Text yvonne tunnat
Lektorat MERCY FERRARS
fOTO VLADO PAUNOVIC
In Kia Kahawas Roman Endstation leben die Menschen 140 Jahre lang. Nur leider bleiben dabei nicht alle immer wach.
Kia Kahawas dystopischer Science-Fiction Roman Endstation – die Passepartout-Files (erschienen 2021 bei Polarise) spielt gegen Ende des 22. Jahrhunderts. In ihrer Bioutopie werden die Menschen im Schnitt 140 Jahre alt, Krankheiten ausgerottet, und die Gesellschaft erreicht einen utopischen Gesundheitszustand. Doch immer wieder fallen Menschen aus unerklärlichen Gründen ins Koma – ob jung oder alt, reich oder arm. Endstation ist der erste Teil einer Trilogie.
Der Protagonist Noah Cline arbeitet für die mittlerweile einzige Krankenversicherung in Deutschland, Global Insurance. Die Versorgung der im Koma liegenden Personen ist kostenintensiv, nicht alle sich können sich die Betreuung über Jahre und Jahrzehnte leisten. Noah und seinen Kolleg*innen kommt die Entscheidung zuteil, Menschen „abzuschalten“. Jeder Fall muss eingehend geprüft werden und möglichst vermeiden, dass Global Insurance zu oft verklagt wird. Dies wirkt sich auf den Score aus – je höher dieser ist, desto schlechter. Ab einem Score von etwa 18 ist man nicht mehr tragbar und wird entlassen. Noah hat einen Score von null und ist somit der erfolgreichste Mitarbeiter von Global Industries. Doch auch Noahs Freundin Lucy ist vor einigen Jahren ins Koma gefallen, und jede Woche erhält er ihren Antrag erneut auf dem Tisch. Immer lehnt er die Abschaltung ab – in der Hoffnung, sie könnte eines Tages wieder erwachen.
Das sogenannte „Hypophysenkit“ ist im Kopf eines Menschen implantiert und sorgt dafür, dass der Mensch nicht krank wird. Bei einer Abschaltung wird das Hypophysenkit deaktiviert. Die Deaktivierung stoppt die Synthetisierung lebenserhaltender Substanzen und führt innerhalb kürzester Zeit zum Tod. Es wäre ein wenig zu utopisch zu glauben, dass sich die Menschheit dieser fremden Entscheidungskraft einfach so hingeben würde. Oftmals werden Abschaltungen im Nachhinein angefochten, meist von Hinterbliebenen. Als Folge werden vorzugsweise Menschen ohne Angehörige oder alte Menschen Opfer der Bürokratie.
Beraten wird Noah bei seiner Arbeit von einer KI, die mit der Zeit sein Freund geworden ist. Da ihre Typenbezeichnung die Ziffern 1 9 8 4 beinhalten – eine Anspielung auf das gleichnamige dystopische Werk von George Orwell – nennt Noah sie schlichtweg „Orwell“. Die KI kann aufgrund der Datenlage zwar Empfehlungen aussprechen, letztendlich entscheiden muss aber ein Mensch. Ähnlich wie die KI im Film Her von Spike Jonze lernt Orwell dazu und entwickelt eine Art Charakter, nicht zuletzt durch die Freundschaft zu Noah.
Vergehen werden umgehend mit der Todesstrafe vergolten
Doch nicht nur im Koma liegende Menschen können abgeschaltet werden. Dasselbe Schicksal trifft unter anderem auch Kriminelle. Abgeschaltet werden kann dank der zukünftigen Technik auch aus der Ferne. Ist das gesundheitserhaltene System erstmal außer Kraft gesetzt, lässt der Tod nicht lange auf sich warten. Die Todesstrafe spielt in dieser Dystopie also eine zentrale Rolle – sicherlich eine interessante Zukunftsprognose. Da fast alle Aktivitäten online stattfinden und Überwachung sich einfach gestaltet, ist es auch kaum möglich, unbemerkt gegen das Gesetz zu verstoßen.
