FICTION, TOPICAL “FEAR”
Please Don’t Leave: Verlustangst
by mercy ferrars

27/10/2020
Achtung: Der folgende Text behandelt die Verlassens- oder Verlustangst, welche häufig durch emotional-instabile Persönlichkeiten besonders intensiv erlebt wird und traumatisierend wirken kann. Falls dieser Text negative Erinnerungen in dir auslöst, setze dich bitte umgehend mit einer Person oder Institution in Verbindung, die dir unmittelbare Hilfe leisten kann (z. B. Freunde, Verwandte, Therapeut, Klinik). Mehr Informationen über die emotional-instabile Persönlichkeit findest du hier. Eine universelle Beschreibung der Verlustangst finden wir bei Frantz Fanon¹: „Einmal, vor langer Zeit, versuchte ich eine Beziehung zu einem Objekt herzustellen und ich wurde verlassen. (…) Der Verlassungsneurotiker verlangt nach Beweisen. Er ist nicht mehr länger mit isolierten Aussagen zufrieden. Bevor er eine objektive Beziehung eingeht, verlangt er wiederholt Beweise von seinem Partner. Seine zugrundeliegende Einstellung ist ’nicht zu lieben, um nicht verlassen zu werden‘. (…) Er will geliebt werden, vollkommen, absolut und für immer. (…). Man kann diesen intensiven Schmerz, welcher solche Zustände des Verlassenwerdens begleitet, nicht zu stark betonen, ein Leiden, welches den ursprünglichen Erfahrungen des Ausgeschlossenwerdens in der Kindheit entspringt und welches das Individuum sie unermesslich intensiv wiedererleben lässt.’ Die unmittelbare Not, diesen Schmerz zu vermeiden ist es also, woraus sich die Angst vor dem Verlassenwerden bedingt.
Zögerlich öffne ich meiner Angst die Tür. Schnurstracks läuft sie auf meine Küche zu und macht sich einen Tee. Ich beschwere mich nicht mehr. Meine Angst und ich, wir verbringen verdammt viel Zeit miteinander. Sie breitet sich gerne aus und nimmt Raum ein, hinterlässt Teetassenflecken und kleine Aschehäufchen in den Ecken.
Meiner Angst ist es egal, dass meine Nerven bereits blankliegen. Sie setzt sich und schlägt die Beine übereinander und meint: „So. Was hat uns denn dieses Mal wehgetan?“ Wie ein kleines trauriges Häuflein Elend sinke ich in den Stuhl ihr gegenüber, ziehe meine Knie zu meiner Brust und vergrabe gestresst mein Gesicht.
„Wenn du mir nicht antwortest, kann ich auch einfach was kaputt machen“, fängt sie an zu sticheln und bohrt ihren Zeigefinger in meinen Arm.
„Wäre nicht das erste Mal“, grummle ich in meine Knie.
Sie lacht und nickt. Einen Moment lang beobachtet sie mich noch, dann legt sie ihren Kopf schief. „Grundlos bin ich nicht hier. Du weißt, dass ich genauso wenig Lust habe wie du, hier alles dem Erdboden gleichzumachen, nur um mir dann wieder anzuhören, wie du dich beschwerst, weil du alles wiederaufbauen musst. Also was tut dir weh?”
„Alles“, stöhne ich. „Alles tut verdammt weh.“
„Sicher“, sagt sie und zündet sich eine ihrer dünnen, langen Zigaretten an. „Was ist es heute? Schlaflose Nacht gehabt, weil der Nachbar es wagte, zu husten? Hattest du Alpträume, weil du dich gestern krankmelden musstest? Hat der Zahnarzt zu provokant mit seinen Gerätschaften gefuchtelt? Oder hast du dir mal wieder erfolgreich eingeredet, dass dich keiner mag und du völlig alleine bist?“
Ich schaue hoch und kneife meine Augen zusammen. Sie zuckt nur mit den Schultern. „Es ist so viel. Und es wechselt so schnell hin und her, dass ich die meiste Zeit gar nicht mehr weiß, wieso ich dich besuche.“
Einen Moment lang dissoziiere ich von der Situation, mein Blick wandert weit, weit weg. Ins Nichts, dahin, wo mir keiner wehtut, wo mir keiner Fragen stellt. Es ist anstrengend, mit meiner Angst umgehen zu müssen. Es kostet mich den letzten Rest an Energie, den ich so mühevoll zusammengeklaubt habe. Überall um mich herum verwirklichen Menschen ihre Träume, erreichen ihre Ziele; derweil bin ich nahezu unablässig damit beschäftigt, meine Angst davon abzuhalten, Bomben zu zünden und meine Welt in einem Flammenmeer zu ersticken. Tag um Tag versuche ich einfach nur, zu überleben.
