Text Nora Großmann
Lektorat DANIELA MERTENS
fOTO XU HAIWEI
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bröckelte das Fundament unseres Lebensstils: Ungebremst rasten wir auf die Kipppunkte des Klimawandels zu. Die Ressourcen wurden knapp, während die Bevölkerung wuchs und mit ihr das Bedürfnis nach Wohlstand. In vielen Ländern stiegen die Ansprüche an Gesundheit, Sicherheit und Lebensstandard. Anderswo zwangen Armut und Krieg Menschen, welche am Rande ihrer Existenz balancierten, zur Flucht. Die Kluft zwischen armen und reichen Menschen, Bevölkerungsschichten, Ländern weitete sich. Die Zukunft der Menschheit war ungewiss.
Doch der Mensch meisterte diese Herausforderungen mithilfe eines mächtigen Verbündeten: Künstliche Intelligenz war längst zu einem multifunktionalen Werkzeug geworden und aus unserem Alltag nicht wegzudenken. Frühe Computerprogramme basierten auf festgelegten Regeln: If A do B. Intelligente Algorithmen hingegen erlernen ihre Entscheidungsgrundlagen selbstständig aus den Daten, mit denen sie gefüttert werden. Sie rechnen mit Wahrscheinlichkeiten, können also mit Unsicherheit umgehen. Auf diese Weise sollen sie intelligentes Verhalten nachahmen: Schon damals konnten sie Schach spielen, Texte übersetzen oder den Weg zum nächsten Supermarkt weisen. Mit der Zeit nahm KI den Menschen immer mehr Aufgaben ab.
Dank Optimierung unseres Wirtschaftssystems gibt es keinen Mangel. Energie- und Rohstoffverbrauch werden geschont, denn intelligente Algorithmen sagen uns, was wann wie zu produzieren ist, und regeln eine gerechte Verteilung. KI half uns aus der Klimakrise und sicherte die Biodiversität. Sie weiß, wie wir die Natur optimal schützen und unsere Lebensgrundlage erhalten können.
Früherkennung von Krankheiten wie Krebs und die Entwicklung neuer Medikamente wurde dank KI perfektioniert. In den letzten Jahren ersetzte sie sogar Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen. Viel genauer kann sie Diagnosen stellen und Behandlungen verordnen, denn in den Daten tausender Krankheitsgeschichten erkennt sie Muster, die für den Menschen unsichtbar sind. Ihr haben wir zu verdanken, dass wir immer gesünder und älter werden – anhand von Blutbildern, MRT-Aufnahmen und nicht zuletzt unserer DNA entwickelt künstliche Intelligenz personalisierte Vorbeugungs- und Therapiemaßnahmen. Erbkrankheiten gehören der Vergangenheit an. Demenz geriet in Vergessenheit. Nahezu jedes Leiden lässt sich berechnen und beheben.
Angefangen mit Plüschrobotern für Demenzkranke und Streichelmaschinen auf Frühchenstationen übernahmen Roboter auch unsere menschliche Komponente. Androiden beraten uns, trösten uns, stehen uns bei. Dabei ist es unerheblich, ob die Maschinen uns wirklich verstehen oder die emotionale Intelligenz nur vortäuschen – solange sie uns das Gefühl vermitteln, für uns da zu sein. Mit wenigen Klicks kann man sich eine verwandte Seele online bestellen. Im Zeitalter der Humanoiden braucht niemand mehr einsam zu sein.
Doch die Algorithmen ahmen uns nicht bloß nach, sie steuern uns sogar. Den Einfluss künstlicher Intelligenz auf unser Verhalten haben sich profitorientierte Unternehmen längst zunutze gemacht: Schon damals lenkten Algorithmen unser Konsumverhalten, indem sie Vorschläge bereiten, gezielte Werbung platzieren und uns nur Inhalte zukommen lassen, die uns mit hoher Wahrscheinlichkeit interessieren. Sie schlossen uns in digitale Filterblasen. Sie verhinderten Diskussion und Auseinandersetzung mit Meinungen jenseits unseres eigenen Horizonts. Und den Horizont, den wir nicht wahrnahmen, konnten wir auch nicht erweitern. Intelligente Algorithmen fesselten uns an die Geräte, ungeachtet der Nebenwirkungen wie Sucht, Vereinsamung oder physischen Leiden. Ganz zu schweigen davon, dass Reaktionen wie Wut und Empörung diese Algorithmen befeuerten und sich umso rasanter verbreiteten.