Alsbald entdeckt Noah, dass an Koma-Patient*innen biologische Experimente durchgeführt werden. Oftmals führen diese experimentellen Operationen zum Tod der Versuchssubjekte. Obwohl die Weltethikkommission dies ausdrücklich verboten hat, versucht das medizinische Personal, die Organe von komatösen Patient*innen durch künstliche Organe zu ersetzen. Auch wenn die Forschungsfrage hier vielleicht ihre Berechtigung hat – inwieweit kann ein Mensch durch Technik ersetzt werden? – verliert ein Menschenleben gegen die Empirie.
Noah sorgt sich um seine Freundin Lucy, die ebenfalls in dem riesigen Gebäude der globalen Krankenversicherung im Koma versorgt wird. Auch sie ist in Gefahr. Als Noah beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen, schmuggelt er gemeinsam mit seinem Vater und seiner Schwester dessen KI „Passepartout“ in das System ein, die für sie Daten sammeln und analysieren soll. Die bereits installierte KI Orwell können sie hierfür leider nicht verwenden, da Orwell so programmiert ist, dass er der Versicherung Bericht erstatten müsste. Doch damit die IT-Abteilung der Krankenversicherung keinen Verdacht schöpft, können sie nur wenig Bandbreite nutzen und der Transfer dauert seine Zeit. Außerdem muss sich Passepartout vor Orwell verbergen. Das gelingt nicht lange und die beiden KIs beginnen eine Unterhaltung.
Sprache der Zukunft, Dateiformate von gestern
In Dystopien, welche sich auf zukünftige Gesellschaften beziehen, ist es interessant zu beobachten, welche Facetten des Lebens sich im Vergleich zu heute verändern. Was das Gendern betrifft, hat die Autorin vortrefflich in die Zukunft gedacht. So nutzen einige Figuren, wie auch die KI „Passepartout“, das Personalpronomen „ser“. Auch alle anderen Formen (ses, sem, sen, ses, sesse) werden benutzt und im Anhang kurz den anderen beiden Pronomen gegenübergestellt. Das fügt sich beim Lesen gelungen ein. Die Mehrzahl wird auch nicht mit einem Doppelpunkt gebildet, sondern mit dem Suffix „ex“. Einige verwendete Pluralformen lauten „Beamtex“, „Aktivistex“ und „Abschaltex“.
Einige Dateiformate gibt es heute seit zwanzig Jahren oder länger, wie PDF und MS Word, wenn auch in immer neuen Versionen. Im Roman Endstation haben sich einige Dateiformate offenbar so durchgesetzt, dass es die Formate von heute auch in knapp zweihundert Jahren noch gibt. Neben dem PDF-Format werden auch CSV, MP3, TXT und XLXS eine sehr lange Lebenserwartung haben.
Dies soll beispielhaft dafür dienen, dass es nicht immer einfach ist, die Gegenwartsentwicklungen in die Zukunft zu extrapolieren.
Die Idee der Nährpaste ist zwar in der Science-Fiction nicht neu, wurde aber in diesem Roman überzeugend dargestellt. Ebenfalls der Zwangsveganismus. Reiche Menschen wie Noah können sich hier „Echtnahrung“ leisten und sogar Kuhmilch im Kaffee, die in der dargestellten Welt enorm teuer geworden ist.
Essen hat daher einen hohen Stellenwert, sofern Echtnahrung vorhanden ist. Teilweise wird das explizit durch entsprechende Präfixe oder Suffixe dargestellt, wie „Echtbrot“ oder „Kuhmilchkäse“, oder auch „Pommes mit mindestens sechsundfünfzig Prozent Kartoffelanteil“.
Die globale Krankenversicherung, die Nutzung der KIs und auch das Gendern ist in diesem Roman hervorragend geglückt. Die Dateiformate wurden nicht weitergedacht, was hinsichtlich der enormen technischen Entwicklung, die ja in dem Roman durchaus thematisiert wird, unwahrscheinlich ist. Ebenfalls nicht ganz überzeugend ist die Sprache der Dialoge, die Figuren klingen noch sehr nach heute. Der Roman soll selbstverständlich lesbar bleiben, doch in anderen Zukunftsromanen ist das durch kleine Ideen schon recht gut geglückt, auch im deutschsprachigen Raum. So haben sich beispielsweise bei Lisa-Marie Reuters Zukunftsroman Exit this City Redensarten wie „Weiß Google“ statt „Weiß der Herrgott“ durchgesetzt.