Ich will aufstehen, ich will gehen. Einfach weg von diesem beklemmenden Gefühl. Meine Angst ist mir zu intensiv, sie lässt mir keinen Raum. Als ich aufsehe, ist sie schon wieder ein paar Zentimeter näher gerückt und starrt mir provokativ ins Gesicht. Wie gern würde ich einfach aufspringen und die Wohnung verlassen, meine Angst verschwinden sehen, mit jeder Umdrehung ein bisschen mehr, und dann einfach weiterlaufen, bis ich frei bin. Und leicht. Vielleicht kann ich dann auch wagen, zu träumen. Vielleicht kann ich dann lieben.
Aber sie streckt ihre langen, kalten Finger nach meinen Händen aus, und mit toxisch-süßem Gift verspricht sie, mich nicht gehen zu lassen.
„Was immer es ist, auf mich kannst du dich verlassen“, beteuert sie.
Meine Angst ist eine Kämpferin. Jedenfalls sieht sie sich selbst so. Ihren Tee und ihre Zigarette konsumiert sie wie die letzte Ration vor der Schlacht. Am linken Bein baumelt ein Messer, über der rechten Schulter schwebt der Lauf einer Waffe. Ich könnte sogar schwören, dass sie sich heute furchteinflößendes Make-Up ins Gesicht geschmiert hat.
Genau sagen kann ich das nicht, weil ihr Gesicht für mich nie klar ist, weil ich es nicht greifen kann, sie nicht deutlich sehen. Ich weiß nicht, wer da vor mir sitzt, weiß nicht wie ihre Augen aussehen. Ich weiß bloß, dass sie mich zu beschützen sucht. Und dass sie mich dabei erstickt, und ertränkt, und verbrennt. Meine Angst ist eine Kämpferin, aber eigentlich bekriegt sie immer bloß mich.
„Also?“, fragt sie ungehalten und fängt an, aus Spaß schon mal ein Streichholz zu entzünden. Es riecht nach Schwefel, und ich huste pointiert, halte einen Moment inne, und seufze dann. Die Flamme des Streichholzes flackert in meinem Atem und ein Funke hüpft munter über meinen Holztisch.
„Ich stecke in diesem Gefühl fest“, sage ich. Und als ich mir das eingestehe, verschwimmt der Anblick meiner Angst so sehr, dass sie gleichzeitig alles und nichts zu werden scheint. „Ich stecke in diesem Gefühl fest, mit dieser Person…“
„Lass mich raten: mit Augen, bei deren Anblick dir vor lauter Schmetterlingen schlecht wird, weil sie so schön sind?“
„Ja“, grummle ich.
„Aha“, bemerkt sie trocken, „wie auch bei der letzten Person, die so schön war, dass dir schlecht wurde. Nur, dass dann versehentlich unser Garten niedergebrannt ist.“
„Richtig“, murre ich.
Sie legt ihren Kopf schief und rückt noch ein Stück näher, diesmal jedoch, um mich zu trösten. „Magst du mir von dem Gefühl erzählen?“
„Weißt du, genau deshalb ist es so schwierig, dich von meiner Küche fernzuhalten“, sage ich.
„Hm?“, fragt sie überrascht.
„Naja“, meine ich, „du hörst mir zu, und nimmst mich wahr. Erst wenn du hier sitzt, kann ich wieder atmen.“
„Oh“, sagt sie und ich könnte schwören, dass sie dabei errötet, irgendwo im Schleier meines zu schnell schlagenden Herzen.
