FICTION, TOPICAL “FUTURE”
Süß wie Mojadensaft
by Jol rosenberg

12/10/2021
Lea lehnte sich zurück und betrachtete ihr neustes Design. War es gelungen? Früher hatte sie mit einer spielerischen Leichtigkeit Tattoos entworfen und präsentiert. Ja, sie hatte auch damals viel als nicht gelungen aussortieren müssen, aber es gab nie einen Zweifel daran, dass der nächste große Entwurf nicht lange auf sich warten ließ.
Diese Leichtigkeit war ihr in den letzten Wochen verloren gegangen. Der Schatten des Alters war über ihr Leben gefallen, groß und nicht zu übersehen, auch wenn sie immer mehr Geld für Regenerationsbehandlungen ausgab. Trotzdem musste sie weiter Leistung bringen und dafür sorgen, dass Bodyness seinem Ruf gerecht wurde. Schließlich war es eine Ehre, für eine so renommierte Firma zu arbeiten!
Sie zwang sich, weiter zu lächeln. Ihr Blick wanderte über die Vogelfedern, die sich über das Display wanden, filigran, zart und mit einem sanften Farbverlauf. Lea zoomte eine Stelle heran und korrigierte die Farbe. Doch, es war schön. Es war sogar wunderschön. Sie schob das Design über den vom Programm zur Verfügung gestellten Beispielkörper: schlank, mit zierlichen Handgelenken und einem schmalen Hals, wie alle Menschen aus der Kuppelstadt. Sie musste das Design so anpassen, dass es perfekt mit den gerade modernen Körperformen harmonierte. Der Po war immer eine besonders anspruchsvolle Region, die Stelle, an der die Rundung in den Rücken überging. Wenn man die Linien und Formen eines Designs perfekt anpasste, konnte es die Schönheit eines wohl gerundeten Körpers auf eine Art betonen, die schon beim reinen Betrachten Lust auslöste. So ein Design bereitete nicht nur der Person Freude, die es trug!
Lea zog ihren Finger über den Eingabetisch, tupfte konzentriert auf die Stellen, an denen Korrekturen nötig waren. So. Ja. Sie lächelte breiter und kleidete den Bildschirmkörper mit einem der gerade modernen Overalls an. Der tiefe Rückenausschnitt hob die bearbeitete Stelle hervor. Das würde ein Renner werden! Sie färbte den Overall in einem changierenden Grün ein, das perfekt mit dem Grün-Braun ihres Federmusters harmonierte.
Hinter sich hörte sie Schritte. Schritte, die sich auf sie zubewegten und stetig langsamer wurden, bis sie zum Stehen kamen.
„Was meinst du?“, fragte Lea, ohne sich umzudrehen. Kaum merklich korrigierte sie ihre Körperhaltung, senkte die Schultern, streckte den Rücken. Niemand sollte sie bei einer Nachlässigkeit ertappen.
„Gut,“ gurrte ihr Kollege. „Fast ein wenig zu gut.“
Er flirtete nur. Zu gut gab es nicht. Was man von zu schlecht leider nicht sagen konnte. Sie wartete, bis seine Schritte wieder verklungen waren und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Städtische Gesichter waren wesentlich nuancierter als untere Rückenpartien. Deshalb gab es auch eine Anzahl von Beispielgesichtern, verschiedenen Gesichtstypen, an die sie ihr Design anpassen musste. Sie würde Stunden damit zubringen, Tage. Aber es würde sich lohnen! Sie war sich sicher, dass sie die Freigabe bekommen würde, um dieses Design zur Vollendung zu bringen. Sie hatte Lust darauf, es an die Hautfarbenskala anzupassen. Aber das war verfrüht. Jetzt reichte es, eine Beispielversion zu perfektionieren. Bis dahin gab es noch einiges zu tun, bevor sie das Design offiziell präsentieren und die Freigabe zur Fertigstellung erlangen konnte.
