Das absurde Antidepressivum Albert Camus’

Text Cora­line Forbes
Lek­torat Lara Hele­na

Im Spätkap­i­tal­is­mus wütet eine Epi­demie der Depres­sion, kul­tiviert durch eine Obses­sion mit Indi­vid­u­al­is­mus, durch die wir gegeneinan­der statt miteinan­der leben. In diesem epi­demis­chen Zus­tand büßt der Staat die Pro­duk­tiv­ität sein­er Arbeit­skräfte mitunter ein. Die Lösung? Ein Gesund­heits­dok­trin, das Depres­sion lediglich als ein bio­chemis­ches Ungle­ichgewicht im Gehirn sieht, behoben durch die Verord­nung divers­er Psy­chophar­ma­ka. Funk­tion­iert das eine Mit­tel nicht, erhöht man die Dosis, oder pro­biert das Näch­ste, oder wech­selt in eine andere Medika­menten­klasse; haupt­sache, der Men­sch kann zu sein­er Arbeit zurückkehren.

In der Real­ität sedieren uns diese Medika­mente lediglich, sie stellen uns ruhig, sodass wir so schläfrig und geistig block­iert sind, dass wir kaum mehr die Möglichkeit haben, über unsere Depres­sion nachzu­denken. Wir schweben also dahin in einem Zus­tand, in dem wir den Großteil des Tages ver­schlafen und uns alles ein biss­chen egal wird. Aber dieses egal, diese medika­men­tös erzwun­gene Indif­ferenz, ist nicht das Gegen­teil der Depres­sion. Stattdessen ist sie eigentlich nur ein fettes Pflaster, was wir über eine Wunde kleben, die darunter weit­er fault. 

Nach einem Jahr, in welchem ich zwei ver­schiede­nen Anti­de­pres­si­va eine Chance gegeben habe und keines eine nen­nenswerte Wirkung gezeigt hat, bin ich mir umso sicher­er, dass unsere Lebensweise sowie unser Ver­ständ­nis der Welt und unseres eige­nen Lebens die eigentlichen Aus­lös­er dieser Depres­sion sind. Im Kap­i­tal­is­mus vere­in­samen wir zunehmend und ver­suchen umso panis­ch­er, unsere Leben mit Din­gen zu füllen, die uns kurz vergessen lassen, dass wir nicht so richtig wis­sen, was wir eigentlich suchen. Wir leben gegen andere statt mit ihnen, und uns wird wieder­holt nahegelegt, dass unsere Exis­tenz nur dann Bedeu­tung hat, wenn wir in unserem Leben etwas Pro­duk­tives geschafft haben, etwas hin­ter­lassen, ein biss­chen die Welt verän­dert oder ein Imperi­um aufge­baut haben; der Wert unseres Lebens definiert sich im Min­desten dadurch, dass wir einen Großteil davon mit Lohnar­beit ver­brin­gen. Und einen Sinn muss unser Leben nun­mal haben, da wir uns nicht vorstellen kön­nen, dass wir ein­fach leben um zu leben. Nein, da muss es etwas Höheres geben, anson­sten kön­nen wir uns selb­st nicht begreifen. Wenn wir das Gefühl haben, dass wir unser Leben wed­er nach kap­i­tal­is­tis­chen Werten sin­nvoll gestal­ten, noch nach unseren eige­nen Werten glück­lich sein kön­nen, kommt uns schnell alles ‘sinn­los’ vor.

