Was hat eine Beerdigung oder eine moralische Entscheidung während eines Flugzeugabsturzes mit geschlechtlicher Identität zu tun? Performative kulturelle Gepflogenheiten, klassische Ethik und sowohl konforme als auch nonkonforme Identitäten sind durch Regeln und gesellschaftliche Normen strukturiert. Wie beeinflussen sich Feminismus und Normativität gegenseitig? Können oder müssen sie gar koexistieren?
TEXT Mercy Ferrars LEKTORAT Anja Degner FOTOS Cottonbro

Was hat eine Beerdigung oder eine moralische Entscheidung während eines Flugzeugabsturzes mit geschlechtlicher Identität zu tun? Performative kulturelle Gepflogenheiten, klassische Ethik und sowohl konforme als auch nonkonforme Identitäten sind durch Regeln und gesellschaftliche Normen strukturiert. Wie beeinflussen sich Feminismus und Normativität gegenseitig? Können oder müssen sie gar koexistieren?
In der traditionellen Ethik ist Handlungsfähigkeit ein Privileg des in der Regel männlichen Entscheidungsträgers. Ihm wird von den großen Philosophen nachgesagt, dass es ihm seine Rationalität ermöglicht, in komplexen ethischen Dilemmata die richtige Entscheidung zu tragen, die jedoch losgelöst ist von seiner Menschlichkeit. Für die alten Ethiker existiert dieser männliche Entscheidungsträger außerhalb seines sozialen Gefüges, seiner Zeit und seiner Emotionen. Von ihm wird erwartet, dass er in der Lage ist, eine einfache Berechnung durchzuführen, um ethische Dilemmata zu lösen. Diese Konstruktion eines abstrakt autonomen Akteurs zerbricht jedoch schnell, sobald er sich mit tatsächlichen Entscheidungen konfrontiert sieht. Während der moralisch Handelnde in einen Zugzwang gerät und gezwungen ist, zwischen zwei unmöglichen Optionen zu wählen, wird er von außen von großen Philosophen wie Immanuel Kant oder den Utilitaristen betrachtet. Doch weder Kants kaltes Kalkül noch das utilitaristische Streben nach einem Höchstmaß an Glück zu den geringsten Kosten reichen aus, um den Entscheidungsträger mit einer Anleitung auszustatten, nach der zu entscheiden ist. Denn die alten Ethiker stehen sich durch eine enge Weltsicht und einer fast schon phobischen Abneigung zur Menschlichkeit selbst im Weg.
Der Feminismus bietet eine andere Sichtweise auf diesen alten Androzentrismus, er schlägt die Idee einer “Ethik der Fürsorge” vor, ein Begriff, der unter anderem von der amerikanischen Psychologin Carol Gilligan eingeführt wurde. Ein feministischer Ansatz in der Ethik ändert das Spiel völlig: Es ist nicht mehr der abstrakte Mann, der kalkulierte moralische Entscheidungen trifft, die außerhalb eines Kontextes von Umständen und inneren Welten zu stehen scheinen. Stattdessen wird das Bild der Entscheidungstragenden umgeschrieben: Der Schwerpunkt verlagert sich auf Beziehungen der Fürsorge. Sowohl die äußere — durch andere — als auch die innere Beurteilung der Entscheidung der Akteur*in erfolgt im Hinblick auf Situation, Zeitgeist, innere affektive Zustände, Beziehungen und Bedürfnisse. Dies ermöglicht eine viel humanere Moral in der Gesellschaft, weg von emotionslosen Maschinen hin zu einem liebevollen Bild der Welt, das den Menschen als holistisches Wesen begreift, anstatt ihn von seiner Menschlichkeit loszulösen.
Wenn Feminismus erforderlich ist, um das vorhandene moralische System zu ändern, das Handlungen in “gut” und “schlecht” einteilt, dann kann man von einem normativen moralischen System sprechen. Die Rolle der feministischen Philosophie ist im Wesentlichen eine Reform der Moral: Welche Identitäten werden als gut und gültig angesehen und welche Identitäten werden nicht nur vernachlässigt, sondern negativ beurteilt? Viele Philosoph*innen haben versucht, auf diese Fragen zu antworten, wie Michel Foucault in seiner Analyse der Macht oder Friedrich Nietzsche in seinem Versuch, eine Genealogie der Moral zu rekonstruieren. Alle diese Philosoph*innen stellen sich unterschiedliche Fragen zum gleichen Thema. Nietzsche fragt: Wie werden Gut und Böse begründet? Woher kommen diese Werte? Foucault fragt nach den Machtmechanismen, die solchen Dispositionen zugrunde liegen, nicht nur nach “gut” oder “böse”, sondern auch nach dem Normalen und dem “Anderen”. Schließlich nähern sich Sozialphilosoph*innen wie Judith Butler der Frage mit direkten Bezügen zu spezifischen Bereichen der Moral. “Mit welchen rätselhaften Mitteln wurde ‘der Körper’ als eine prima facie Gegebenheit akzeptiert, die keine Genealogie zulässt?”, fragt Butler unter anderem in Gender Trouble. Warum gilt Heterosexualität als die gute Norm und Homosexualität als die unmoralische Abweichung? Warum ist es so wichtig, Techniken wie die Normativität in Bezug auf bestimmte Identitäten zu analysieren? Warum ist der Feminismus so wichtig für eine sich verändernde Welt?
