Vertrauter Weg

Das Gedicht behandelt Verfolgung, strukturelle Machtausübung und psychische Gewalt im öffentlichen Raum. Für Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, könnte das triggernd wirken.

von Esther Bartke

„S7 — Ein­steigen bitte!“
Ein leer­er Vier­ersitz­platz. Ich set­ze mich.
Kopfhör­er rein.
Kurz­er Blick zu den umliegen­den Sitzen.
Nicht weit ent­fer­nt eine Frau. In Gedanken.
Etwas weit­er weg drei Typen. An ihren Bieren nip­pend ins Gespräch ver­tieft.
Don­ner­stagabend, 23.49 Uhr.

Näch­ster Halt. Die Türen gehen auf.
Die Frau steigt aus. Jemand steigt ein.
Ich sehe kurz auf. Dann wieder runter. Blick aufs Handy. Dann aus dem Fen­ster.
Er set­zt sich mir gegenüber.
Viele leere Plätze umgeben uns.
Ich schaue beiläu­fig hoch.
Er star­rt mich an. Ich schaue weg.

Gen­ervt. Verun­sichert. Herzk­lopfen.
Unheim­lich ver­traut. Das Ganze.
Zurück­star­ren? Wegset­zen? Laut wer­den?
Fürs Erste zu müde, fürs Dritte zu spät.
Zweite Option also.

Mit einem Griff Tasche und Schirm gepackt.
Schnelle Schritte. Vor­bei an den ahnungslosen Bier­trink­enden zum näch­sten freien Platz.
Bloß nicht umschauen. Bloß nicht ängstlich wirken.
Herzrasen.

Noch zwei Sta­tio­nen.
Ich höre Schritte.
Noch eine Sta­tion.
Ich steige aus. Er auch.

Blick­kon­takt mei­den. Ignori­eren. Ein­fach laufen.
Er läuft hin­ter mir. Der Bahn­steig men­schen­leer.
Ich werde langsamer. Krame in mein­er Tasche.
Musik aus. Kopfhör­er raus.
Er geht vor­bei. Die Treppe hin­unter.
Bewege mich erst, als er völ­lig ver­schwun­den ist.

Kopfhör­er wieder rein. Neues Lied. Ich laufe los.
Die Truppe runter. Rechter Aus­gang. Über die Straße.
Fast zu Hause. Fast geschafft.

An der näch­sten Kreuzung wieder er. Herzrasen.
Seine Blick­rich­tung bin ich.
Schnell weit­er. Musik leis­er. Unauf­fäl­lig.
Panisch.

Fol­gt er mir? Nicht umdrehen!
Musik aus. Sind das Schritte?
Ampel springt auf grün. Ich laufe.
Ampel springt auf rot. Ich drehe mich um.
Kann ihn nicht sehen. Kurze Erleichterung.

Doch nur alles einge­bildet? Nein. Oder?

Vor­bei an der fast leeren Bushal­testelle.
Mein Blick wan­dert immer wieder zurück. Und nach vorn.
Die näch­ste Straße ist dunkel. Kaum befahren.
Kalte Luft und riesige Schat­ten.
Meine freie Hand sucht nach dem Schlüs­sel in mein­er Tasche.
Fast geschafft. Fast zu Hause.
Umk­lam­mere mein Schlüs­sel­bund.
Nur für den Fall.

Ein paar Meter noch.
Werfe Blicke zurück und nach vorn.
Nie­mand zu sehen.
Schlüs­sel im Schloss.
Treppe hoch.
Tür auf.
Tür zu.
Riegel vor. Geschafft.
Herz rast immer noch.


Bildquellen: Pix­abay from Pexels

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