“Ich bin Lyriker und Philosoph. Das heißt, ich räume in einem Supermarkt Wurst in Regale. Auf einer der Wurstpackungen steht Kindergesichtpastete. Kein Fugen‑s. Lyrisch.” Unser Autor über die Verflechtung von Brotjobs, Kunst und Klassismus.
TEXT Benjamin Baumann LEKTORAT Daniela Mertens FOTOS Unsplash

Ich bin Lyriker und Philosoph. Das heißt, ich räume in einem Supermarkt Wurst in Regale. Auf einer der Wurstpackungen steht Kindergesichtpastete. Kein Fugen‑s. Lyrisch.
Ich habe einen sehr guten Masterabschluss in Angewandter Ethik und war Jahrgangsbester in Philosophie an der TU Dresden. Beworben habe ich mich mit universitären Abschlüssen nie irgendwo. Die Bewerbungsbedingungen, die geforderten Gutachten und Lebensläufe reproduzieren einen Typus von Normalbiografie, der auf klassistischer Diskriminierung, auf sozialer Distinktion von Oben nach Unten basiert. Also räume ich Wurst in Regale.
Jemand, der tierethische Arbeiten zur Kritik am Begriff Nutztier verfasst, arbeitet in einem Supermarkt. Den meisten Menschen, denen ich begegne, fällt auf, wie absurd das ist. Interessant ist, dass denselben Menschen nie auffällt, wie absurd es wäre, würde ich nicht in einem Supermarkt arbeiten. Oder sagen wir allgemeiner: in einem McJob.1 Denn dann würden ja immer noch Menschen dort arbeiten. Nur eben nicht ich. Na ja, sagen sie, du hast ja auch studiert. Du hast ja auch diese Abschlüsse. Du hast ja auch … Die Klasse gewechselt?
I McJobs
McJobs sind Jobs, die kaum jemand gerne oder aus Überzeugung macht, die niemand machen würde, wäre er vom Geld, das er dafür bekommt, nicht abhängig. Kloputzen etwa oder im Supermarkt arbeiten oder Geschirr spülen oder Straßen teeren. Es gibt viele McJobs. Die Mehrzahl der Schriftsteller*innen in Deutschland arbeitet in McJobs.
McJobs sind lästig und rauben Zeit, die sonst für Denken, Lesen, Recherche, Reisen, Gespräche, Leseabende verwendet werden würde. McJobs sind Scheißjobs. Andererseits sind sie Teil einer notwendigen Arbeitswelt. Im Hochsommer die Straße zu bauen ist ein Scheißjob, im Supermarkt ist eigentlich alles ein Scheißjob und morgens halb drei Brote zu backen … nun ja. Privilegierte Menschen neigen zur These, dass es ja auch Spaß machen könne, in so einem Job zu arbeiten. Na dann … Viel Spaß.
Natürlich passen sich die Betroffenen benachteiligter Milieus den Diskriminierungen an, denen sie vor allem in der Arbeitswelt ausgesetzt sind, indem sie die respektable Fähigkeit entwickeln, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Das ändert jedoch nichts an der sozialen Tatsache klassistischer Distinktionen.
Ich schreibe diesen Text nicht, um zu jammern, denn ich liebe mein Leben. Ich liebe das Schreiben und die Oper, meine Freundin, das Theater und das Reisen. Um es mir leisten zu können, muss ich Wurst in Regale räumen – das ist lästig. Aber ich tue das meist nur fünfzehn Stunden in der Woche. Weil ich Glück habe. Weil ich pokern und malen kann und sehr resilient bin. Fünfzehn Stunden könnte jeder in einem McJob aushalten. Davon wird niemand depressiv. Ab zwanzig Stunden bemerke ich mentale Schäden. Zweiunddreißig würden mich in eine Depression führen, vierzig zum totalen Verlust meines Verstandes, sechzig zum schnellen Tod. Nach einer Vierstundenschicht muss ich mich hinlegen, um meine verlorene Sprache wiederzugewinnen und mich vom grellen Weißlicht der Neonröhren, dem Kundenverkehr und der Hektik meiner Bewegungen (hetzen kommt von hassen) zu erholen. Abgehärteten Zeitgenoss*innen mag das empfindlich vorkommen. Aber McJobs sind banal und machen dich banal; sie verflachen dein Denken, und lassen die Sensibilität deiner Empfindungen stumpf werden. Regeneration ist möglich, sofern McJobs nur einen Teil deines Lebens betreffen. Darauf sollte es ein Grundrecht geben, dessen andere Seite eine Grundpflicht ist. Würde jeder dreimal pro Woche vier Stunden in einem McJob arbeiten, müsste niemand fünfmal die Woche acht Stunden in einem McJob arbeiten. Das wäre gelebte Solidarität. Das ist eine Utopie.