Unsere Kultur ist um Dispositionen herum organisiert, von denen wir ausgehen, dass sie naturgegeben sind, aber diese Dispositionen wurden im Laufe der Zeit von einer hegemonialen Gruppe mit klaren politischen oder religiösen Interessen strategisch erzeugt. Solche Dispositionen, wie die starken Normen, die Geschlecht oder die Institution der Familie strukturieren, können verändert werden, wenn sich der Gesamtdiskurs verschiebt.
Man kann Normativität als eine besondere Art von Gebrauchsanweisung verstehen, die in jeder erdenklichen Weise Normen setzt: moralische Imperative, soziale Imperative, kulturelle Imperative. Normen regulieren und etablieren die soziale Ordnung und sind ein Reproduktionssystem in sich selbst. Normativität hat ihre Wurzeln im rationalen Denken und ist nicht als natürliches Kausalgesetz zu verstehen, sondern als ein Phänomen, das in menschlichen Gesellschaften zu finden ist. Sie gibt eine Reihe von Gründen vor, warum wir etwas tun sollten, aber sie verpflichtet uns auch, die vorgeschriebene Norm zu befolgen, indem sie ein Gefühl der Verantwortung erzeugt und uns so an ein Pflichtgefühl bindet. Normativität beruht niemals auf reiner Autorität. Sie mag sich zwar in manchen Fällen auf Polizei und Ordnungsamt verlassen, aber sie funktioniert auch ohne diesen äußeren Zwang. Sie ist keine sichtbare äußere Quelle, auf die man zeigen und die man ablehnen kann. Stattdessen hat sie sich in jeden Aspekt des Staates, seiner Institutionen und im Menschen selbst zerstreut. Der Mensch macht sich also selbst zum Subjekt, indem er nach diesen unbewusst auferlegten Idealen und Normen handelt. Wir sehen in der Gesellschaft, dass ein Subjekt, das sich von diesen Normen löst, seinen Status als Subjekt zu verlieren scheint oder ihn von der Gesellschaft verweigert bekommt. Diese Macht “kategorisiert das Individuum, kennzeichnet es durch seine eigene Individualität, bindet es an seine eigene Identität, zwingt ihm ein Gesetz der Wahrheit auf, das es anerkennen muss und das andere in ihm anerkennen müssen”, schreibt Foucault in Das Subjekt und die Macht.
Wenn eine Gesellschaft oder Kultur beispielsweise auf der Verhaltensnorm beruht, dass eine Beerdigung ein soziales Ereignis ist, bei dem die Menschen über ihren Verlust trauern, und dass diese Norm lachen, bunte Kleidung oder exzessives Verhalten als unangemessen betrachtet, dann braucht das Subjekt keine höhere Autorität (wie den Staat oder das Gesetz), um es zu zwingen, nach dieser Norm zu handeln. Die Norm liegt vielmehr in ihm selbst. Das Individuum wird zu seiner eigenen Überwacher*in, wenn man Foucaults Analogie des Panoptikums auf die soziale Normativität anwenden will: Jede*r beobachtet sich selbst und andere ständig.
Das Beispiel der Beerdigung zeigt einen weiteren inhärenten Aspekt der Normativität: Es handelt sich um ein Reproduktionssystem. Eine Reihe von Praktiken wird so oft wiederholt, dass sie schließlich zur Norm wird. Ein kleines Kind versteht nicht, warum die Erwachsenen bei einer Beerdigung so distanziert und ernst wirken oder warum sie alle schwarz tragen, also belehren seine Eltern es immer wieder über diese soziale Norm, die das Kind an seine zukünftigen Nachkommen weitergibt und so die kulturell vorgeschriebene Anweisung für diese bestimmte soziale Praxis reproduziert. Normativität gibt eine Antwort auf die Fragen der Menschen, wie sie sich verhalten und wie sie urteilen sollen, und antwortet auf ihr Bedürfnis nach Orientierung. Sie hat ihren Ursprung im rationalen Denken und wird von den Individuen einer Kultur verinnerlicht. Sie reproduziert sich selbst und naturalisiert sich, sodass manche Normen nicht auf den ersten Blick als gemacht erkannt werden können.
