Die Angst vor dem Zufall. Eine Einordnung von Verschwörungserzählungen

Von Mar­tin Bäckert

Unsere gegen­wär­tige Zeit ist geprägt von ihnen, sie wer­den medi­al genutzt und poli­tisch instru­men­tal­isiert: Kollek­tive Äng­ste. Kaum ein Tag verge­ht, ohne dass man mit gesellschaftlichen Angst­mo­menten kon­fron­tiert wird. Die Angst vor ein­er Wirtschaft­skrise, die Angst vor dem Kli­mawan­del, die Angst vor Alter­sar­mut – das men­schliche Sor­gen­spek­trum reicht weit. Die Poli­tik ver­sucht ihrer­seits nach dem oft zitierten Cre­do „Man müsse die Äng­ste der Men­schen ernst nehmen“ zu han­deln. Doch ger­ade im Fall der aktuell vir­u­len­ten Debat­ten um Ver­schwörungserzäh­lun­gen zeigen sich unvere­in­bare Gegen­sätze. Die durch kollek­tive Äng­ste und Sor­gen ent­stande­nen Erzäh­lun­gen scheinen nicht mit der poli­tis­chen und gesamt­ge­sellschaftlichen Welt kom­pat­i­bel. Kön­nen also über­haupt Kom­pro­misse zwis­chen Zivilge­sellschaft, Ver­schwörungserzäh­lern und Poli­tik gefun­den wer­den oder sollte es bei gegen­seit­iger Intol­er­anz belassen wer­den? Sollte man kollek­tiv­en Äng­sten poli­tis­che Entschei­dungskraft ein­räu­men oder sollte vielmehr der poli­tis­che Ver­such unter­nom­men wer­den, diese aufzulösen? Fest ste­ht, um kollek­tive Äng­ste ernst nehmen zu kön­nen, müssen die Entste­hung und die innere Logik dieser Sor­gen betra­chtet wer­den. Wie also entste­hen Ver­schwörungserzäh­lun­gen und nach welch­er Logik funk­tion­ieren sie?

Grundmotive

Auch wenn es die gegen­wär­tige Medi­en­präsenz anders ver­muten lässt – Ver­schwörungserzäh­lun­gen sind kein spez­i­fis­ches Phänomen unser­er Zeit. Sie sehen heute nur etwas anders aus. Aus Angst vor dem Unbekan­nten ver­sucht­en Men­schen schon immer, sich das Unerk­lär­liche zu erk­lären. Neg­a­tive Wel­ter­fahrun­gen wur­den so in dystopis­che Mythen und Ver­schwörun­gen trans­formiert. Dabei lassen sich einige Grund­mo­tive erkennen:

1. Bei Ver­schwörungserzäh­lun­gen geschieht nichts durch Zufall, son­dern ist immer an Han­deln von Akteuren gebunden.

2. Darüber hin­aus ist nach dieser Logik nichts so, wie es scheint. Das Wis­sen um die Ver­schwörung ist an die Real­ität der Erzäh­ler und nicht an die der restlichen Welt gekoppelt.

3. Alle Ereignisse auf dieser Welt sind miteinan­der ver­bun­den und kön­nen somit in Erzäh­lun­gen beliebig in Zusam­men­hang geset­zt werden.

Aus diesem Baukas­ten an Merk­malen ent­standen und entste­hen eine Vielzahl an Ver­schwörungserzäh­lun­gen. Während in der Ver­gan­gen­heit die Ver­bre­itungsmöglichkeit­en für solche Erzäh­lun­gen beschränkt waren, kön­nen diese im gegen­wär­ti­gen Inter­net-Zeital­ter sehr leicht hohe Aufmerk­samkeit gener­ieren. Inwiefern dies zu einem Anstieg von Ver­schwörungserzäh­lun­gen und Men­schen, die daran glauben, geführt hat, lässt sich empirisch nicht nachver­fol­gen. Dass eine erhöhte gesellschaftliche Aufmerk­samkeit auf Ver­schwörun­gen poli­tisch den­noch gefährlich sein kann, wird an ihrem Ver­hält­nis zu Schuld und Zufall deutlich.

