Ausgerechnet Halloween

von Daniela Mertens

Achtung! Das ist eine fik­tionale Hor­rorgeschichte. Wer schnell Angst bekommt oder von Gewalt­szenen jed­er Art getrig­gert wer­den kön­nte, sollte sie nicht lesen.

Mein Zeigefin­ger schwebte über der Taste mit der ‑2. Ich zögerte. Patholo­gie. Leichen. Ver­we­sung. Ges­tank. Und das aus­gerech­net heute, an Halloween.

„Na drück schon. Du hast gle­ich Feier­abend“, forderte Maya vom Anmelde­tre­sen aus.

„Warum ich? Son­st holt doch Phil die Unter­la­gen ab.“ Wie ein Kleinkind stampfte ich mit dem Fuß auf den Boden, ver­schränk­te die Arme und zog einen Schmollmund.

„Dr. Jacob hat in der Mail aus­drück­lich ver­langt, dass du sie für ihn holst.“ Mayas Grin­sen reichte von Ohr zu Ohr. „Na, wenn das mal nichts zu bedeuten hat.“

„Was sollte das zu bedeuten haben? Der Mann ist min­destens sechzig.“ Ich war in Zick­en­stim­mung. Nicht dass ich Angst hätte. Es ging eher ums Prinzip. Es war ein­fach nicht mein Job. Mein Job im FSJ war es, die Leben­den im Roll­stuhl zu Unter­suchun­gen zu brin­gen. „Phil kann sie doch holen und ich bringe sie dem Chef.“

Ober­schwest­er Maya lächelte nur und ver­tiefte sich in eine Patien­te­nak­te.
Na toll. Die Patholo­gie blieb mir wohl nicht erspart. Noch nie in den ver­gan­genen drei Monat­en musste ich in den Keller. Bilder mit aufgeschlitzten Bäuchen und von Gedär­men in Aluschalen, der Ges­tank ver­we­senden Fleis­ches set­zte sich in meinen Kopf und hielt sich hart­näck­ig. Mein Magen verkrampfte sich und löste einen Brechreiz aus.

Maya schaute kurz auf. „Du schaffst das. Ich glaub an dich.“

Sie hat­te gut reden. Ich atmete tief durch. In den Raum mit den Leichen musste ich gar nicht. Nur ins Büro. Der Gedanke machte es jedoch nicht bess­er, denn das Büro war Sams Reich. Sam, für den alle Kol­legin­nen schwärmten. Sam, dem ich in der Cafe­te­ria gle­ich am ersten Tag meinen Kaf­fee über den weißen Kit­tel geschüt­tet hat­te. Sam, der nicht sauer war, son­dern mich ange­grinst und nach einem Date gefragt hat­te. In den let­zten drei Monat­en bes­timmt hun­dert Mal. Der Sam, mit dem ich wohl als Einzige in dieser Klinik nicht aus­ge­hen wollte. Er war nun mal keine Frau.

Nach einem tiefen Atemzug drück­te ich auf den Knopf, die Edel­stahltür schob sich zu und der Fahrstuhl set­zte sich in Bewe­gung. Von Etage fünf bis zum Keller fuhr er durch, ohne anzuhal­ten. Ein Ruck zeigte, dass er hielt. ‑2. Die Tür öffnete sich, ich set­zte einen Fuß vor den anderen über die weißen Boden­fliesen. Mein Blick eilte zehn Meter voraus, hin zu der mint­grü­nen Tür am Ende des Ganges. Ich vergewis­serte mich, dass Sams Name auf dem Türschild ste­ht, und klopfte sachte. Keine Regung. Ich klopfte wieder, dies­mal lauter. Wieder nichts. Ich legte meine Hand auf die Klinke, drück­te sie runter, doch die Tür blieb ver­schlossen. Mist. Und jet­zt? Irgendw­er musste doch hier irgend­wo sein. „Hal­lo?“ Meine Stimme ver­sagte. Ich räus­perte mich und startete einen neuen Ver­such. „Hal­lo? Ist da wer?“ Nichts. Nur das ein­set­zende Flack­ern der Neon­röhren durch­brach die Stille und drei Meter von mir ent­fer­nt öffnete sich die große gläserne Tür zum Sezier­raum. Keine Schritte. Keine Stim­men. Langsam schob ich meine Füße voran, bis ich in den dun­klen Raum blick­en kon­nte. Vor den schmalen Keller­fen­stern bewegten sich die let­zten Blät­ter an den Büschen schemen­haft im Wind wie Geis­ter durch die Nacht.