Unsere Gesellschaft gründet auf Konkurrenz und Wettbewerb. Ein Wettbewerb zeichnet sich durch die Notwendigkeit aus, dass er Gewinner*innen und Verlierer*innen generiert. Von allen in einem konstitutiv a‑solidarischen Spiel Solidarität fordern, das ist, als würde ich mich an einen Pokertisch setzen, um eine ökonomische Kommune zu gründen. Dennoch wird in Ausnahmefällen – wie der Pandemie – plötzlich auch von denen Solidarität eingefordert, denen man nie welche zukommen ließ. Vielleicht liegen hier auch einige Gründe dafür, dass nicht jeder in dieser Gesellschaft von Solidaritätsgefühlen überschwemmt wird, nur weil es angesichts einer alle betreffenden Pandemie nun plötzlich von allen an alle gefordert wird. Die Spielregeln werden kurz ausgesetzt, bevor man zu den üblichen Ausgrenzungen und Ungleichheiten zurückkehrt: die einen ins Ghetto, die anderen ins Zentrum oder in die Vorstadtvilla. Aber kurz waren wir mal alle gleich. Wäre der Forderung nach Solidarität eine Gabe derselben Art zuvorgekommen – ich wäre der Erste, der riefe: Solidarität! Wir sollten keine weitere Pandemie brauchen, um zu bemerken, woran es uns grundlegend mangelt.

II Literatur, Geld, Solidarität
Der laute Wunsch oder gar Anspruch, vom Schreiben allein (oder von der Kleinkunst oder vom Malen oder …) leben zu wollen, unterläuft die Notwendigkeit von McJobs. Er ordnet sie denen zu, die einer Klasse angehören, von der ohnehin nichts Künstlerisches zu erwarten sei; die ohnehin ihre freie Zeit nicht zum Schreiben oder für andere bedeutende Tätigkeiten nutzen würde. Und damit entlarvt sich dieser Anspruch selbst als Ausdruck klassistischen Elitarismus.
Wir können nicht alle vom Schreiben allein leben. Und die wenigen, denen das durch Image, Werbung, Kapital, Agenturen, Verlagen, Gatekeeper*innen (das sind die Bewacher*innen von Zugängen zu Bildung, Förderungen, Bühnen, Publikationen usw.), Status, Marken, Netzwerken, Talent oder Rücksichtlosigkeiten gestattet wird, sollten sich fragen, wie sie mit ihren finanziellen Überschüssen umgehen wollen, denn die Notwendigkeit von McJobs und denen, die darin arbeiten (müssen), verschwindet nicht durch individuellen Erfolg. Aber der individuell Erfolgreiche will mit all dem sehr schnell nichts mehr zu tun haben. Ausgrenzungs-Blasen entstehen. Oder wie es Stan Lafleur im Band Brotjobs & Literatur formuliert:
„Welche Autorin, welcher Autor mit Arbeiterklassenhintergrund hat im nach Selbstähnlichkeit agierenden bürgerlichen Literaturbetrieb aufgrund ihrer/seiner Herkunft noch keine Diskriminierung erlebt oder vermutet? […] Ich quäle mich damit, meinen Zorn einzudämmen, weil auch dieser Text nichts zur Veränderung beitragen wird in einem Betrieb, der sich selbst genügt und seine Pfründe klassenintern vergibt und sich derzeit ostentativ mit anderen Gleichberechtigungspräferenzen schmückt, anstatt sich mit einem gerechten Klassenverhältnis zu beschäftigen […].“2
Klassistische Absurditäten kennen kaum Grenzen. Der Artikel Klasse durchdringt alles von Anke Stelling versteckt sich hinter einer Bezahlgrenze! Professorale Lehrstühle werden etwa in Nordrhein-Westfalen zu 90 % von Menschen aus akademischen Haushalten besetzt. Deutschlandweit gilt: Nur 27 von 100 Kindern aus nicht-akademischen Haushalten beginnen ein Studium, während es auf der anderen Seite der Herkunft 80 von 100 sind.