Als mir vor ein paar Jahren ein beson­deres Buch in die Hand fiel — Lost Con­nec­tions von Johann Hari — war ich besessen davon, die äußer­lichen Dinge, die mir das Gefühl geben soll­ten, geliebt und wertvoll zu sein, zu “repari­eren” — so zum Beispiel mein soziales Umfeld. Ich analysierte meine Fre­und­schaften, tren­nte mich von eini­gen von ihnen, tat mein Bestes, um neue Leute ken­nen­zuler­nen und sie bei mir zu hal­ten; ich dachte, ich kön­nte mein soziales Leben — seit jeher ein wun­der Punkt in meinem Leben — wie Met­all schmieden, und vielle­icht würde mich das davon abhal­ten, mich ständig ein­sam und trau­rig zu fühlen. Das war zwar ein lobenswert­er Gedanke, aber sorgte auch dafür, dass ich mich selb­st gnaden­los unter Druck set­zte und immer wieder frus­tri­ert zurück­ließ wenn meine Ver­suche, mein Leben zu ändern, scheit­erten. Ich biss die Zähne zusam­men und ver­suchte, um jeden Preis glück­lich zu wer­den, und das machte mich so unglück­lich, dass ich mir immer wieder wün­schte, ich müsste die Last dieses Lebens nicht tra­gen. Wenn ich mir die Men­schen um mich herum anschaute, auch jene mit psy­chis­chen Erkrankun­gen, schienen sie para­dox­er­weise alle ihr Leben im Griff zu haben. Obwohl ein Teil von mir wusste, dass unser Leben nach außen hin immer glänzen­der aussieht, als es ist, war ich überzeugt, dass ich irgend­wie eine von denen war, die ein­fach mit allem scheit­erten — dabei gab ich mir doch solche Mühe. 

Eine Bera­terin, die ich auf­suchte, sagte mir: “Du erwartest Dinge vom Leben und bist frus­tri­ert, wenn sie nicht schnell kom­men, aber vielle­icht kön­ntest du dir auch erlauben, das Leben ohne Druck zu erkun­den.” Ich lehnte mich zurück, lächelte und sagte ihr, dass ich nicht gut darin bin, ein­fach abzuwarten bis sich die Dinge ergeben, denn wenn sie es dann nicht tun, würde mich das furcht­bar ängstlich machen. Meine Äng­ste erlauben es mir nicht, “ein­fach nur zu erkun­den.” Ich ver­traue nicht darauf, dass mir gute Dinge ein­fach so passieren, und manch­mal denke ich sog­ar, dass “nicht genug gute Dinge passieren wer­den” … was auch immer das heißen mag. Als ob ein Leben nur dann gut wäre, wenn eine bes­timmte Anzahl guter Erfahrun­gen gemacht würde. 

“Ich stelle fest, dass alles in Ord­nung ist”

Mir kam das alles absurd vor, warum müssen wir Men­schen über­haupt über die Exis­tenz nach­denken? Warum kön­nen wir nicht ein­fach die Tiere sein, die wir im Grunde sind; ein­fach essen und schlafen und dann das Ganze wieder­holen. Je mehr man darüber nach­denkt, wie sinn­los das Leben ist, und sich fragt, warum man es über­haupt noch lebt, desto mehr sucht man nach ein­er Lösung für diesen Schmerz. Das ist der Grund, warum so viele depres­sive Men­schen Selb­st­mord bege­hen oder zu bege­hen ver­suchen, und auch der Grund, warum so viele Men­schen ihr Leben der Reli­gion oder der Spir­i­tu­al­ität wid­men: weil sie sich endlich ein­er höheren Führung hingeben kön­nen und sich so der Ver­ant­wor­tung entledigen. 

Und das ist kurz gesagt “das Absurde”, ein Begriff, den ich vor allem mit Albert Camus und seinem Buch Der Mythos des Sisyphos verbinde. Als ich dieses Buch das erste Mal las, ver­stand ich nichts. Als ich es das zweite Mal las, kam ich zu dem Schluss, dass das Leben keinen Sinn hat, und es stürzte mich in eine depres­sive Episode. Aber das Schöne an diesem Buch ist, dass es dich auf dein­er Reise begleit­et und dich bei jedem Schritt mit Weisheit ausstat­tet. Und irgend­wann in den let­zten Tagen habe ich, glaube ich, endlich ver­standen, warum Camus vom tragis­chen Held Sisyphos in der griechis­chen Mytholo­gie erzählt, der von den Herrsch­ern der Unter­welt dazu ver­dammt wird, einen Stein immer wieder einen Berg hin­aufzurollen, nur um ihn wieder hin­un­ter­rollen zu sehen, und den­noch schlussfol­gert: “Man muss sich Sisyphos glück­lich vorstellen” und “Ich stelle fest, dass alles in Ord­nung ist.”

