la­tion von der realen Welt bei.

Ein Zoowärter und seine Biester. Ver­ant­wortlich für den psy­chopathol­o­gis­chen Ein­fluss des Gebäudes auf seine Bewohn­er ist der Architekt Antho­ny Roy­al, der sich in der ober­sten Pent­house-Woh­nung in der Nähe zum Dach niederge­lassen hat. Im gesamten Roman wird die Hochhaus­ge­sellschaft als sein pri­vater Zoo beze­ich­net, die Mieter als Tiere oder Bestien. Diese metapho­rische Konzep­tion fol­gt der Entwick­lung der Geschichte und schließlich dem Ver­fall der Gesellschaft. „Zoos und die Architek­tur großer Bauw­erke waren schon immer das beson­dere Inter­esse von Roy­al,” der mit dem Bau des Hochhaus­pro­jek­ts seinen Traum ver­wirk­lichte. Faszinierend ist „die Art und Weise, wie sich [die Mieter] so bere­itwillig in die ihnen zugewiese­nen Plätze im Miet­shaus ein­fügten.” Nach ein­er Rei­he von Stro­maus­fällen und anderen desta­bil­isieren­den Ereignis­sen begin­nen die Mieter des Hochhaus­es, sich von der Außen­welt zu isolieren, und ihr Ver­hal­ten ändert sich radikal. Bald begin­nen sie, sich in Klans zu organ­isieren; sie bekämpfen sich nicht nur gegen­seit­ig auf Leben und Tod, son­dern greifen auch zum Kan­ni­bal­is­mus, wenn ihnen die Lebens­mit­tel aus­ge­hen. „Mit dem Wohn­haus wurde ein neuer sozialer Typus geschaf­fen, eine küh­le, emo­tion­slose Per­sön­lichkeit, die dem psy­chol­o­gis­chen Druck des Hochhauslebens gegenüber unempfind­lich war, mit einem min­i­malen Bedürf­nis nach Pri­vat­sphäre” und das Leben dort „erforderte eine beson­dere Art von Ver­hal­ten, eines, das nachgiebig, zurück­hal­tend, vielle­icht sog­ar leicht ver­rückt war.“ Die Gesellschaft inner­halb des Hochhaus­es ist voll­ständig selb­stor­gan­isiert, die Polizei oder externe Behör­den wer­den nie kon­sul­tiert. Es herrscht Anar­chie, eine ani­malis­che, bru­tale und wilde Autarkie.

Befreiung des Unter­drück­ten. Der radikale Ver­fall von Moral und zivil­isiertem Ver­hal­ten lässt sich auf eine Befreiung des Unter­drück­ten zurück­führen, so Bal­lard; eine Chance, per­vers zu wer­den, sich von den Fes­seln der Zivil­i­sa­tion zu befreien: „Alle Ereignisse der let­zten Monate ergäben Sinn, wenn man sich bewusst würde, dass diese bril­lanten und exo­tis­chen Geschöpfe gel­ernt hat­ten, die Türen zu öff­nen.“ Das Hochhaus ist ein Befreier, der die geheimen Triebe und Dränge enthüllt, die bere­its in jedem einzel­nen der Indi­viduen angelegt sind. „Das Vor­bild scheint hier weniger der edle Wilde zu sein als vielmehr unser unschuldiges post-Freudi­an­is­ches Selb­st, empört über all das über­triebene Toi­let­ten­train­ing, das hinge­bungsvolle Stillen und die elter­liche Zuneigung—offensichtlich eine gefährlichere Mis­chung als alles, wom­it unsere vik­to­ri­an­is­chen Vor­fahren zurechtkom­men mussten. Unsere Nach­barn hat­ten eine glück­liche Kind­heit (…) und sind immer noch wütend. Vielle­icht nehmen sie es uns übel, dass sie nie die Chance hat­ten, per­vers zu wer­den…”

