SOCIETY
Utopie Mars
by mercy ferrars

Fotos: ABIBOO Studio / SONet (Renders by Gonzalo Rojas, Sebastián Rodriguez & Verónica Florido)
27/10/2021
Die Kolonialgeschichte der Vergangenheit ist noch nicht einmal annähernd aufgearbeitet, und schon blicken wir lüstern auf den Rest des Universums, mit dem Bedürfnis, uns auch jeder anderen Welt da draußen aufzuzwängen. Kolonisierung ist immer mit Verlust und Ausbeutung verbunden. Kolonialmächte bluten Geld, Status und Gewalt. Und während sie durch die Welt marschieren und in ihrer Spur nichts als Zerstörung hinterlassen, sind sie erfüllt von einer arroganten Anspruchshaltung. Dem Anspruch darauf, die Natur auszubeuten, Menschen und Tiere.
Aber während wir heute noch kritisch auf unsere eigene Kolonialgeschichte blicken und sie gar reflektieren, zeigt sich in uns wiederum der Anspruch darauf, entrüstet sein zu dürfen, wenn uns der Planet ein lebenserhaltendes Klima, Wasser oder Luft zu enthalten droht. Dabei zerstören wir ihn seit solch langer Zeit, dass es ein Wunder ist, dass wir überhaupt noch leben. Dass wir uns in einer Klimakrise befinden, kann nicht mehr Gegenstand von politischen Diskussionen sein, sondern ist ein harter Fakt. Dennoch gibt es Leute, die die Krise sowohl leugnen als auch ignorieren. Sie ziehen sich zurück ins Private, in die eigenen paar Quadratmeter, und werfen bei importiertem Kaffee aus der dritten Welt und Milch von gequälten Kühen einen Blick auf ihren prächtigen grünen Hintergarten. “Gar nicht so schlecht”, finden sie dann, und “von Klimawandel seh ick hier nüscht.”
Auch die Klimakrise ist mit unserer ungleichen Gesellschaft verbunden. Oftmals wird Klimaschutz auf diejenigen abgewälzt, die es sich nicht leisten können, in teurere Autos oder Solardächer zu investieren. Andere wiederum leiden so viel mehr unter den Auswirkungen des Klimawandels. Umdenken ist keine einfache Sache, Lebensrealitäten verfestigen sich nicht innerhalb einer Generation. Selbst wenn wir die Klimakrise erkennen, ist unsere Handlungsbereitschaft immer dann beschränkt, wenn sie subjektiv verstanden unseren Wohlstand mindern würde. Obwohl das Paradox der Klimakrise, das Paradox des Kapitalismus, das Paradox des Patriarchats immer darin besteht, dass die Entscheidungen, die wir als Einschränkungen wahrnehmen, uns eigentlich stärken. In der Klimakrise bedeutet das, länger ein erträgliches Klima zu erfahren; im Kapitalismus die Systemerhaltung durch das Stärken der Care-Arbeiter*innen; im Patriarchat die Traumaaufarbeitung von Männern, die genauso im System verfangen sind wie alle anderen. Klimaschutz bedeutet aber nicht nur das Umdenken der breiten Masse, sondern auch eine Klimapolitik, welche Menschen gleich stellt und ihnen gleiche Chancen ermöglicht. Eine Politik, die Klimaschutz für alle zugänglich macht, ohne (weiterhin) zu verarmen. Klimaschutz zeigt: Wir können uns nur selbst retten, wenn wir alle retten. Das wäre das Ideal — aber es fällt uns schwer, unsere Privilegien loszulassen, wenn wir schon unser ganzes Leben in ihnen verbringen. Der nächste logische Schritt, das nächste Privileg, ist für die Menschheit also die Besiedlung des Mars, um nochmal “ganz neu anfangen zu können”. Der rote Planet, von dem man einst annahm, er beherberge Leben, scheint nun unsere einzige Hoffnung zu sein.