Doch wie entstehen Normen? In erster Linie aus einem Angebot an Gründen, einem gesellschaftlichen Konsens und einem verinnerlichten Pflichtgefühl. Eine Theorie der Normativität bietet Christoph Möllers in seinem Werk Die Möglichkeit der Normen1, in dem er den Prozess der Normbildung in zwei grundlegenden Schritten beschreibt: Die Grundlage einer jeden Norm ist das Vorhandensein einer Möglichkeit in einer möglichen Welt. Jede Norm impliziert die ihr zugrunde liegende Möglichkeit, aber nicht jede Möglichkeit wird zu einer Norm. In einem zweiten Schritt muss aus dieser Auswahl von Möglichkeiten diejenige, die später zur Norm werden soll, mit einer Affirmation, einer positiven Einstellung gegenüber der angestrebten Handlung, dem Motiv, der Anweisung oder dem Gesetz gekennzeichnet werden. Diese positive Bejahung ist das, was Möllers einen “Verwirklichungsmarker” nennt. Sie definiert und markiert jene Möglichkeiten, die zu normativen Standards werden.
Normen gehen in zwei Richtungen: Einerseits kann man keine Norm aufstellen, die für den Menschen unmöglich ist, so könnte keine Norm von uns erwarten, dass wir mit unserem eigenen Körper fliegen, anstatt über Gras zu laufen, weil wir dazu nicht fähig sind. Andererseits können Normen auch ein Potential hervorrufen, das in den körperlichen, geistigen, sozialen und politischen Fähigkeiten liegt. Als Beispiel dient Möllers Fall einer Gesellschaft, die ein Gesetz erlässt, das den Drogenkonsum verbietet. Dieses Gesetz ignoriert nicht die Tatsache, dass einige Individuen nicht in der Lage sein könnten, sich an das Gesetz zu halten, zum Beispiel weil sie an einer Sucht leiden. Es ist ein symbolischer Akt eines Staates, der deutlich machen will, dass er sich dem Drogenkonsum widersetzt. Dies wiederum unterstreicht die Behauptung, dass Normen als Symbol für ein Ideal dienen. Eine Norm ist keine strikte Entscheidung, die jemand einfach in der Gesellschaft umsetzt, sondern eher ein langer Prozess der Einigung mehrerer Seiten über die Ergiebigkeit einer Regel, eines Gesetzes oder einer Anweisung; sie dient als symbolischer Ausdruck eines Ideals oder, in einem stärkeren Sinne, einer Ideologie.
An dieser Stelle setzt der Feminismus an. Denn er erkennt, dass Normen die Grundstruktur sind, auf welcher sich starke kulturelle Überzeugungen und Ideologien durchsetzen lassen. Da diese Grundstruktur in sich bereits stets voraussetzt, dass, was normativ ist auch normal ist, schließt sie all diejenigen Identitäten aus, die von ihr abweichen. Ist die Norm, dass Menschen keine mentalen Krankheiten haben, so deutet sie auch an, dass mental kranke Menschen unnormal sind. In einem binären Geschlechtssystem wird kaum Platz für nichtbinäre Identitäten geschaffen. In einer androzentrischen Welt erleben Frauen gesundheitliche und soziale Nachteile. Aus diesem “Absondern”, das abweichende Identitäten vom Status Quo als “das Andere” bezeichnet, ergeben sich schließlich gravierende Nachteile, die in Diskriminierung münden. Daher muss diese Ungleichheit angegangen werden, um eine gleichberechtigte, inklusive Gesellschaft zu formen.
Aber der Feminismus erkennt auch, dass es schwierig ist, menschliche Gesellschaften vom Gebrauch von Normen und Regeln abzuwenden. Also besteht eine Strategie darin, den Inhalt dieser Normen so umzuformen, dass sie für kein Individuum nachteilig wirken. Einer solchen Umformung geht das Großprojekt der kulturellen Aufklärung zuvor. Erst, wenn ein Verständnis dafür geschaffen ist, dass Gleichberechtigung erstrebenswert ist, lassen sich Normen dementsprechend anpassen. Einige Beispiele dafür gibt es bereits, wie Debatten um geschlechtsneutrale/geschlechtsinklusive Sprache, die Angabe vielfacher Geschlechtsidentitäten in Formularen oder die staatliche Anerkennung und Gleichstellung nicht-heterosexueller Partner*innen und Familienformen. Leider hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher und sieht es als deutlich mühsamer, Normen an den neuen Zeitgeist anzupassen. Umso wichtiger bleibt es, Normen als Strategiepunkt für feministische Ideale zu verstehen.
Bibliographie
1Möllers, C. (2018). Die Möglichkeit der Normen: Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität: Mit einem neuen Nachwort. Suhrkamp.
ABOUT: Mercy Ferrars
… author of Why We Are Here, publishes Ferrars & Fields Magazine since 2019. As a philosopher she is mostly interested in intersectional critical theory (of which she has some fair knowledge) and in the metaphysics of the universe; time and space (of which she has basically none). As a writer, she mostly writes novels, short stories and poetry which center around an exploration of complex feelings. She can be a little serious sometimes (that’s why her favourite TV show is Bojack Horseman) but her sense of humour is all the more basic (her favourite sitcom is New Girl…).