Zeichenflut. Überflutet. Flaute
Jede Bewegung von Sophia wird in ihrer Emphase zum Zeichen und spielt damit indirekt auf die Hyperinflation von Zeichen an, die in ihrer ökonomischen Verwertbarkeit die Gesellschaft bestimmen, wie Jean Baudrillard bereits 1981, also noch vor der Bilder- und Zeichenflut des Internets, in seiner Schrift For a critique of the political economy of the sign konstatiert. Zeichen, die zirkulieren und dabei ein Simulacrum, eine Hyperrealität schaffen. [ii] Auf diese anspielend, gibt sich auch die Svoya Performance dem Zeichenspiel hin: Einige Minuten später kommen drei weitere Performer*innen (Vitalii Shupliak, Yana Novotorova, Véronique Langlott) mit ihren Yoga-Matten in den Raum. Auf die Rückwand desselben werden nun in schneller Abfolge Videos projiziert: YouTube Tutorials und kurze Home Videos deren Selektion und deren Inhalt absolut zufällig erscheinen. Der Blick des Publikums schweift konstant zur überdimensionalen Videoprojektion auf der Rückwand des Raumes, die seine Aufmerksamkeit fordert. Die Performer*innen versuchen wiederum die vor allem sportlichen Tutorials live auszuführen (Home-Workout). Ihre Körper sind dabei dem Publikum zugewandt, ihre Blicke richten sich jedoch auf einen Bildschirm, der, vor dem Publikum auf dem Boden installiert, ebenfalls die Videos abspielt. Daraus ergibt sich eine eigenartig chiastische Blickdynamik, bei der die Körper und Augen der Performer*innen und des Publikums räumlich einander zu‑, aber über die Bildschirme voneinander abgelenkt werden. Körper in einem geteilten physischen Raum werden aufgeteilt in virtuelle Räume, in denen sich ihre Präsenzen verlieren. Die kurzen und schnell aufeinanderfolgenden Videosequenzen führen im Verhältnis zur leicht verzögerten körperlichen Ausführung der Performer*innen zu einer zeitlichen Verzerrung. In der Schwierigkeit, die zum Teil absurden Übungen simultan umzusetzen, entsteht eine gewisse Hetze, die das ganze Spektakel albern erscheinen lässt. Hinterherrennende Körper, die vor der Schnelligkeit der Video-Abfolge ebenso kapitulieren, wie Augen vor dem akzelerierten News-Feed. Hier sieht das Publikum die Kapitulation disziplinierter Körper vor dem Nordkoreanischen Stechschritt. Die Nebeneinanderstellung von Videos in denen Menschen durch Yoga-Übungen ihre Körper stählen, und militärischen Übungen, durch welche der Körper gedrillt und optimiert wird, lässt nicht nur Überschneidungen in der physischen Praxis erkennen, sondern verweist auf die Strenge der Selbstdisziplinierung, den Druck der Selbstoptimierung, die die gegenwärtige Gesellschaft dem einzelnen Subjekt als Bedingung für seine Anerkennung abverlangt. Diese Sequenz des Stücks endet mit einer Achtsamkeitsübung, dem Shavasana. Auf der Rückwand wird nun ein tropischer Wasserfall sichtbar, der zur Meditation, zur temporären Entspannung einlädt, die im Anschluss zu einer gesteigerten Leistung führen soll. Natürlich verweist die gezeigte Flut an Amateur-Videos auf den Zwang, das Selbst nicht nur zu optimieren, sondern dies der Gesellschaft auch zu präsentieren. Dabei wird erneut ersichtlich, dass die digitale Selbstinszenierung der eigenen Leistung zwar mit dem Ziel der Singularisierung erfolgt — die Rhythmen, die Ästhetiken, die Zeichen die dabei entstehen, sich aber, weil gegenseitig kopierend (denn copy&share ist nun mal die Grundstruktur des Internets), zumindest innerhalb der eigenen Echo-Kammer homogenisieren. Den Vertrag, den die neoliberale Gesellschaft unterschreibt, indem er sich in die erschöpften Körper einschreibt, entsteht über die Rhythmen der Selbstoptimierung — das unsichtbare Band, das die individualisierte Gesellschaft verbindet, ist das geteilte Leid diese Rhythmen bis zur Erschöpfung zu befolgen. Véronique, die im Anschluss, als die anderen Performer*innen den Raum verlassen minutenlang im Kreis rennt und über ihre Erschöpfung und ihr am Morgen einzunehmen-vergessenes Kurkuma klagt, wird dabei zum Sinnbild dieser Gesellschaft. Generell gelingt es dem Stück die Dynamik zwischen exzessiver körperlicher Verausgabung und Effizienz-steigernden Ruhephasen perfekt in ihrem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zu inszenieren. Vermutlich liegt die wahre Gefahr auch im beschleunigten Rhythmus des Alternierens selbst, diesen kurzen ungeplanten Momenten des wahren Kontrollverlustes, in denen die übersteuerte Energie in absolute Erschöpfung umkippt. Angstauslösende Momente der Nicht-Kontrolle in einer Gesellschaft, für die die Selbstkontrolle — sich selbst der eigene Manager sein — als eine den Erfolg bedingende Grundvoraussetzung gilt.