Bis auf eine blaue Diode am Com­put­er gab es kein­er­lei Licht. Ger­ade wollte ich zum Fahrstuhl zurück, da flack­erte das Licht in dem Raum mehrmals an und aus, bis es sich entsch­ied, anzubleiben. Die Tür schloss sich von allein. Ich spähte durch das Fen­ster, durch das son­st wahrschein­lich Ange­hörige blick­en, um ihre Lieb­sten zu iden­ti­fizieren. Ein Kloß ließ meinen Hals anschwellen und ich ver­suchte, ihn mit Schluck­en wegzu­drück­en. Doch er blieb wie ein pen­e­tran­ter Gast. Die Tür schob sich ein weit­eres Mal auf, als wollte sie mich ein­laden, einzutreten. An der einen Wand stand ein Schreibtisch. Darauf lag eine hell­braune Akte, daneben einzelne Blät­ter. Das Licht flack­erte wieder und tanzte auf den sil­ber­nen Tis­chen. Keine grü­nen Deck­en über toten Kör­pern. Keine Leichen. Zumin­d­est wird es nicht stinken, wenn ich reinge­he, über­legte ich. Aber es waren auch keine Mitar­beit­er da. Durfte ich ohne die über­haupt da rein?

Ok, Marie. Du gehst da rein, schaust auf den Namen der Akte und gehst wieder. Mit oder ohne das Papierd­ing. Ich ignori­erte den Kloß im Hals, atmete ein­mal stoßar­tig aus, lock­erte meine Arme wie vor einem Wet­tkampf und sprint­ete los. Am Schreibtisch beugte ich mich runter zur Akte, las den Namen, legte meine Fin­ger um den Hefter, weil es tat­säch­lich der richtige war – und blieb dann stock­steif ste­hen, denn das Licht war ohne jede Vor­war­nung erloschen. Es hat­te nicht mal geflack­ert. Fuck! Ich drehte mich in Rich­tung Tür. Vom Flur her drang noch Licht in den Raum. Ich set­zte mich in Bewe­gung. Und erstar­rte wieder, denn nun flack­erte auch die Flurbeleuch­tung und blieb aus. Es war stock­dunkel. Nicht mal meine eigene Hand kon­nte ich noch sehen. Warum musste das aus­gerech­net mir passieren? Moment! War das sowas wie ein Ein­standss­cherz, weil ich heute zum ersten Mal hier runter musste? Wer dachte sich so einen Mist aus? Was, wenn ich ein schwach­es Herz hätte? Dann läge ich gle­ich auf einem dieser Tische.

„Leute, das ist nicht witzig!“, rief ich, hielt den Atem an und lauschte. Nichts. „Hal­lo?“ Immer noch nichts. Nur mein eigen­er Atem füllte die Stille mit Leben. Mein Herz schlug immer schneller, trom­melte dumpf gegen meine Rip­pen. Ok, direkt vor mir musste die Schiebetür sein. Vielle­icht gab es im Flur einen Bewe­gungsmelder. Schritt für Schritt schob ich mich mit aus­gestreck­tem Arm voran. So langsam müsste doch mal die Tür aufge­hen, ver­dammt nochmal! Meine linke Hand ertastete eine kalte, glat­te Ober­fläche. Wahrschein­lich war ich leicht nach links abgedriftet. Also tastete ich mich an der Wand ent­lang nach rechts. Erst Fliesen, dann Glas, ein Tür­rah­men, wieder Fliesen, dann das Fen­ster. Kein Zweifel, die sich son­st automa­tisch öff­nende Tür war geschlossen geblieben. Meine Hände wan­derten wieder nach links. Irgend­wo musste der Türöffn­er sein. Die Fliesen waren glatt. Und schmierig. Schmierig und warm. Ich blieb ste­hen und schloss die Augen, eine Reak­tion, die ich mir echt hätte sparen kön­nen angesichts der Dunkelheit.

Eine Stimme flüsterte aus der Ferne, als wäre der kleine Raum eine große, leere Halle: „Mein … Blu­u­ut“, dann ein leis­es Lachen, das immer lauter wurde, bis ich es an meinem linken Ohr eiskalt spürte. Ich fuhr herum. Nach Schwe­fel riechen­der Atem blies mir ins Gesicht. Eine blech­erne Stimme formte ein langge­zo­genes „Duu­uu!“

Laut­los set­zte ich zurück, bis ich an eine der stäh­ler­nen Tis­che stieß.