Ein Freund von Sulan hatte zu einer Party eingeladen. Lea wusste nicht mehr, welcher. Sie schienen alle so gleich, mit ihren jugendlichen Körpern und den stets lächelnden Gesichtern. Natürlich musste sie hingehen. Niemand hatte etwas davon, wenn sie Sulan enttäuschte. Schließlich war er ihr offizieller Partner! Auch wenn sie insgeheim dachte, dass der Vermittlungsalgorithmus sich geirrt hatte. Sulan passte nicht zu ihr.
Am Abend stand Lea mit einem filigranen Glas in der Hand vor der transparenten Fassade des Partyraums in Sektor C. Hier draußen war das Wummern der Musik kaum hörbar; das Wasser eines Springbrunnens hingegen plätscherte leise. Partyräume waren gut isoliert, damit die Geräuschentwicklung niemanden störte.
Sektor C. Wer auch immer diese Party gab, ließ sie sich etwas kosten. Dafür war die Einrichtung perfekt: Lea bewunderte das bläulich schimmernde Glas, hinter der die Feiernden sich bewegten. Über die Wände des Raumes wanderten sich verändernde Muster, in perfekter Harmonie mit den Bewegungen der Menschen. Die meisten trugen Oceanwave. Lea hätte sich gefreut, dass ein Tattoo-Design so erfolgreich war. Leider war es nicht von Bodyness, sondern von Corpora, der einzigen ernstzunehmenden Konkurrenz. Lea musste unbedingt ihr Vogeldesign vorantreiben. Milan würde sie es nennen. Das klang gut und hatte ein historisches Flair, wie dieses Oceanwave, das nach irgendwelchen uralten Gewässern der Außenwelt benannt war. Ihr Milan würde das Wellenmuster davonfegen, da war sie sich sicher. Schade, dass niemand von Bodyness auf die Idee mit den Wellen gekommen war. Sie war verdammt gut. Wenn man davon absah, dass die falsche Firma es vertrieb.
Lea straffte sich. „Spiegel!“ Ihr persönlicher Assistent nutzte eine naheliegende Kamera, um ihr ein Abbild von sich zu projizieren. Es hing in der Luft vor ihr, verkleinert und somit einigermaßen unauffällig. Sie musste wieder hineingehen. Und sie konnte es auch: Sie sah perfekt aus! Das bordeauxrote Kleid, dessen glatter Stoff in drapierten Falten von ihren Schultern fiel, harmonierte mit den kleinen spitzen Ecken des Dreieckmusters, das sich über ihren Körper wand. Ein Design von Bodyness. Natürlich, niemals würde sie sich dazu herablassen, ein Produkt der Konkurrenz zu tragen! Sie wischte die Projektion beiseite und trat durch die Tür.
Später am Abend war Lea etwas schwindelig. Sie hatte sich neben den Drinks, die bei einer Party dieser Preisklasse nicht nur Alkohol enthielten, noch eine Kurvandosis auf eigene Kosten gegönnt. Die Farben der Wanddekoration und der Kleidung der Tanzenden wirkte so bunter, die Musik erregender. Lea trat aus der wogenden Menge heraus zur Seite. Die ersten Besucher verloren bereits die Fassung, hielten sich nicht mehr ganz so, wie es ziemlich war. Lea musste aufpassen, dass ihr das nicht auch geschah. Auf einer Party wurde es toleriert. Trotzdem war nicht garantiert, dass es nicht zu einem Statuspunkteabzug führte. Und den konnte sie sich nicht leisten. Den Hals aufrecht, die Hände, die das Glas hielten, grazil. Das Lächeln perfekt. Ja, alles stimmte.
