Auch heute gelten Frauen ohne Kinderwunsch noch als Abweichung einer, so scheint es, natürlichen Disposition. Dabei umgibt gebährfähige Menschen seit jeher sowohl Mythos als auch Pathos. Beides ist kulturell gewachsen. Die Überzeugung, dass Mutterschaft in Frauen angelegt sei, ist ein Kontrollmechanismus durch Staat und Kirche, welcher Selbstbestimmungsrechte untergräbt und muss als solcher sichtbar gemacht werden.
TEXT Sandra Reichert LEKTORAT Anja Degner FOTO João Rabelo

Vor drei Tagen sind meine Nachbar*innen ausgezogen. Diesem Tag habe ich mindestens so sehr entgegengefiebert wie sie selbst, wenn auch sicherlich aus anderen Gründen. Dabei hatten wir für rund neun Jahre ein gutes, fast freundschaftliches Verhältnis.
Zumindest mein Nachbar und ich. Dann zog seine Freundin ein, aus der die Ehefrau wurde und schließlich die Mutter seines Kindes. Die Wand zwischen unseren Wohnungen entsprach schon immer eher einem Sicht- als einem Hörschutz — wir konnten uns niesen hören. Neun Jahre halfen wir uns beim nachbarschaftlichen Miteinander, wiesen uns bei Störungen durch freundliches Klingeln oder Kurznachrichten darauf hin, dass mehr Ruhe noch schöner, vor allem nötig wäre. Ab der Geburt des Nachwuchses schallten durch diesen Sichtschutz das Geschrei und Quietschen des Brüllkindes, begleitet von fast täglichen Streits seiner Eltern, anschließendem Versöhnungssex sowie weiterhin alle Telefonate und Besuche von Freund*innen oder Familie. Fortan war ich bei allem, was diese Beziehung bereithielt, dabei und mittendrin, zu jeder Tages- wie Nachtzeit.
Meine Wohnung besteht aus einem Zimmer plus Bad und Küche. Einen echten Rückzugsort abgesehen vom Raum an der schalldurchlässigen Wand gibt sie nicht her. Die Nachbarwohnung hält zwei gleichgroße, identische Zimmer bereit, eines davon weit entfernt von meinem; Rücksicht wäre also möglich gewesen. Warum aber gab es sie nicht? Auch nicht, nachdem ich im x‑ten Gespräch darauf hinwies, was alles in meiner Wohnung ankommt und ich um eben diese Rücksicht bat?
Mein Terrorist, dein Terrorist: geteiltes Leid ist kein halbes.
Für am wahrscheinlichsten halte ich folgendes: Je gestresster die Eltern, desto weniger Rücksicht nehmen sie auf Menschen, mit denen sie nicht verwandt sind. Anders formuliert: Je rücksichtsloser das Kind, desto rücksichtsloser die Eltern. Gewalt erzeugt Gegengewalt, und permanente Grenzverletzungen sind welche. Dabei werfe ich hier undifferenziert in einen Topf, was kaum vergleichbar ist: Kinder, erst recht Neugeborene, haben keine Vorstellung von Rücksicht oder Ignoranz. Sie sind einfach und das gänzlich im Naturzustand: Jedes Bedürfnis, jeder Konflikt, jeder Impuls wird unkontrolliert und ungehemmt nach außen getragen, wo sie auf Gehör und Erfüllung stoßen wollen. Das reine Ego. Da dem Kind kein Bewusstsein für das eigene Handeln und Verhalten zu unterstellen ist, die Möglichkeiten des sich Mitteilens sehr begrenzt sind und wir Erwachsenen wissen, dass die Kleinen komplett abhängig von uns sind, bleibt idealerweise nur dies: Berücksichtigung, Liebe und Geduld. Ich verstehe das. Dass Erwachsene nach der x‑ten Nacht ohne Schlaf (was aus Gründen der Wirksamkeit anerkanntes Folterinstrument ist), der täglich zunehmenden Erkenntnis darüber, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben, als Folge dessen auch den Sinn und das Gespür für die Grenzen des sozialen Miteinanders verlieren, verstehe ich ebenfalls. Beides wollte ich nie erleben.
Nicht nur mein Bauch, mein Leben gehört mir.