Es scheint, als wären wirklich freie, individuelle Lebensentwürfe und deren Verwirklichung in komplexe Voraussetzungsnetze gespannt, die sich aus formalen Bedingungen des Milieus zusammensetzen, aus dem wir stammen. Für die sozial benachteiligten Klassen gilt es zunächst, die institutionalisierten Zugangsschranken zu durchbrechen. Die Kollateralschäden dieses Kampfes werden nirgends bilanziert. Entfremdung, Scham, Isolation. Und wer es da durch schafft, der soll seinen gnädigen Gatekeeper*innen für immer dankbar sein. Es reproduzieren sich Macht, Hierarchie, Ausbeutung. Lafleur geht so weit, den Klassismus für die Wurzel aller Diskriminierungsformen zu halten, was angesichts historischer Betrachtungen – etwa des Kolonialismus – nicht unplausibel erscheint:
„Wenn Olaf Scholz am 23.10.2020 twittert, neben Sexismus und Rassismus müsse auch Klassismus ‚angesprochen‘ werden, so verkehrt er die notwendigen Gewichtungen ins Gegenteil, denn Klassismus existiert weltweit unter allen Geschlechtern und Hautfarben: Verschwindet Klassismus zuerst, reißt dieses Gleichstellungsgeschehen den meisten Sexismus und Rassismus gleich mit in den Orkus – nicht aber umgekehrt.“3
Wenn ich an die Awareness-Panels innerhalb der Poetry-Slam-Szene denke, fällt mir auf, dass Sexismus am vehementesten, Rassismus ein wenig und Klassismus gar nicht bekämpft wird. Die Zugehörigkeit zu einer Klasse und die damit verbundenen inneren und äußeren Schwierigkeiten laufen immer noch weitgehend unter dem Radar.
Beispiele dafür, dass sich aktuell aber auch ein Bewusstsein für klassistische Diskriminierung formiert, liefern etwa die Millionenerbin Marlene Engelhorn, die eine hohe Erbschaftssteuer fordert, oder die österreichische Schriftstellerin Stefanie Sprengnagel, die via Facebook gar zum Boykott des Konsums von Produkten von Erb*innen aufruft und sich für mehr öffentliche Transparenz von Einkommen und Vermögen nach dem Vorbild der Angabe von Alter und Geschlecht ausspricht. Die willkürliche Auswahl von Kriterien, die schon bei banalen bürokratischen Anträgen angabepflichtig sind, gehört reformiert, denn nichts ist so ungleich und ungerecht verteilt wie Vermögen. Und nichts entscheidet mehr darüber, wie Menschen leben. Eindrücklich werden Konstitution und Wirkung von Klassismus am Beispiel Frankreichs in der Verfilmung des Romans Rückkehr nach Reims vom Klassenwechsler und Soziologieprofessor Didier Eribon dargestellt.
Immerhin: Mithu M. Sanyal teilte kürzlich den mit 15 000 Euro dotierten Literaturpreis Ruhr mit den Autor*innen der Shortlist. Das sei ein Novum, ließ das Literaturbüro Ruhr verlauten. Dass es bis 2021 dauerte, dass jemand bei einer Preisverleihung den finanziellen Aspekt des Preises teilt, zeigt, wie stark der Glaube erfolgreicher Menschen ist, sich den Erfolg verdient und damit die Pflicht zur Solidarität verloren zu haben. Die Aspekte der zufälligen Herkunft, der ungleich verteilten Privilegien und des Glücks werden aus Gründen der moralischen Selbst-Legitimation ausgeblendet. Plötzlich gilt: Jeder hat bekommen, was ihm zusteht. Dieser historische Irrtum bedarf keiner weiteren Erläuterung.
1 Erstmals wurde der Begriff von Amitai Etzioni 1986 verwendet. Douglas Coupland nahm ihn im Roman Generation X (1991) auf und definiert ihn dort folgendermaßen (Quelle: Wikipedia): „Ein niedrig dotierter Job im Dienstleistungsbereich mit wenig Würde, wenig Nutzen und ohne Zukunft. Oftmals als befriedigende Karriere bezeichnet von Leuten, die niemals einen solchen [Job] ausgeübt haben.“ Ich habe ihn dem Aufsatz Das will ich werden von Janna Steenfatt im empfehlenswerten Sammelband Brotjobs & Literatur (Hrsg. v. Iuditha Balint u. a., Verbrecherverlag Berlin 2021 entnommen).
2Stan Lafleur in: Brotjobs & Literatur (s. o.), S. 124.
3Ebd. S. 124 f.
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