KIs als eigenständige Persönlichkeiten
Die KIs Orwell und Passepartout stehen vor allem in der Mitte des Romans sehr im Vordergrund. Die Dynamik zwischen den beiden KIs ist interessant. Dialoge, in denen sich ein Mensch mit einer KI unterhält, sind in der Science-Fiction keine Seltenheit. Dialoge zwischen zwei KIs muss man schon gründlicher suchen. Der Autorin sind hier einige sehr unterhaltsame Dialoge zwischen den beiden KIs gelungen. Passepartout wirkt in einem größeren Maße menschlich als Orwell, da ser sich Gedanken um seine Endlichkeit macht. Ses Charakter wird dadurch geformt, dass ser um sein Ende weiß und auch um sessen Schöpfer (Merlin, Noahs Vater). Orwell entwickelt durch die Unterhaltung mit Passepartout erstmalig eigenständig Gefühle, die über seine Programmierung hinausgehen.
Ebenfalls überzeugend ist die Freundschaft zwischen Orwell und Noah. In den Jahren seiner Tätigkeit bei der globalen Krankenversicherung hat Noah sich mit Orwell angefreundet, ihm einiges beigebracht und Orwell hat dadurch an Persönlichkeit gewonnen. Die beiden sind Freunde geworden, so gut das eben mit einer gesichtslosen KI möglich ist. Doch Noah ist bewusst, dass Orwell in letzter Instanz der Versicherung loyal verpflichtet ist und er ihm deshalb nicht trauen darf.
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Oftmals haben KIs in traditioneller Science-Fiction die Rolle der Antagonisten inne und stehen exemplarisch für eine dystopische Warnung. In Kahawas Endstation sind die KIs nicht die antagonistische Kraft. Selbst Orwell, der von Global Industries programmiert wurde, bedient sich Lücken in seiner Programmierung, um die fremde KI im System, Passepartout, nicht gleich melden zu müssen. Dies impliziert, dass Orwell in einem abgesteckten Rahmen einen freien Willen hat. Passepartout wird unter anderem durch Neugier und auch einer Art Todesangst charakterisiert. Ser (Passepartout ist nonbinär) weiß, dass ser nach Erfüllung sessen Aufgabe gelöscht werden wird und setzt sich dadurch mit sessem eigenen Tod auseinander. Auch Passepartout trifft eigene Entscheidungen, und sei es nur, dass ser in sesser freien Zeit Katzenvideos anschaut. Schade ist, dass sie im letzten Viertel des Romans keine größere Rolle mehr spielen. Es ist zu hoffen, dass sich das in den nächsten Bänden der Reihe wieder ändert.
Eine Dystopie, in der man keinen falschen Schritt machen sollte
Kahawas Figuren sind insgesamt lebendig und denkwürdig, sodass der Roman trotz seiner Unzulänglichkeiten empfehlenswert und lesenswert bleibt. Vor allem die subtile Spannung in der erste Romanhälfte bleibt nach dem Lesen nachhaltig in Erinnerung. Auch der Showdown bietet noch einige Wendungen, die so nicht vorhersehbar waren und Lust auf Teil 2 machen.
Einige Aspekte in der geschilderten Zukunft sind unserer Gegenwart vorzuziehen. Die Gender-Debatte ist beendet und eine lesbare und sprechbare Lösung für Nichtbinarität wurde etabliert. Niemand muss sich mit Krankheit herumschlagen. Drogengenuss ist dank fortschrittlicher Technologie risikoarm möglich, jedenfalls für jene, die es sich leisten können.
Andere Details machen die geschilderte Welt beängstigend: die Überwachung, die Komafälle, die Strafabschaltungen. Durch diese Aspekte verdient der Roman in der Tat den Stempel Dystopie. In dieser Zukunft möchte niemand leben.
Kahawas, Kia. Endstation: Die Passepartout-Logfiles. Plan9, 2021.
Yvonne Tunnat schreibt auf Rezensionsnerdista.
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