Zu keiner Zeit meines Lebens wollte ich Mutter sein. Die Welt bereisen und erkunden, Texte verfassen, vor allem unabhängig sein – das waren und sind meine Ziele wie Wünsche für mein Leben. Schon immer gewesen. Ich habe als Teenagerin aufgehört zu zählen, wie oft ich dafür belächelt oder beleidigt, meine Aussage zum Symptom einer Störung gemacht wurde. Allein das erzählt viel über den Status quo unserer Gesellschaft: Wann hat ein Mann das jemals postulieren und verteidigen müssen? Wann wurde einem Mann jemals abgesprochen oder angelastet, selbstbestimmt und kinderfrei sein Leben gestalten zu wollen? Schon als Jugendliche empfand ich die These, dass ich aufgrund meines biologischen Geschlechts gern und aufopferungsvoll darin aufgehen werde, mich dem Willen und den Bedürfnissen eines Kindes unterzuordnen und mein Leben danach auszurichten, für absurd — für einen Angriff auf meine Autonomie und Identität als Individuum. Mehr noch: Meinem Uterus, also einem winzigen Teil meiner physischen Existenz, mehr Raum zu geben als dem Rest wie meinem Hirn, meinem Intellekt, meinen kognitiven wie allen weiteren Fertigkeiten, halte ich bis heute für wahlweise belustigend bis unfassbar beschränkt. Vornehmlich jedoch für symptomatisch im Patriarchat. Denn in diesem ist die vorrangige Funktion, die ich als Frau erfüllen soll, eben vor allem eine biologische: gebären. Nur deshalb gilt bis heute ein Abtreibungsverbot in Deutschland. Aus diesem Grund allein dürfen Abtreibungen durchführende Ärzt*innen dazu bis dato keine Informationen bereitstellen.1 Ginge es ehrlich um den Nachwuchs statt um Misogynie, gäbe es weder Kinderarmut noch anhaltende, familiäre Vernachlässigung und Gewalt. Es gäbe weder fehlende Kita- und Schulplätze, noch Klassismus im deutschen Bildungssystem. Ginge es ehrlich um das Wohlsein der nächsten Generationen, der Staat kümmerte sich. So geht es jedoch um männlichen Allmachts- und Kontrollwahn über den potenziell gebärenden Körper, bzw. eben um dies: Die Untergrabung von Selbstbestimmungsrechten. Im Zweifel über Schuld und Mythen.
Herrin im eigenen Haus: Wer ist hier für wen da?
Dahinter liegt ein weiteres, erhellendes Missverständnis, das gern als Mythos forterzählt wird. Die Funktion (m)eines Uterus besteht entgegen landläufiger Meinung nicht primär im Aushalten, Schützen und Versorgen eines Embryos. Sein primärer Auftrag ist es, die fertile Person im Fall der Befruchtung einer Eizelle zu schützen vor dem, was sich vor allem invasiv und für das eigene System höchst bedrohlich im Uterus breit machen will. Die Selbstschutzfunktion, der Selbsterhalt, das Überleben des Subjekts, das ihn versorgt zu sichern, das ist Sinn und Zweck dieses Organs. Wie könnte es auch anders sein? In Anbetracht der völligen Abhängigkeit des Fötus und der Unfähigkeit allein zu überleben, steht natürlich das Leben der schwangeren bzw. gebärenden Person im Fokus. Was denn sonst?
Natur und Kultur = Naturalismus contra Behaviorismus?
Über Jahrhunderte hinweg und bis dato wird diskutiert, ob der Mensch ein Naturwesen sei, was meint ein vor allem von Instinkt und Impuls geleitetes, wie Nietzsche sagte, „nicht festgestelltes Tier“ (Jenseits von Gut und Böse: §62). Diese Haltung gereicht bis heute dazu, Frauen wie mich d. h. mit dem Wunsch kinderfrei zu bleiben, zu pathologisieren, weil wir angeblich gegen die Natur agieren. Dem gegenüber steht der Behaviorismus, also die Annahme, dass der Mensch ein Kulturprodukt ist, d. h. befähigt zu Bildsamkeit, Reflexion, Impulskontrolle und beeinflussbar durch Erziehung, Umwelt wie Gesellschaft. Als Kultur- und Sprachwissenschaftlerin habe ich den Widerspruch mitunter als konstruiert bzw. ignorant bis ideologisch geprägt empfunden. Meist arbeitet gerade der Naturalismus für Männer, wobei als Stichwort rape culture genannt sei. Es ist offenkundig, dass wir mit naturgegeben Anlagen in die Welt kommen (Sprachen zu erlernen ist eine davon). Was wir daraus machen, was davon gefördert oder gar sanktioniert wird, das sind Fragen, die zeit‑, orts- wie kulturabhängig verschieden beantwortet wurden und werden.