Das erweckt unser Anspruchsdenken wieder. Die Menschheit hat das Recht, zu fliehen und anderswo zu überleben. Davon sind wir überzeugt. Vielleicht gibt es auf dem Mars keine Zivilisation, die darauf wartet, von einer reichen, weißen Mehrheitsgesellschaft vernichtet und ausgebeutet zu werden, aber die Motivation, die uns dazu bringt, uns auf dem roten Planeten niederzulassen, hat dennoch die falschen Gründe. Vor wem müssen wir uns denn eigentlich retten? Sind wir nicht genau der Faktor, der den Planeten ausgebeutet hat, ohne die Folgen zu bedenken? Werden wir das nicht auch auf den Mars mitnehmen? Was passiert mit denen, die zurückbleiben? Wer sind demographisch gesehen die Menschen, die sich auf dem roten Planeten niederlassen?
Manche Antworten liegen nahe. Ein Ticket zum Mars könnte eines Tages weniger als 500.000 Dollar kosten, ein Versprechen, mit dem Elon Musk auf Twitter selbstbewusst um sich wirft. “Niedrig genug, dass die meisten Menschen in fortgeschrittenen Volkswirtschaften ihr Haus auf der Erde verkaufen und auf den Mars ziehen könnten, wenn sie wollen.” Mit anderen Worten: Reiche Leute werden auf den Mars umziehen, wenn sie das wollen, und den armen Volkswirtschaften werden sie einen Planeten hinterlassen, der unbewohnbar gemacht wurde.
Der Mars ist zum Synonym für unsere ganz persönliche menschliche Utopie geworden. Ein Ort, an dem unsere Zukunft auf uns wartet — vielleicht. Aber es wird nicht viel bedeuten, wenn wir unsere menschlichen Fehler im Weltraum fortsetzen. Die Besiedlung des Weltraums erfordert ein Umdenken in Bezug auf unsere ethische Einstellung zu einem nachhaltigen Leben, unser Zusammenleben mit der Natur, und wirft soziologische Fragen zur “neuen Gesellschaft” auf. Es ist offensichtlich, dass diese Gesellschaft nicht so fortbestehen kann wie die jetzige, die von Kapital, Ungleichheit und Individualismus geprägt ist. Wenn wir zum Mars “fliehen”, um neu anzufangen, ist es für unseren Fortbestand von entscheidender Bedeutung, eine gerechte, postkapitalistische Gesellschaft zu schaffen, eine Gesellschaft, die wahrhaftig futuristisch und an weit entfernte Ideale gebunden ist. Auch wenn in unserer Gesellschaft ein langsames Umdenken mühsam im Gange ist, wird jenes Umdenken noch mindestens so lange dauern wie die erste Marssiedlung. Sind wir dazu überhaupt in der Lage?
emPFOHLENE ARTIKEL
A Brief History of African-American Influence on Rock & Roll
The history of rock & roll is also a history…
Eine kurze Historie des afro-amerikanischen Einflusses auf den Rock & Roll
Die Geschichte des Rock & Roll ist auch eine Geschichte…
Nüwa, die Marsutopie

Entwürfe für die ersten Städte auf dem Mars gibt es schon. Das ABIBOO Studio hat gemeinsam mit dem SONet Network Entwürfe für eine autarke und nachhaltige Stadt auf dem Mars entworfen, in der eine Million Menschen leben können. Das Projekt steht unter der Leitung des Astrophysikers Guillem Anglada, der die Entdeckung des Exoplaneten Proxima‑B geleitet hat, und wurde für einen Wettbewerb der Mars Society entwickelt, eine amerikanische Non-Profit-Organisation, die sich der Förderung der Erforschung und Besiedlung des Planeten Mars durch den Menschen verschrieben hat.