Entgrenzte Disziplinierung
Diese Übernahme äußerer Formen der Disziplinierung, die zur gnadenlosen Selbstbeobachtung und Selbstdisziplinierung führt, hat Michel Foucault bereits im Mitte des 20. Jahrhunderts fabelhaft über die Funktionsweise des Panoptikums veranschaulicht und dadurch die Bedeutung der räumlichen Organisation, die die Körper verortet und die Blicke kontrollierend lenkt, demonstriert. [iii] Doch die Virtualisierung und Zersplitterung des Raums, die die hyper-Flexibilisierung der post-fordistischen Produktion und die Funktionsweise der Gig-Economy erwirkt, lässt Foucaults Panoptikum, welches sich an einer starren Architektur orientiert, anachronistisch erscheinen. Thomas Mathiesens Begriff des Synoptikums, in dem eben nicht eine/r die vielen, sondern viele eine/n, also mich, beobachten, charakterisiert die heutige Gesellschaft treffender, in der jeder Klick eine ökonomische und emotionale Verwertbarkeit erhält, in der also Quantität zur Existenzgrundlage wird. [iv]
Da das Subjekt nun nicht mehr an klar definierten Orten, wie der Fabrik, oder der Schule von Lehrenden oder Vorarbeiter*innen diszipliniert wird, sondern es die disziplinierenden Vielen, mit dem Smartphone in der Tasche trägt, wird die äußere Disziplinierung und damit die Selbstdisziplinierung räumlich und zeitlich ultimativ entgrenzt.
Selbstentwurf. Entwurf verwerfen. Retry
Der Svoya Mitgliedschaftsvertrag ist verschriftlichter Ausdruck eines unsichtbaren Vertrags, den die neoliberale Gesellschaft vor Jahrzehnten geschlossen hat. Dementsprechend findet auch Margaret Thatcher, zentrale Initiatorin des neoliberalen Wandels, ihren Eingang in die Svoya Performance: ein Bild der Iron Lady wird — the irony! ‑am ‚ironing board‘stehend an die Rückwand des Raumes projiziert. Jedoch wird sie nicht als Begründerin des Neoliberalismus vorgestellt, sondern als eine der wenigen weiblichen Führerinnen(in der Performance als ‚dictatress’ bezeichnet) in der westlichen Geschichte. Es ist der Teil des Stücks, in dem die Performerin Yana, als Gründerin der Svoya Partei humoristisch vorgestellt wird. Im Format einer Late Night Show wird Yana als Gast von der Performerin Sophia, die in diesem Abschnitt als Talkshowmasterin fungiert, jubelnd begrüßt. Karikiert wird dabei nicht nur das TV-Format selbst, sondern auch die positive Besetzung, sowie die selbstverständliche Nutzung des Wortes ‘dictator’in einer weiblichen Form, die im Englischen überhaupt nicht existiert. Yana wird als erfolgreiche Karrierefrau inszeniert, die sich aus der Prekarität der neoliberalen Gesellschaft befreit hat, nun aber ironischerweise deren Ideologie — gesellschaftliche Anerkennung qua Wille und Leistung — durch die Vermarktung ihrer eigenen Erfolgsgeschichte unweigerlich reproduziert. Nach ihrem vergeblichen Kampf um Entlohnung und Wertschätzung als Tänzerin beschloss sie die Svoya Partei zu gründen und eine dictatresszu werden. Die Komik und Absurdität der Szene — obwohl Frau hier doch bloß großspurig spricht, wie Mann breitbeinig handelt? Und obwohl der durch Coaching-Angebote fanatisch genährte Glaube an das Leistungsprinzip doch genau die Illusion der Erreichbarkeit jeglicher Selbstverwirklichungs-Fantasie forciert? — entlarvt auf geniale Weise die Funktionsweise des neoliberalen Systems, dessen Diktatur sich das Subjekt freiwillig unterwirft. Der unsichtbare neoliberale Gesellschaftsvertrag offenbart durch die dictatressYana auf geniale Weise seine dominante Stimme und seine Verführungskraft zugleich. Verführt wird das Subjekt von der Freiheit, die der Neoliberalismus verspricht und die das Leid, welches die Konsequenzen dieses Versprechens fordern, überstrahlt.