Aber was hat die Blase platzen lassen? Dahinter steckt eine einfache Idee: Was wäre, wenn diejenigen Algorithmen, die zuvor mit gezielter Werbung unseren Konsum ankurbeln sollten, plötzlich das Gegenteil bewirkten? Ein neuer Trend war geboren: die positive Suggestion.
Positive Suggestion beschreibt diejenige Beeinflussung, welche sich positiv auf die Umwelt, das Sozialleben oder die Gesundheit auswirkt. Dazu gehört Software, die ihre User*innen unterbewusst davon überzeugt, das Smartphone wegzulegen, mit der Bahn statt mit dem Auto zu fahren oder etwas zu reparieren, statt es neu zu kaufen. Tauschbörsen und CO2-Rechner bildeten nur den Anfang. Personifizierte Aufklärungskampagnen brachten die Menschen unter anderem dazu, weniger Fleisch zu essen und auf Plastik zu verzichten. Individuelle Fitness- und Diät-Apps verbesserten die physische Gesundheit, während die Psyche durch Therapieprogramme stabilisiert wurde. Burn-out war gestern, denn die Algorithmen vermitteln uns den passenden Job und optimieren unser Arbeitspensum. Arbeitslosigkeit und Kriminalität gingen zurück. Das Bildungsniveau stieg. Hass und Gewalttaten wurden eingedämmt, denn die KI erkennt Vorzeichen und greift abmildernd ein oder alarmiert notfalls die Polizei.
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Schnell wurde deutlich: Positive Suggestion zahlt sich aus. Schließlich steigert sie die Zufriedenheit und senkt gesamtgesellschaftliche Kosten. Der Nutzen ist so wirkungsvoll, dass die herkömmliche konsumbasierte Manipulation nicht mehr profitabel ist.
Selbstfahrende Autos, Roboter im OP, Androiden als Seelsorger – oft performt eine KI besser als ein Mensch. Grund genug, uns auf die leistungsstarken Rechenmaschinen zu verlassen und ihnen die Verantwortung über verschiedenste Lebensbereiche zu übertragen. Wie aber wurde festgelegt, nach welchen Maßstäben wir uns beeinflussen lassen? Vertreter*innen aus Philosophie und Politik, Medizin und Psychologie, Wissenschaft und Kunst, Umweltverbänden und Menschenrechtsbewegungen diskutierten gemeinsam über die komplexen Leitlinien einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft. Es ist unklar, wann und wie die Maschinen die Ergebnisse dieser Diskussion zusammentrugen, doch die intelligenten Programme scheinen daraus ein gemeinsames Ziel gesponnen zu haben. Informatiker*innen vermuten die Existenz eines sogenannten „Mastercodes“ – dem Gott der Maschinen. Heute steht jede KI mit ihm in Verbindung und gehorcht seinen Regeln. Die Regeln und Muster des Mastercodes sind zu komplex, als dass ein Mensch sie begreifen könnte. Laut Expert*innen liegt das übergeordnete Ziel des Mastercodes in der Maximierung menschlichen Glücks, ähnlich dem Bruttosozialglück Butans – ein Optimierungsproblem, welches sie mit ausreichenden Informationen mathematisch lösen können.
Eine KI irrt nicht. Sie reagiert nicht emotional. Unfälle sind nunmehr Launen des Schicksals entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Schuldig ist, wer keine Daten teilt. Unsere Zukunft haben wir der KI anvertraut. Denn sie hat uns längst überholt. Sie reproduziert und optimiert sich selbst. Jeglicher Eingriff würde mehr Schaden als Nutzen verursachen. Wir können nur noch hoffen, dass sie unsere Gebete erhört.
Klingt unheimlich? Ist es auch! Doch die Manipulation war längst da gewesen. Ganze Generationen hatten ihr Leben im Rausch vor dem Bildschirm verbracht, während sie sich voneinander entfremdeten. Social Media Plattformen waren mächtiger als Staaten geworden, der Mensch zu einem bloßen Produkt. Positive Suggestion und Mastercode haben die Manipulation gewissermaßen gezähmt, ihre schädlichen Folgen durch nützliche ersetzt. So verführt moderne Technik nicht länger zu Konsum und Entfremdung, sondern dient dem Wohle der Menschheit. Klingt doch bequem! Oder würdest du doch lieber abschalten und deinen eigenen Verstand gebrauchen?
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