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Als lebende, lebendige Materie sind wir Teil der Natur aus der wir stammen. Gleichwohl sind wir imstande, Triebe und Impulse zu kontrollieren. Andernfalls befänden wir uns in Chaos miteinander und jeder Hunger brächte die Gefahr eines Überfalls der nächstgelegenen Bäckerei mit sich. Wir sind zu jeder Zeit sowohl Kultur- als auch Naturwesen mit der ständigen Einladung zur Metaebene, oder auch Abstand zu uns selbst. Dies schafft den Raum, innerhalb dessen wir uns zu uns selbst verhalten können und ehrlich von Wahl anstatt von Konsequenz zu sprechen beginnen. Ein kleiner Teil meines Körpers erinnert mich regelmäßig an meine Befähigung dazu, schwanger zu werden. Alles weitere an mir lehnt das ab, entscheidet sich bewusst dagegen – denn das ist möglich und trennt mich vom Tier, ohne mich deshalb göttlich zu machen. Schwanger werden zu können heißt nicht, es sein zu wollen. Während ich mir das Menstruieren nicht aussuche, kann ich mich zur potenziellen Konsequenz dessen verhalten und nach meinen Vorstellungen davon, was für mich ein glückliches, aktives, selbstbestimmtes Leben bedeutet, frei entscheiden. Wie viele Spermientragende fragen sich ernstlich und verantwortungsvoll vor jedem Erguss, ob sie damit befruchten wollen, einfach weil sie es könnten und entscheiden sich dann deshalb dagegen?
Was will uns die Autorin damit sagen?
Warum ist dies noch immer relevant? Weil die These des Naturalismus von Frau = Gebärende bis heute u. a. hierfür mitverantwortlich ist: dem Gender Pay Gap in allen Bereichen der Lohnarbeit, den Fragen nach meiner Familienplanung bei Vorstellungsgesprächen, die Empörung über Frauen, die ihre Schwanger- und Mutterschaft bereuen sowie die Scham derselben darüber; die Scham und die Selbstzweifel bis hin zur tiefen Verunsicherung von Frauen ohne Kinderwunsch, die sich permanent dazu von Fremden wie Bekannten befragen, vor diesen rechtfertigen und ggf. von diesen pathologisieren lassen müssen; das Feiern von Männern, die ihrer Verantwortung als Vater nachkommen beim ewig gleichen Double Bind für die Frau: egal wie, sie macht es eh immer falsch. Anders formuliert: Bei all der zunehmenden Fülle von Texten, in denen Frauen die Motive ihrer Kinderfreiheit erklären, warum gibt es keine von cis-männlichen Verfassern, in denen sie ihre darlegen und rechtfertigen? Da Frauen sich nicht selbst befruchten, könnte man den Diskurs als einseitig betrachten – oder als Beleg dafür, dass wir noch immer tief und fest im Patriarchat hängen.
Während der kleine Junge und sein Vater also wöchentlich lauter wurden, hörte und sah ich von meiner Nachbarin täglich weniger. In einem der ergebnislosen Konfliktgespräche erklärte er mir nebenbei, dass „manche Kinder halt mehr schreien als andere”. Soweit, so richtig. Doch warum sollte ich als gewählt kinderfreie Frau das ungefragt und ungebeten mit aushalten müssen, erst recht wenn es Alternativen, wie in Form weiterer Räume, dazu gibt? Um es mit Rousseaus Worten aus „Émile oder Über die Erziehung” zu sagen: „Wir wissen nicht, was die Natur uns vorgibt zu sein”. Das Patriarchat und seine Begünstigten behaupten jedoch bis heute, exakt dazu befähigt zu sein. Und das liegt nun tatsächlich in der Natur der Sache, also des Konzepts; nicht jedoch in der Natur der Menschen.
1 Anmerkung: Die neue Regierung plant dies durch Streichung des §219 zu ändern.
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