Der Entwurf umfasst fünf Städte, deren Hauptstadt Nüwa ist. Jede Stadt beherbergt zwischen 200.000 und 250.000 Menschen. Abgesehen von Nüwa folgen die übrigen Städte der gleichen urbanen Strategie. Abalos City liegt am Nordpol, um den Zugang zum Eis zu nutzen. Marineris City liegt in der größten Schlucht des Sonnensystems. Die Bauweise und Strukturen der Städte schützen die Bewohner*innen vor Strahlung und Meteoriteneinschlägen, gewähren ihnen Zugang zu Sonnenlicht, Nahrung, Luft und Wasser und gleichen den atmosphärischen Druck zwischen Mars und Gebäudeinneren aus.
Nüwa selbst liegt am Hang einer der wasserreichen Marsklippen bei Tempe Mensa. Das steile Gelände bietet die Möglichkeit, eine vertikale Stadt in den Felsen zu bauen. Die Gebäude in Nüwa beherbergen sowohl Kondensationsbereiche, die sogenannten “Schneekuppeln”, die zur Wärmeableitung und Luftreinigung beitragen, wie auch künstlich geschaffene Naturräume, die als “Grüne Kuppeln” bezeichnet werden. Die Gebäude auf der Klippe sind durch Hochgeschwindigkeitsaufzüge verbunden, ähnlich wie Wolkenkratzer auf der Erde. Diese Infrastruktur verbindet auch den Fuß der Klippe mit der Spitze.

Am Fuße der Klippe befinden sich große Pavillons für das Sozialleben. Diese Pavillons sind mit einer lichtdurchlässigen Haut versehen, um den Blick auf die Marslandschaft zu ermöglichen. Diese Kuppeln sind durch große, überfliegende Vordächer vor externer Strahlung geschützt. Im Tal gibt es überdies auch spezielle Strukturen für Krankenhäuser, Schulen und Universitäten, Sport- und Kultureinrichtungen, Einkaufszentren und Bahnhöfe, die mit dem Space Shuttle kommunizieren. Zusätzlich sorgt ein System von Bussen und Stadtbahnen für den horizontalen Transport innerhalb der Stadt. Alle Transporte werden in Druckräumen mit Elektrofahrzeugen durchgeführt. Die Mobilität zwischen verschiedenen Marsstädten wird durch Busse oder Züge gelöst, die auf asphaltierten Straßen fahren.
Nüwa ist völlig selbstversorgend und zieht ihre Ressourcen aus dem Mars oder baut sie selbst an. Pflanzen werden in landwirtschaftlichen Modulen in einer CO2-angereicherten Umgebung angebaut, was eine Automatisierung der betrieblichen Aufgaben voraussetzt. Übrigens: Die Marsdiät in ABIBOOs Design wird größtenteils vegetarisch sein. Die Tatsache ist auf den hohen Energiebedarf der Viehzucht zurückzuführen, die unter den Bedingungen des roten Planeten nicht lebensfähig oder nachhaltig wäre.
Zweifelsohne ist die Vorstellung, in Nüwa oder einer der anderen Marsstädte zu leben, aufregend und faszinierend. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich noch nie davon geträumt habe, den Mars zu erkunden. Auch meine Browser History ist Zeugin meiner Faszination mit dem Universum. Aber es bleibt wichtig zu analysieren, ob es moralisch ist den Mars zu kolonisieren nachdem wir die Erde für disponibel erklären. Und sollte es in der Zukunft unsere einzige Überlebenschance formulieren, müssen wir Fragen an das neue Zusammenleben stellen. Daran, wie wir mit unserer zweiten Chance umgehen, aber auch daran, wie wir einander stützen. Denn es ist und wird nicht vertretbar sein, die Hälfte der Erdbevölkerung auf einem sterbenden Planeten verrotten zu lassen. We failed you, Mother Earth.
LEKTORIERT VON DANIELA MERTENS
ABIBOO Studio ist eine preisgekrönte amerikanisch/europäische Firma mit Erfahrung in kleinformatiger und großformatiger Architektur in den folgenden Bereichen: Wohnbau, Gewerbe, Gastgewerbe, Einzelhandel, Kultur, Bildung, integrierte Stadtviertel, Raumarchitektur und Innenausstattung. https://abiboo.com/
Zur Nüwa-Projektseite: https://abiboo.com/projects/nuwa/