Kriegsar­chitek­tur. Das Hochhaus besitzt ein eigenes Bewusst­sein, „ein Mod­ell all dessen, was die Tech­nolo­gie getan hat­te, um den Aus­druck ein­er wahrhaft ‚freien’ Psy­chopatholo­gie zu ermöglichen.” Es ist ein post­mod­ernes Gebäude, mit Hochgeschwindigkeit­saufzü­gen, Entsorgungss­chächt­en und Kli­maan­la­gen, um nur einige zu nen­nen. Fast alles im Hochhaus ist automa­tisiert, Per­son­al wird kaum benötigt, außer in der Lob­by und in öffentlichen Räu­men wie Restau­rants oder Super­märk­ten. Der Beton­turm, den Bal­lard für seinen Roman ent­wor­fen hat, scheint „eine für den Krieg ent­wor­fene Architek­tur zu sein, gar auf der Ebene des Unbe­wussten.” Es ist die ide­ale Umge­bung, um die Freiset­zung inner­er Hem­mungen auszulösen, was zu einem psy­chis­chen Krieg führt, den nie­mand kon­trol­lieren, recht­fer­ti­gen oder ratio­nal­isieren kann.

Es, Ich und Über-Ich. Freuds Sys­tem des men­schlichen Bewusst­seins spiegelt sich in den Haupt­fig­uren des Romans wider: Richard Wilder (Es), Robert Laing (Ich) und Antho­ny Roy­al (Über-Ich). Wilder, bek­lemmt durch das ganze Gewicht über seinem Kopf, beschließt, sein Unbe­ha­gen zu bewälti­gen, indem er durch das Gebäude auf­steigt, um einen Doku­men­tarfilm zu drehen; mit „stark­er per­sön­lich­er Vor­ein­genom­men­heit, Teil eines kalkulierten Ver­suchs, mit dem Gebäude zurechtzukom­men, sich der physis­chen Her­aus­forderung zu stellen, die es für ihn darstellte, und es dann zu dominieren.” Während er auf­steigt, fällt er mehr und mehr in die Prim­i­tiv­ität des Es zurück. Das Über-Ich hinge­gen vere­in­heitlicht alle in der Gesellschaft beste­hen­den moralis­chen Regeln. Es hat die Auf­gabe, das Es zu sozial­isieren, es repräsen­tiert Zurück­hal­tung, Intellekt und Kon­trolle. Der Architekt des Hochhaus­es spielt diese Rolle, indem er die Men­schen nach oben „lockt“ und seinen man­i­festierten Men­schen­zoo kon­trol­liert. Natür­lich befind­et sich das Ich zwis­chen diesen Extremen, es ist das, was wir gewöhn­lich an die Ober­fläche kom­men lassen. Das Ich ist der psy­chis­che Anteil, der draußen in der Welt ist und sie erlebt. Robert Laing repräsen­tiert dieses Ich. Er lehnt bru­tale Gewalt, wie sie von Wilder gelebt wurde, ein­deutig ab, aber inmit­ten seines ratio­nalen Denkens, sein­er Argu­men­ta­tion und sein­er Selb­st­beobach­tung gibt er schließlich auch Kan­ni­bal­is­mus und über­mäßigem Genuss nach.

Nach­dem das Hochhaus den Tief­punkt erre­icht hat, erholt sich die Gesellschaft plöt­zlich wieder. Für die Wieder­her­stel­lung der sozialen Werte, der Moral und der Ver­nun­ft ist es notwendig, auch das Hochhaus selb­st zu restau­ri­eren, und so begin­nen die Hochhaus­be­wohn­er mit der Reini­gung und Reparatur, um das Gebäude wieder in seinen ursprünglichen Zus­tand zu ver­set­zen. Aber, alás, in der Ferne fan­gen schon im näch­sten Hochhaus des Pro­jek­ts die Lichter an zu flack­ern.