„Ja“, sage ich, „aber dann ziehst du halt los, und machst einfach Dinge kaputt, und denkst du hilfst mir damit.“
„Fühlt es sich nicht gut an, Dinge kaputt zu machen?“
„Ja“, sage ich, „dabei fällt so viel meiner Panik von mir ab, dass ich erst wieder ruhig werde, wenn ich alleine in den Ruinen sitze, wenn auch du weg bist. Aber wenn du dann weg bist, und ich wieder klar denken kann, dann wünsche ich mir manchmal, wir hätten die Dinge nicht kaputt gemacht.“
Sie schweigt. Ascht ihre Zigarette auf den Teppich.
„Wie auch immer“, fahre ich fort. „Mein Gefühl. Da ist diese Person. Und er ist so schön. Das macht es immer so viel schwerer; und ich meine damit nicht seine Augen, sondern wen ich darin erkenne. Und wenn er bei mir ist und mich berührt, dann liege ich da mit großen Augen und kann mein Glück nicht fassen. Weil, naja, ich glaube nicht, dass ich das verdiene oder dass gute Dinge auf mich warten. Und ich habe so viel Angst vor so vielem, aber in seinen Armen komme ich zur Ruhe, und die schreiende, reißende Welt bleibt draußen. Und mein Gehirn flutet mein Herz mit Serotonin, und meine Depression verblasst wie ein Atemhauch auf Autofenstern im Winter. Und meine schreckliche Angst, nicht schwach sein zu dürfen, aus Furcht zu fallen und nie wieder aufzustehen, schwindet. Ich fühle mich endlich sicher.
„Aber mein Gefühl, mein Gefühl, wenn er geht. Manchmal kann ich es in Worte fassen, dann kann ich es rationalisieren, dann kann ich sagen: er kommt wieder. Aber an manchen Tagen, da gräbt sich eine schreckliche Furcht mit kalten Fingern in meine Haut und reißt an meinen Haaren und flüstert mir immer wieder zu, dass es das nun endgültig war. Dass er fort ist, und fort bleibt. Und es ist so schrecklich, und ich begreife nicht wieso, weil ich doch weiß, dass ich überlebe, auch wenn er geht. Ich kenne meine Stärke und ich baue mir ein Leben, aber wenn sich diese Furcht in mir breitmacht, dann zählt nichts davon. Dann ist es alles eine Lüge.“
„Ich bin also dieses Gefühl“, sagt meine Angst tonlos.
Ich nicke und meine Augen füllen sich mit Tränen.
„Deshalb bin ich so oft hier, und wundere mich, weil doch alles so gut für dich zu laufen scheint?“
Ich nicke wieder.
„Oh, Liebes“, sagt sie traurig.
Sie versteht. Sie versteht, weil sie ich ist und ich bin sie. „Wie kann ich dich beruhigen?“, fragt sie. „Was brauchst du, wenn du in diesem Gefühl festsitzt?“
„Ich brauche Vergewisserung“, sage ich, während meine Angst nachdenklich das nächste Streichholz anzündet und es auf den Teppich gleiten lässt. Mein Blick folgt ihren Händen, aber ich bin unfähig, sie aufzuhalten. Vielleicht ist es ja besser, dieses Gefühl in mir einfach auszubrennen. Langsam ergreift die lodernde Flamme Faser für Faser. Eigentlich ziemlich schön.
„Und gibt er dir diese Vergewisserung?“
Ich schüttle mit dem Kopf.
„Und traust du dich danach zu fragen?“
Ich schüttle wieder den Kopf.
„Wieso nicht?“
Mit bebenden Lippen stoße ich hervor: „Weil ich doch nicht darf. Weil ich Angst habe, dass ihn das belastet und er mich dann erst recht verlässt. Dass ich zu viel bin, zu viel brauche. Ich habe diese Erfahrung so oft gemacht, und gefragt und gehofft. Jemand sagte mal zu mir: ‚Weißt du, du machst es einem nicht einfach, dich zu lieben. Eigentlich machst du es einem ganz schön schwer.’ Ich will nicht, dass es schwer ist. Ich glaube, ich verdiene keine Liebe. Also mag ich so pflegeleicht wie möglich sein. Aber ohne diese Vergewisserung, ohne verstanden zu werden, werde ich mich immer verzweifelt in deine Arme stürzen.“
„Magst du dich jetzt in meine Arme stürzen?“, fragt meine Angst.
Ich nicke.
