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Eine Millennialkrise

Text Mer­cy Fer­rars
Lek­torat Lara Hele­na

“Dreißig” heißt die Krise, die sich pünk­tlich im 29. Leben­s­jahr bei mir vorgestellt hat. Mit Dreißig kom­binieren sich die Erwartun­gen ver­gan­gener Gen­er­a­tio­nen mit den teil­weise um ein ganzes Jahrzehnt ver­set­zten Lebensläufen der Mil­len­ni­als in einen Molo­tov-Cock­tail, der gerne zu den unmöglich­sten Zeit­en zün­delt. Auf ein­mal crusht mich von links die rezidi­vierende Pop-Punk-Obses­sion, die mein Spo­ti­fy seit Jan­u­ar als Geisel hält, ich färbe mir wieder die Haare bunt und wäre gerne hedo­nis­tisch wie Effy in Skins; und auf der anderen Seite liegen mir Mas­ter­studi­um, Verträge und chro­nis­che Stressverspan­nun­gen wortwörtlich im Nack­en. Vom Erwach­sen­wer­den, oder Erwach­sen­sein — werde ich noch oder bin ich schon? Oder ist das nicht irgend­wie eine Lüge, die gerne mal vor den eige­nen Kindern aufgetis­cht wird, um authen­tisch zu bleiben, aber eigentlich “wird” man noch das ganze Leben lang? Hm. 

Fest ste­ht: Wo man eigentlich denkt, man hätte sich jet­zt so unge­fähr gefun­den oder weiß zumin­d­est, wo man hinge­ht, wird es für mich auf ein­mal ziem­lich kom­pliziert mit der Exis­tenz. Einen Bach­e­lorab­schluss kann ich immer­hin vor­weisen, anson­sten sieht die Check­liste für Dreißig ziem­lich mick­rig aus. Aber als Pro­to­typ ver­heiratet und ver­ar­beit­et habe ich mich eigentlich auch noch nie gese­hen. Stattdessen starte ich hier und da mal Pro­jek­te, schau mal wo es hinge­ht und bin gle­ichzeit­ig nie wirk­lich zufrieden damit, wo es dann hinge­ht. Eigentlich bin ich per­ma­nent damit beschäftigt, aufs Leben irgend­wie klarzukommen. 

Dreißig ist ein Moment, der sicht­bar macht, was ich eigentlich selb­st gerne erre­icht hätte, was mir nicht gelun­gen ist, was mir fehlt. Es ist die Zwis­chen­summe mein­er ersten drei Jahrzehnte, ein biss­chen Bilanz ziehen — murks, unan­genehm, wenn man mich fragt. Eine Dead­line zum Erwach­sen­wer­den, nur dass ich mich aus­nahm­sweise schon ein halbes Jahr vorher stressen lasse. Dabei hätte ich ger­ade das gerne prokrastiniert. 

Damit bin ich nicht alleine: Eine ganze Gen­er­a­tion wird jet­zt, in den 2020er Jahren, Dreißig. Als Mil­len­ni­als steck­en wir in einem ewigen Kreis­lauf aus lebenslan­gen unbezahlten Prak­ti­ka, uner­wartet gesiezt wer­den und einem ziem­lich unsicheren und wack­li­gen Ver­such, die eigene Time­line zu definieren. Unsere Eltern waren unge­fähr mit dreißig ver­heiratet und fest in die Kar­riere einges­pan­nt. Und wir wis­sen nicht so richtig, wie wir das alles jonglieren sollen und leben eigentlich in einem Zus­tand völ­li­gen Ver­mei­dens, bis irgend­je­mand mal sagt “Wir sind ja auch schon fast dreißig, da soll­ten wir-.” Boom. Unser ungestörtes, friedlich­es Dahin­flanieren durch die Zeit sieht sich plöt­zlich von Erwartun­gen bom­bardiert. Ein­mal die Box der Pan­do­ra geöffnet, kriegen wir sie auch nicht mehr zu, selb­st wenn ihr uns mit unserem ganzen Kör­pergewicht drauf­schmeißen. “Ja, ich habe ja gehört, nach dreißig sind die Sin­gles, die noch übrig sind, ein­fach irgend­wie nicht beziehungstauglich.” Pfui. Und plöt­zlich bist du mit deinen 29 Jahren alt. Kurz vorm Abtrans­port in die Altk­lei­der­samm­lung. Plöt­zlich ver­steckst du dein Alter auf Social Media. Wenn du bis Dreißig nicht Partner*in und Kar­riere etabliert hast, good f*cking luck. Aber irgend­wie kommt Dreißig eben auch sehr uner­wartet. Meine jugendliche Vorstel­lungskraft hat nicht mal bis 29 gere­icht. Ich habe keine Idee, was ich vom Leben von hier an zu erwarten habe. Do you?