Schuld und Zufall

Wie bere­its erwäh­nt, spielt in den meis­ten Ver­schwörungserzäh­lun­gen Zufall keine Rolle. Eine Welt mit Zufällen ist kom­plex, oft nur ambiva­lent beschreib­bar und vor allem nicht klar zu kat­e­gorisieren. All dies ste­ht dem men­schlichen Bedürf­nis ent­ge­gen, alles zu ver­ste­hen und vor allem alles für sich einord­bar zu machen. Zufälle zeigen uns, dass wir nicht alles kon­trol­lieren kön­nen, und dieser weltliche Kon­trol­lver­lust kann zu kollek­tiv­en Äng­sten führen. Ver­schwörungserzäh­lun­gen set­zen an diesen Äng­sten an. Sie beschreiben eine Welt, in der Zufälle erset­zt wur­den durch das bewusste Han­deln mächtiger Akteure, die ein klares Ziel ver­fol­gen. Durch diesen Per­spek­tiven­wech­sel gelingt es, sämtliche angst­machen­den Entwick­lun­gen in per­son­ifizier­bare Schuld zu trans­formieren. Je nach Ide­olo­gie und Glauben führen die Schuldzuschrei­bun­gen zu Juden, reichen Men­schen, Aliens oder ein­er skur­rilen Mis­chung aus allem. Die kom­plexe und unver­ständliche Welt wird auf eine ein­fache und ver­ständliche Schuldzuschrei­bung reduziert. Somit bildet sich eine klare Abgren­zung zwis­chen denen, die an ihrer Wel­tord­nung teil­haben, und den­jeni­gen, die an ihr Schuld sind. In den Sozial­wis­senschaften spricht man bei diesem Prozess von ‘Oth­er­ing’.

Das Oth­er­ing beschreibt die Stärkung der eige­nen Grup­peniden­tität durch abw­er­tende Abgren­zung von anderen Grup­pen, Weltvorstel­lun­gen, Werten etc. In ihrer eige­nen Grup­pen­dy­namik bestärkt, nehmen Ver­schwörungserzäh­lun­gen schnell ide­ol­o­gis­che, fanatis­che und fun­da­men­tal­is­tis­che Züge an, bei denen eigene nicht hin­ter­frag­bare Wahrheit­en propagiert wer­den. Dabei ist es ger­ade dieser absolute Wahrheit­sanspruch, welche Ver­schwörungserzäh­lun­gen poli­tisch und gesellschaftlich so gefährlich machen. Dadurch wird ein offen­er Erken­nt­nisaus­tausch darüber, wie man sich die Welt vorstellt, wie man sie ändern und eventuell verbessern möchte unmöglich. Doch vor allem wer­den in den meis­ten Ver­schwörungserzäh­lun­gen etablierte poli­tis­che und gesellschaftliche Insti­tu­tio­nen und Werte Teil des geot­herten Frem­den. Die selb­st propagierte Wahrheit der Ver­schwörungserzäh­ler wird vehe­ment gegen die kri­tis­chen Fra­gen der Außen­welt vertei­digt – in vie­len Fällen auch gewalt­sam. Diese Prob­lematiken zeigen auf, dass es sich lohnt das Ver­hält­nis zwis­chen Ver­schwörungserzäh­lun­gen und Wahrheit näher zu betrachten. 

Glauben und Wissen

Für Ver­schwörungserzäh­ler, das wis­sen wir bere­its, ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Suche nach der Wahrheit und das Hin­ter­fra­gen von beste­hen­dem Wis­sen sind daher wesentliche Bestandteile von Ver­schwörungserzäh­lun­gen. Was auf den ersten Blick wie aufk­lärerische Ide­ale wirkt, ist jedoch in der Umset­zung das genaue Gegen­teil. Statt ein­er meth­o­d­en­geleit­eten Suche nach Erken­nt­nis­sen, die sich auf trans­par­ente Nach­prüf­barkeit stützt, wer­den durch Scheinzusam­men­hänge eigene Wahrheit­sansprüche kon­stru­iert. Dass es sich hier­bei vielmehr um das Glauben an als das Wis­sen um einen Zusam­men­hang han­delt, kann durch Ock­hams Rasier­mess­er verdeut­licht wer­den. Dieses wis­senschaftliche Grund­prinzip besagt im Wesentlichen zwei Dinge:

1. Von mehreren möglichen Erk­lärun­gen für ein und dieselbe Sache ist die ein­fach­ste The­o­rie allen anderen vorzuziehen.

2. Eine The­o­rie ist ein­fach, wenn sie möglichst wenige Vari­ablen und Hypothe­sen enthält und wenn diese in klar logis­chen Beziehun­gen stehen 

In Bezug auf Ver­schwörungserzäh­lun­gen wird schnell klar, dass diese nicht ein­fach sind, son­dern im Gegen­teil mit über­mäßig vie­len Vari­ablen hantieren. Ein gutes Beispiel hier­für sind die in vie­len Ver­schwörungserzäh­lun­gen beschriebe­nen machtvollen Akteure, die oft über län­geren Zeitraum unent­deckt inter­na­tion­al agieren. Ihre Hand­lun­gen sind stets weltweit und zu aller Zeit miteinan­der ver­bun­den. Die math­e­ma­tis­che Wahrschein­lichkeit dafür geht gegen null. Statt ein­er einzel­nen Vari­able — dem Zufall — wer­den viele weit­ere Vari­ablen einge­fügt, die zu erk­lären ver­suchen, wer Schuld hat. Was hier für die soziale Legit­i­ma­tion an Sim­pliz­ität gewon­nen wurde, indem Schuld ein­deutig zugewiesen wird, muss schein­bar durch eine erhöhte Kom­plex­ität der umliegen­den Zusam­men­hänge aus­geglichen wer­den. In Bezug auf Wahrheit reduzieren Ver­schwörungserzäh­lun­gen also Kom­plex­ität nicht, son­dern erhöhen sie kün­stlich. Die Suche nach Erken­nt­nis wird so unnötig kom­plex und nicht mehr prüf­bar. In aktuellen Debat­ten ist daher vom Begriff der Ver­schwörungs­the­o­rie abzuse­hen, da ein Ver­sprechen auf prüf­bare Argu­men­ta­tio­nen impliziert, welch­es Ver­schwörun­gen nicht ein­hal­ten können

Wil­helm von Ock­ham. self-cre­at­ed (Moscar­lop), William of Ock­hamCC BY-SA 3.0.