J. G. Bal­lards High-Rise ist eine fan­tastis­che Fall­studie, um die enge Verbindung zwis­chen der Struk­tur ein­er Architek­tur und der Gesellschaft, die sie nutzt, zu ver­an­schaulichen. Der Roman zeigt auf wun­der­bare Weise, wie ein Gebäude im Ein­klang mit seinen Men­schen zer­fällt und restau­ri­ert wird; Moral und Men­schlichkeit sind mit der Höhe, Sauberkeit und Integrität des Gebäudes ver­woben. Darüber hin­aus organ­isiert das Hochhaus seine Bewohn­er nach sozialen Klassen, wobei in den unteren Stock­w­erken Men­schen mit niedrigerem Sta­tus und in den oberen Stock­w­erken wohlhaben­dere Leute wohnen. Ob die Mitte des Hochhaus­es die Mit­telschicht oder das Ich repräsen­tiert, ist fraglich, vielle­icht bei­des: Als physis­che Struk­tur ver­standen, kann eine Mit­telschicht sehr wohl vorhan­den sein; als psy­chis­ches Dia­gramm ver­standen, lebt das Ich im Zen­trum des Hochhauses.

Gedankenwelten und Gesellschaftsformen spiegeln sich also in der Architektur.

Die Architek­tur bee­in­flusst den Men­schen auf vielfältige Weise. Sei es das Mack­in­tosh House, das den Besuch­er durch eine dun­kle und beruhi­gende Trance führt, hin zur Hel­ligkeit und Ruhe, wenn man die Woh­nung hin­auf­steigt. Sei es die Miet­skaserne, die ihre Bewohner­in zu einem unwürdi­gen Leben verurteilt und sie stets daran erin­nert, wo ihr Platz im Sys­tem ist. Sei es Bal­lards High-Rise, das seine Mieter*innen nicht nur nach sozialem Rang und Sta­tus kat­e­gorisiert, son­dern ihnen schließlich die ide­ale Umge­bung bietet, um ihre unter­drück­ten Wün­sche zu ent­fes­seln und per­vers zu wer­den. Sei es die Schön­heit, die Macht oder das Verhalten—Architektur leit­et unseren Weg, bee­in­flusst unsere Emo­tio­nen und formt unsere Gedanken. Aber die Beziehung zwis­chen Architek­tur und Gesellschaft ist eine Syn­ergie, keine Dik­tatur.

Und so wirkt sich die Gesellschaft auf die Architek­tur aus; denn ein­er­seits stellt sie ein Kollek­tiv von Akteuren zur Ver­fü­gung, die für ihre Gestal­tung und ihren Bau ver­ant­wortlich sind, und ander­er­seits bed­ingt sie das Bild des Men­schen, der Natur, der Schön­heit und der Macht, das zum Zeit­punkt ihres Aus­drucks vorhan­den ist. Die Ide­ale der Gesellschaft spiegeln sich immer in der Architek­tur wider, die sie her­vor­bringt. Es wird von beson­derem Inter­esse sein, zu sehen, ob und wie human­itäre Ide­ale in ein­er kap­i­tal­is­tis­chen Gesellschaft kün­ftig umge­set­zt wer­den können—ob wir in der Lage sein wer­den, zu Gemein­schaft und Für­sorge zurück­zukehren, ohne auf eine Wieder­hol­ung der Ver­gan­gen­heit und ihres rück­ständi­gen Denkens zurück­z­u­fall­en. Es wird eine faszinierende Reise sein, zu beobacht­en, wie sich unsere Bezirke und Städte verän­dern wer­den. Lei­der kön­nte die fortschre­i­t­ende Gen­tri­fizierung auf Dauer Schaden anricht­en. Ein Haus, das ein­mal abgeris­sen wurde, kann nie wieder in sein­er alten Form errichtet wer­den. Doch während wir um die Gebäude trauern, die ver­loren gegan­gen sind—diejenigen, die Geschicht­en erzählen, die Träger der Ver­gan­gen­heit sind—, schlägt Adorno vor, dass wir nicht ver­suchen soll­ten, eine Gesellschaft zu erhal­ten oder wieder­aufzubauen, die längst ver­gan­gen ist. Stattdessen soll­ten wir uns, so kön­nte man meinen, auf die zukün­ftige Gesellschaft und ihre Bedürfnisse und Ide­ale konzen­tri­eren.

In anderen Worten: 

Good­bye, Klassengesellschaft.


Bibliographie

Bal­lard, J. G. (2014). High-Rise. Lon­don: 4th Estate.

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