„Duu­uhu­u­u­uu!“ Die Stimme schwebte wieder näher und schick­te ihren kranken Atem voraus.

Ich tastete mich panisch rück­wärts an dem Tisch ent­lang. „Lasst das! Es reicht! Ihr hat­tet euren Spaß“, fle­hte ich. Der schwe­flige Atem wurde immer dün­ner, bis meine Nase wieder frei atmen kon­nte. Gle­ich würde jemand das Licht ein­schal­ten. Die Hoff­nung wurde je von einem Tuch begraben, das jemand in mein Gesicht drück­te. Ich schnappte nach Luft, schlug meine Arme voller Wucht nach oben, um die Hände abzuwehren. Doch vor dem Tuch war nichts. Es presste sich ein­fach so über Mund und Nase. Ich wirbelte herum, traf jedoch nur den eiskalten Sezier­tisch, der sich leicht ver­schob. Kein men­schlich­es Fleisch um mich herum. Das Tuch nahm mir noch immer den Atem. Chlo­ro­form. Meine Beine ver­sagten und mein Bewusst­sein entschwand in eine noch tief­ere Dunkelheit.

Als ich wieder aufwachte, lag ich unter einem grü­nen Lak­en auf einem dieser Tis­che. Neon­röhren­licht schien durch den Stoff. Schritte bewegten sich an mir vor­bei. Sollte ich mich bemerk­bar machen? Die Schritte ent­fer­n­ten sich durch die Tür. Ruhe.

Ich schaute an mir herab. Ich war nackt. Jemand musste mich aus­ge­zo­gen haben. Mein Kör­p­er zit­terte. So weit würde doch kein Spaß gehen, oder? Ich schluck­te schw­er. Drei Gurte fes­sel­ten mich an den Tisch. Einen spürte ich an den Knöcheln. Ein ander­er span­nte sich über mein Beck­en und die Handge­lenke. Der dritte lag zwis­chen Hals und Brust und drück­te meine Schul­terblät­ter schmerzhaft auf die Liege. Ich kon­nte mich keinen Mil­lime­ter bewe­gen. Nur Kopf und Füße. Deshalb pustete ich gegen das Lak­en und schob es gle­ichzeit­ig mit den Zehen Mil­lime­ter für Mil­lime­ter soweit nach unten, bis ich an ihm vor­bei in den Raum spähen kon­nte. An der gefli­esten Wand neben dem Schreibtisch prangte mein Name in zit­tri­gen roten Let­tern, die nach unten aus­liefen. Direkt darunter lag Dok­tor Jacob. Leb­los star­rten seine Augen an mir vor­bei. Ich hielt die Luft an, um nicht zu schreien.

In diesem Moment sprang die Tür auf.

„Oh, Gott sei Dank, Sam! Befreie mich bitte.“

Sam lächelte und kam näher. Seine Füße berührten den Boden kaum, als schwebte er. Seine Augen waren pech­schwarz und ließen mich keine Sekunde los. Ich spürte seinen Blick auf mir, als wäre es eine echte Berührung. San­ft. Liebevoll. Dann drück­te er seine Nase gegen meine. Sein Mund öffnete sich und hauchte ein schwe­fe­liges „Duu­uu.“

Ich hielt die Luft an und schloss die Augen für einen Augen­blick. Im sel­ben Moment war mir klar: Ich musste ihm in die Augen schauen! Und lächeln. Nur so hat­te ich eine Chance.

Er ent­fer­nte sich wieder von meinem Gesicht, schwebte an mir ent­lang und ließ seine Hand dabei san­ft über das Lak­en gleit­en. An meinen Füßen blieb er ste­hen. Zen­time­ter für Zen­time­ter zog er das Lak­en von mir runter und lachte hys­ter­isch, als er es schwungvoll durch die Luft wirbelte, um es in eine der Wäschebe­häl­ter zu wer­fen. Er zwinkerte mir zu und näherte sich dies­mal auf der anderen Seite meinem Gesicht. Kurz davor stoppte er. „Du bekommst ein Tat­too, Hon­ey.“ Sein gel­ber Fin­ger­nagel bohrte sich in die Haut über meinem Herzen. „Genau da. Einen wun­der­schö­nen Pfeil, auf dem mein Name ste­ht.“ Das Skalpell senk­te sich und ich schrie.

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