Zeitdiagnose

Die heutige Welt ist geprägt von end­los vie­len, par­al­lel stat­tfind­en­den Prozessen, deren Wirkun­gen die Welt ver­net­zter und kom­plex­er machen. Glob­al­isierung, Kli­mawan­del etc. stellen uns vor neue Her­aus­forderun­gen. Viele der etablierten Erzäh­lun­gen aus Gesellschaft, Poli­tik und Wis­senschaft haben darauf noch keine umfassenden Lösun­gen gefun­den. Diese Ungewis­sheit führt zu kollek­tiv­en Äng­sten, welche in der dig­i­tal­en Öffentlichkeit hohe Aufmerk­samkeit erhal­ten. Jed­er Ver­schwörungserzäh­ler kann seinen indi­vidu­ellen Wahrheit­sanspruch inner­halb ein­er zuge­wandten Öffentlichkeit propagieren. Ger­ade der radikalisierte Teil der Coro­na-Demon­stra­tio­nen macht deut­lich, wie durch ein­schlägige Inter­net-Foren bestärkt neue Ver­schwörungserzäh­lun­gen entste­hen. Dabei wer­den alle hier behan­del­ten Merk­male erfasst. Ein­er­seits kommt es zum Oth­er­ing der “kri­tis­chen Quer­denker“, welche sich von der “unkri­tis­chen Mehrheit“ abgren­zen wollen. Ander­er­seits wird statt dem Zufall ein­er glob­alen Pan­demie eine hochkom­plexe Schuldzuschrei­bung gewählt. Von kollek­tiv­er Angst ergrif­f­en erleben Men­schen durch Ver­schwörungserzäh­lun­gen so gle­ichzeit­ig Grup­pen­zuge­hörigkeit und schein­baren Erken­nt­nis­gewinn. Wie kann man darauf gesellschaftlich und poli­tisch reagieren? Zunächst ist es wichtig, das Wis­sen um Entste­hung und innere Logik solch­er Erzäh­lun­gen zu fördern. Aufk­lärung darüber, auf welche Art und Weise Ver­schwörungserzäh­lun­gen durch Schuldzuweisun­gen Wahrheit­en sug­gerieren, sen­si­bil­isiert gegen ihren Ein­fluss. Dahinge­hend wäre ein stärk­er­er päd­a­gogis­ch­er Fokus auf kri­tis­che Debat­ten-Kul­tur wün­schenswert — denn es ist für poli­tis­che und gesellschaftliche Entschei­dun­gen uner­lässlich, dass ihren über­prüf­bare Argu­mente zugrunde liegen. Ver­schwörungserzäh­lun­gen hinge­gen klinken sich mit unüber­prüf­baren Scheinar­gu­menten gän­zlich aus diesen Debat­ten aus. In Sit­u­a­tio­nen wie der aktuellen Pan­demie durch Covid-19 muss klar sein, dass poli­tis­che Maß­nah­men nicht per se gut oder schlecht sind. Sie bedür­fen  ein­er stets kri­tis­chen Beobach­tung und Mitwirkung durch die Zivilge­sellschaft. Die durch Oth­er­ing und kün­stlich erschaf­fene Schuldzuschrei­bun­gen begrün­de­ten Ver­schwörungserzäh­lun­gen nehmen jedoch kaum am gesellschaftlichen Lösung­sprozess teil. Kollek­tive Äng­ste und den Glauben an Ver­schwörung wird es immer geben, doch die über­prüf­bare und logis­che Argu­men­ta­tion sollte als Grundw­ert ein­er kri­tis­chen Entschei­dungs­find­ung im Fokus von Gesellschaft und Poli­tik erhal­ten bleiben. Antworten darauf, wie dies gelin­gen kann, liegen vor allem im Gelin­gen gegen­wär­tiger und zukün­ftiger Bildungspolitik.


Bildquellen:


Weit­er­führende Links:

Das Coro­n­avirus und Ver­schwörungs­the­o­rien — bpb (Artikel)
Das Prinzip Zufall — Deutsch­land­funk (Artikel)
Mit dem Losver­fahren die Demokratie ret­ten? — FAZ (Artikel)
Ver­schwörungsmythen — wenn Diskurse gekapert wer­den — Feuer und Brot (Pod­cast)
Ock­hams Rasier­mess­er — Welt (Artikel)

Ferrars & Fields Magazine 

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