Noch vor weni­gen Monat­en hat es mich so wütend gemacht, dass von mir erwartet wurde, glück­lich zu sein, wenn ich mein Leben nicht so gestal­ten kon­nte, wie ich es brauchte. Aber vielle­icht bedeutet es wirk­lich, dass die Tat­sache, dass nichts irgen­det­was bedeutet, uns die Frei­heit gibt, zu tun, was immer wir wollen. Der Men­sch fühlt sich genötigt, sein Leben zu lenken, aber in Camus’ Konzept der Absur­dität trägt dieses Dirigieren der eige­nen Exis­tenz keine Früchte. Es gibt für ihn lediglich den Tod als einzige Gewis­sheit, doch anstatt diese Gewis­sheit als Ein­ladung zum Ster­ben zu ver­ste­hen, fordert er: “Es geht darum, zu leben”. Anstatt sich an eine Zukun­ft oder einen Gott zu klam­mern, soll­ten wir uns den unzäh­li­gen Erfahrun­gen hingeben, die für uns bere­it­ste­hen. “Der absurde Men­sch […] sieht ein bren­nen­des und kaltes, durch­sichtiges und begren­ztes Uni­ver­sum, in dem […] alles gegeben ist und jen­seits dessen alles Zusam­men­bruch und Nichts ist. […] [Das bedeutet] Gle­ichgültigkeit gegenüber der Zukun­ft und der Wun­sch, alles zu ver­brauchen, was gegeben ist”, schreibt er. 

Offen gesagt, das macht Sinn. Wenn ich mein zwang­haftes Bedürf­nis zu lenken loslasse —  gle­ichgültig gegenüber der Zukun­ft werde, indem ich Gedanken aufgebe, die mit “was, wenn…” begin­nen — kann ich mich stattdessen darauf ein­lassen, dass vielle­icht lange nichts passiert und es hier und da Inseln der Schön­heit gibt, in denen mich das Uni­ver­sum inspiri­ert — und es genau so okay ist. Dann kann ich ein­fach sein — abseits von den Werten eines kap­i­tal­is­tis­chen Sys­tems, abseits ein­er Gesellschaft, die behauptet, dass ich glück­lich sein muss; und dass sich dieses Glück durch eine Anzahl x sozialer Kon­tak­te, Errun­gen­schaften oder Erfahrun­gen bed­ingt. Vielle­icht ist die Erlaub­nis zum Unglück­lich­sein und “halt ein­fach zu chillen” ein natür­lich­es Anti­de­pres­sivum. Der zen­trale Punkt ist, dass wir uns den Druck vom Leben nehmen und uns erlauben, ein­fach mal da zu sein und zu schauen, was passiert, und es auch nicht zu bew­erten, wenn vielle­icht nichts passiert. Und natür­lich macht mir das erst­mal Angst, nichts zu kon­trol­lieren, aber es bedeutet auch, dass ich ein­fach weinen darf, wenn ich mich ein­sam füh­le. Es bedeutet auch, dass sich dieser trau­rige Moment dann nicht in eine depres­sive Episode ver­wan­delt, die sich durch Gedanken wie “es sollte anders sein, so hat mein Leben keine Bedeu­tung” ecetera definiert. Ich kann ein­fach Farbe auf ein Blatt Papi­er schmieren und mich in der acht­samen Erfahrung wohlfühlen, zu erleben, wie sich die Farbe auf mein­er Haut anfühlt und wie sie sich mit anderen Far­ben ver­mis­cht und wie sie mit dem Papi­er inter­agiert, ohne dass ich erwarten muss, ein Meis­ter­w­erk zu erschaffen. 

Das Leben ist sowieso tödlich, ich möchte meines ganz ein­fach nicht voller Bedauern leben; und Bedauern ist meine Beziehung zu meinen Erfahrun­gen, nicht die Erfahrun­gen selb­st. Wenn ich in der Lage bin, Erfahrun­gen zu schätzen, wird Bedauern unmöglich. Ich hoffe nur, ich kann mich an die Sinnlosigkeit des Lebens erin­nern, wenn ich das näch­ste Mal depres­siv bin, weil mein Leben sinn­los ist. 

Buchtipp: Albert Camus — Der Mythos des Sisyphos

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