Ihre Umarmung fühlt sich warm an, vertraut. Ich kenne das Gefühl ihrer Fingerspitzen auf meinem Rücken, an meinem Hinterkopf auswendig, wie sie mir über den Kopf streicht. Ich werde sofort ruhig. Meine Angst trägt mich, und ich weiß, ich kann mich immer auf sie verlassen.
Wir sitzen so, minuten‑, stunden‑, tagelang. Meine Angst trägt mich durch die Tage, durch die Nächte, durch die Stunden ohne Nachrichten, wenn mein Telefon schweigt, mein Herz schreit, mein Schädel vor Druck zu platzen droht, wenn mir die Furcht den Atem nimmt; meine Angst hält mich so fest, dass ich glaube, sie hält mich zusammen. Draußen wird es Tag, es wird Nacht, es wird wieder Tag; das Streichholz ist mittlerweile erloschen.
Plötzlich ist da eine Nachricht. Plötzlich ist da eine Frage, ein Drängen. Natürlich geh ich nicht. Natürlich mag ich dich. Entschuldige… ich bin nur vielbeschäftigt.
Aber ich bin schon so tief in mir selbst versunken, ich bin schon so eins geworden mit meinem Felsen in der Brandung, im wogenden Meer versunken, im Vakuum erstickt. Ich bin schon so weit weg, dass ich nicht mehr zurückkommen kann. Nicht zu ihm, nicht zu schönen Dingen. Und sie flüstert mir so süße Dinge ins Ohr, so vielversprechend, so sicher.
„Bist du bereit?“, fragt sie mich, wenn alles dunkel ist und ich, tief in mir drin, nicht mehr zur Oberfläche vorstoßen kann. Und ich nicke. Denn sie hat Recht. Ich war von Anfang an bereit. Er kommt immer, ob früher oder später, der Moment, in dem mir nichts anderes übrigbleibt als meiner Angst blind zu folgen.
Sie ist so groß und schön in ihrer Rüstung, wie sie ihre Messer wetzt, und ich bin so klein und schutzlos neben ihr. Mehr und mehr kann ich jetzt ihr Gesicht erkennen, weil mein Herzschlag sich beruhigt, weil wir uns bereit machen für das große Feuerwerk, oder vielleicht das Zünden der Bombe—bereit fürs Ende.
Ihre Augen sind ruhig und konzentriert, tief und ewig wie das Sommermeer an seinem tiefsten Punkt. Ihr Gesicht ist durchzogen von Narben, alten und neuen. Sie bemerkt meine Blicke, schaut auf und lächelt. Sie streckt ihre Hand aus und ich stehe auf und ergreife sie. Sie nimmt ihr Messer, und ritzt unseren Verlust in meine Wände, gräbt unsere Gefühle in die Mauer aus Stein. Hochkonzentriert begeht sie anschließend meine Wohnung, kippt Benzin in all die Ecken, über die Pflanzen, die ich voller Liebe aufgezogen hatte, über die Bücher, in die ich meinen Schmerz gesperrt habe, durch die Kleider, die ich mit ihm getragen hatte.
„Okay?”, fragt sie.
„Okay”, sage ich.
Meine Angst zündet eine Fackel. Die Wohnung fasst das Feuer schnell, wie eine Flut verschlingt es meine 45 Quadratmeter, bis alles lodert, alles brennt. Sie nimmt meine Hand, und sie lacht, und plötzlich wird alles so leicht in mir, als ich alles loslasse, alles was ich fühle, alles was mich an die Liebe bindet. Das gleißende Licht der Flammen reflektiert in meinen Pupillen. Und als ich mich umdrehe, ist meine Angst endlich verschwunden.
Müde vom tagelangen Schlaf, vom pausenlosen in-den-Schlaf-weinen. Von intrusiven Stimmen und Gedankenkarussellen, vom Auf und Ab, sitze ich erschöpft in meinem Bett, mit meiner Decke über den Kopf gezogen und meinen Erdbeersocken an den Füßen. Ich nehme mein Handy, und
Ich will dich nicht mehr (Please don’t leave)
ich brenne meine Liebe nieder.
¹Fanon, Frantz. Black Skin, White Masks. Penguin Classics, 2020.
Mehr Prosa von Mercy gibt es auf www.mercyferrars.de.