Wie so oft erk­läre ich mir bes­timmte Erwartun­gen, die an einen gestellt wer­den, wenn man dreißig wird, mit dem Kap­i­tal­is­mus. Oder dem Patri­ar­chat, wahlweise. Wenn auf unzäh­li­gen “To-Do Before 30” Buck­et Lists beispiel­sweise Dinge wie um die Welt reisen, im Aus­land leben oder Road­trips ste­hen, impliziert das gle­icher­weise, dass die Welt von uns nach 30 erwartet, an Fam­i­lie, Kinder und Beruf gebun­den zu sein. Das war halt mal so, vor langer Zeit. Als Mil­len­ni­als wis­sen wir zwar, dass das nicht mehr unser Pfad ist, sind aber gle­ichzeit­ig clue­less, wo es denn stattdessen hinge­hen soll, weshalb wir gerne mal sagen “nimm das Leben wie es kommt”. Ab und zu schauen wir ein biss­chen nei­disch auf die Boomer, not gonna lie, und bewun­dern ihre Unab­hängigkeit, ihre Pro­fes­sion­al­ität und ihre Ruhe. So viel Ver­ant­wor­tung, und wir fühlen uns doch irgend­wie noch als wären wir zwanzig, manch­mal und meistens. 

Dreißig: Inven­tur fürs Leben 

Die Dreißig wird gerne mal fürs Aufräu­men instru­men­tal­isiert. Ohne Frage ist jede Dekade, die wir hin­ter uns gebracht haben, irgend­wie ein Meilen­stein, und da unter­schei­det sich die Dreißig nicht von der Zwanzig oder der Fün­fzig. Aber die Dreißig scheint den Über­gang eines zwan­glosen Zwanziger Daseins in ein mehr struk­turi­ertes Leben darzustellen. Ganz natür­lich, dass da Gedanken aufkom­men wie 

Wieso ist das alles noch nicht so, wie es ich es mir mit 15 vorgestellt hat­te?
Werde ich alleine ster­ben?
Muss ich jet­zt irgen­det­was Grundle­gen­des ändern, damit mich die Gesellschaft wieder lieb hat?

Aber wer legt eigentlich fest, dass Dreißig dieser Meilen­stein sein muss — oder über­haupt irgen­deine Dekade? Eigentlich ist die Reise doch das Ziel. Wenn wir dann sagen kön­nen, jet­zt habe ich meine Abschlüsse, meine Kar­riere, meine Road­trips gemacht, Haus und Ehe; dann bewegt sich doch erst­mal nicht mehr viel. Dann ste­hen die Dinge still, und wir zeigen auf sie und flüstern: “Abge­hakt.” Und dann suchen wir uns das näch­ste Ziel, weil wir son­st spätestens mit der aufk­om­menden Krise Vierzig oder Fün­fzig in ein­er Midlife Cri­sis versinken. 

Ich glaube das men­schliche Gehirn ord­net und struk­turi­ert gerne. Deshalb gibt es unser Sys­tem der Zeit, Konzepte der Zukun­ft oder Ver­gan­gen­heit, und last but not least Verträge für alles. Es macht Sinn, dass wir unser Leben dann in Zehn­er­schritte ein­teilen und unsere Ziele danach richt­en. Schließlich ord­nen wir als Gesellschaft auch gern andere Dinge, beispiel­sweise was als akzept­abler Lebensweg gilt. Aber auch hier gilt schlussendlich die Regel: Wer lebt, um andere glück­lich zu machen, verliert. 

Und über­haupt. Vielle­icht ist diese Angst vorm Dreißig wer­den eine Mil­len­ni­al-Sache. Wieso es aus­gerech­net uns so viel Angst zu machen scheint, weiß ich nicht. Denn eine schnelle Google­suche ergibt, dass es min­destens so viele Gründe gibt, sich auf die Dreißiger zu freuen wie sie zu fürcht­en, wenn wir es ihnen schon erlauben, uns so emo­tion­al zu umtreiben. Die Rede ist von ein­er Gelassen­heit, die Welt und unsere Mit­men­schen zu durch­blick­en und sich nach ein­er wilden Achter­bah­n­fahrt in den Zwanzigern auch endlich selb­st bess­er zu begreifen. Der Mythos sug­geriert, dass wir in den Dreißigern plöt­zlich unseren Kör­p­er lieben wie er ist und den meis­ten Erfolg in Kar­riere, Liebesleben und Fre­und­schaft haben wer­den, weil wir in den Zwanzigern dafür die Grund­lage gebaut haben. Nicht zu vergessen der Zugang zu “Adult Mon­ey” (wenn wir es dann mal schaf­fen wür­den, unser Studi­um abzuschließen). Und das Priv­i­leg, sich the­o­retisch sowohl zum CEO hoch zu arbeit­en und sich gle­ichzeit­ig am Woch­enende noch die Leber weg­ballern zu kön­nen, wenn man denn will, weil man nun sowohl in den Gefilden der ernst genomme­nen Erwach­sen sowie im jugendlichen Wahnsinn verkehren kann. Das Beste aus bei­den Welten. 

Dann ste­hen die Dreißiger also dafür, alles zu tun, worauf man ger­ade Bock hat, aber dabei eben schlauer und weis­er zu sein als zehn Jahre zuvor. Und ja, ide­al­er­weise würde ich mir diese Weisheit der Dreißig schnap­pen und damit für immer in meinem 25. Leben­s­jahr leben, als mein Kör­p­er noch nicht bei jed­er Bewe­gung Abnutzungs­geräusche von sich gegeben hat. Man kann ja träu­men. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Dreißig als vogel­freien mag­i­cal space zu ver­ste­hen, in dem wir den Din­gen mit müh­sam und schmerzhaft erkämpfter Erfahrung begeg­nen, und wir uns den­noch nicht in vorge­fer­tigte Erwartun­gen pressen lassen müssen. Ob ich diesen Text mit Vierzig nochmal genau­so wieder schreiben werde? Vermutlich. 

Ferrars & Fields Magazine 

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