In der Sehnsucht nach Anerkennung —suche das Selbst
Strahlend waren auch die Freiheiten, die die Kontraktualisten des 18. Jahrhunderts für ihre neu entworfenen Gesellschaften imaginierten, auch wenn Frauen, in ihrem Ausschluss aus den Verträgen, nie in Geschmack derselben kamen. Als Rousseau 1762 seinen Contrat Social als Antwort auf gesellschaftliche Missstände entwirft, bleiben die weiblichen Unfreien unbeachtet. Große Beachtung aber erhalten die von Rousseau diagnostizierten Ursachen, die für die Unfreiheit seiner weißen männlichen Mitbürger verantwortlich seien. Als Quelle dieser beschreibt er gesellschaftliche Dynamiken, die heute in Reinform in der neoliberalen Gesellschaft anzutreffen sind. In seiner Schrift Abhandlung über die Ungleichheit (1755) sieht Rousseau in der Idee des Privateigentums, die zu Ungerechtigkeit und Neid in der Gesellschaft führe und in der übertriebenen Eigenliebe (‘l’amour propre’) des modernen Individuums die Ursprünge gesellschaftlicher Missstände begründet.[v] Die Perversion der amour propre entspringe einer egoistischen Gesellschaft und scheint diese zugleich in ihrem unsolidarischen Charakter für ewig zu bestätigen. Das moderne Subjekt handelt, weil durchweg in einem Konkurrenzverhältnis stehend, eigennützig und kann sich seiner Selbst doch nie eigen sein. Permanent um Ansehen ringend, lebt das Individuum außerhalb seiner Selbst, da sich der Selbstwert am äußeren Stellenwert bemisst. Anerkennung ist demnach, wie Frederick Neuhouser feststellt, ein „positionales Gut” und generiert sich aus dem Verhältnis der Gesellschaftsmitglieder zueinander, welches es zugleich mit definiert.[vi] Der natürliche Wunsch nach Anerkennung wird laut Rousseau in der modernen Gesellschaft künstlich pervertiert — und in der Postmoderne?
Bemessen werden kann heute der eigene Wert auf ganz einfache Weise durch die Anzahl der Likes, der Follower, oder den Rang in der Google-Suche. Die extreme Verschärfung der von Rousseau beklagten Dynamiken innerhalb der neoliberalen Gesellschaft zeugen vor allem von der Fetischisierung dessen, was Rousseau gerade als die Ursprünge des Übels kritisierte: Privateigentum und Selbstliebe. Neoliberalismus, das ist die massenhafte Privatisierung und damit Glorifizierung von Eigentum im Zuge der Thatcher-Reagan Ära. Neoliberalismus, das ist die Inszenierung des Selbst für den Anderen und die emotionale und ökonomische Abhängigkeit von der Bewertung desselben im Zuge der Digitalisierung.
Wenn Rousseau aufgrund der Missstände, die er vorfindet, einen Vertrag für eine neue Gesellschaft imaginiert und wenn wiederum der unsichtbare Vertrag, der die heutige neoliberale Gesellschaft konstituiert, gerade das in seine lebenslang verbindliche Satzung schreibt, was Rousseau als Ursache des gesellschaftlichen Übels diskreditiert, wie können wir dann mit diesem neoliberalen Vertrag brechen? Wie können wir uns von seinen Verbindlichkeiten lossagen, die doch so tief internalisiert sind, dass sie unsere Handlungen lenken und unsere Identität bedeuten? Zuallererst gilt es sich, entgegen des egoistischen Unabhängigkeitsversprechens des Neoliberalismus, als überhaupt in einem unsichtbaren Vertragsverhältnis stehend zu begreifen, sich in Relation zum Anderen zu sehen — den Anderen zu sehen. Und dann gilt es sich zu solidarisieren, um sich gemeinsam, über das gespürte und geteilte Leid, das der unsichtbare Vertrag der Vertragslosen mit sich bringt, aus seiner Geisel zu befreien. Die Svoya Partei ruft auf zur Revolution der Ausgebrannten, jener, die der neoliberale Vertrag betrogen hat. Gemeinsam erschöpfen sich die Erschöpften indem sie am Ende der Performance ihre Körper zusammen zur Ekstase steigern, um dann im Kollektiv zu kollabieren. Eine rauschartige Euphorie von Körpern, die sich nicht mit dem System, das sie doch illustrieren, sondern vielmehr miteinander solidarisieren, um für uns eine neue Gesellschaft zu imaginieren.