Sulan wirbelte vorbei, am Arm eines jungen Mannes, der etwas zu kräftig war. Als habe sich dessen persönlicher Assistent bei den erlaubten Kalorien verrechnet. Sulan schien ihn zu mögen, seine Hand lag vertraulich auf dem Oberarm des Anderen. Er hatte Lea als seine Partnerin vorgestellt und sie hatte strahlend neben ihm gestanden und dem Fremden zugenickt. Es war unhöflich, ihn anders zu behandeln, nur weil sein Körper nicht ganz der Mode entsprach. Merkwürdig, trotzdem, dass Sulan sich mit ihm abgab. Er legte Wert auf Perfektion. Auf Einpassung. Genau das war ja der Grund, aus dem er nicht ganz zu Lea passte. Er war zu … glatt. Ja, das war das richtige Wort. Sie sah den beiden zu. Sulans straffer Körper stand im Kontrast zu seinem Tanzpartner. Wahrscheinlich war Sulan das bewusst. Vielleicht tanzte er nur aus diesem Grund mit ihm … nein. Es war gemein, so zu denken. Lea konnte es nicht wissen.
Jemand schob sich neben Lea, eine Schulter drückte sich sanft gegen ihre. Lea sah zur Seite. Mari! Sie trug immer noch dieselbe Frisur wie letzte Woche, obwohl die Locken nicht mehr perfekt lagen.
„Bist du gerade gekommen?“, fragte Lea.
Mari nickte und sah auf Leas Glas. „Du hast ziemlich Vorsprung, nicht wahr?“ Sie winkte einem Serviceroboter und nahm ein Getränk. Mit Mari konnte Lea gut schweigen. Das war schon im Kinderzentrum so gewesen: Mit Mari hatte Lea auch auf der Strafbank sitzen können. Sitzen und wissen, dass es ausreichte, auch wenn gerade ein Fehltritt passiert war. Dass keine perfekten Worte gesucht werden mussten. Lea wagte einen Seitenblick auf die Freundin. Ihr Tattoo-Design war nicht das neuste. Aber immerhin war es von Bodyness. Sanft lehnte Lea ihren Arm an Maris. Auf sie konnte sie sich verlassen! Gemeinsam sahen sie den Tanzenden zu.
Lea mochte Sulans Art, sich zu bewegen. Die Art, wie er seinen Körper gegen den Rhythmus stemmte, nie wirklich im Takt. Das Einzige an ihm, das ein wenig rebellisch war. Wie er seine Hüfte etwas vorschob beim Folgeschritt, die Knie leicht gebeugt und dann, eine Millisekunde zu früh, den Fuß hob und zur Drehung ansetzte. Wahrscheinlich erlaubte er es sich nur deshalb, weil er es nicht wahrnahm. Übersahen persönliche Assistenten so etwas manchmal? Ihrer hatte ihren Tanzstil so lange korrigiert, bis er perfekt war. Zumindest hoffte sie das.
„Er ist süß, nicht?“ Mari nippte an dem Glas, das sie leicht zwischen zwei Fingern hielt.
Meinte sie Sulan oder diesen unförmigen Fremden?
„Süß wie Mojadensaft“, erwiderte Lea.
Sie wusste selbst nicht, warum sie das sagte. Sie hasste Mojadensaft. Und Mari wusste das.
Mari legte den Kopf schräg und zog einen Schmollmund. „Er ist süß“, beharrte sie und legte den Arm um Leas Hüfte, leicht und doch fest. Lea lehnte sich an die Schulter ihrer Freundin. Vielleicht war Sulan süß. Süß wie Leas gesamtes Leben. Wie warm Maris Körper war! Später würde Lea ihr sagen, dass sie unbedingt zum Haardesigner musste. Diese Frisur war wirklich nicht mehr tragbar! Doch jetzt konnte Lea den Moment genießen, die Wärme des vertrauten Körpers und das Wissen, dass sie noch diese Woche den Milan präsentieren würde.
LEKTORIERT VON LARA HELENA.
Lea ist die Protagonistin der Etomi-Dilogie, die im Herbst 2023 bei Plan9 erscheint. Davor gibt es im Herbst 2022 Jols Romandebüt. Infos dazu gibt es im Web auf www.jol-rosenberg.de. Jol ist bei Instagram und Twitter.