PERFORMANCE / DANCE 

Neo-Kontraktualismus.
Oder: über den in Performanz geschlossene Pakt der Vertragslosen

Künstler*innen
Yana Novotorova, Sophia Seiss, Véronique Langlott, Vitalii Shupliak, Claudia Barths

Jahr
2021

Land
Deutschland

Format
Performance / Dance

Ausstellung
Herbst 2022, Köln, tba

Material


Dimensionen
variieren

Das Stück Hiding in Plain Sight: Studies On Symbolic Violence Vol. I persifliert die Satzung des neoliberalen Gesellschaftsvertrags

Im Anfang der westlichen Moderne war die Idee; und die Idee war ein Vertrag. Die westliche Gesellschaft ist durch diesen Vertrag geworden; jenen, der die Individuen verband, ja aus dieser Verbindung in Wirklichkeit erst entstand — erst entstanden sind dabei wiederum diese modernen Individuen, deren neu erlangte Autonomie in diesem Vertrag wurzelt. Es war der Glaube an eine Freiheit, durch die „Unterwerfung aller unter jeden und eines jeden unter alle.” [i] Doch das in Wahrheit exkludierende Wesen dieses Postulats hat sich über das generische Maskulinum in die Satzung und damit tief in die westliche Gesellschaft hineingeschrieben. Der moderne Kontraktualismus, das waren vor allem weiße Männer, die für ihresgleichen eine ideale Gemeinschaft imaginierten: Hobbes, Locke, Rousseau. Vom absolutistischen Charakter des Leviathans einmal abgesehen, begründet sich in ihren Schriften die Konzeption des bürgerlich-liberalen Verfassungsstaates, der die Auffassung vom Bürger und seinen Rechten manifestiert und dabei Subjekt und Objekt, respektive Mann und Frau dualistisch definiert: Man(n) schuf damit Abhängigkeiten in seiner imaginierten Unabhängigkeit.

Über die Fiktion eines (vergangenen) Naturzustands wird die in Frieden erstrahlende Zukunft einer neuen Gesellschaft erdacht, die sich auf Zusammenhalt beruft, und doch — vielleicht vielmehr — auf den ignorierten Grenzen, die sie zieht, ihr Fundament errichtet. Gezogen wird entlang der sich dabei naturalisierenden Opposition der Geschlechter eine Grenze zwischen Öffentlich und Privat — eingepfercht wird die Frau in ihrer unbezahlten reproduktiven Zelle. Dieser Bürger, den die Gesellschaftsverträge imaginieren ist weiß und männlich, und er bleibt weiß und männlich bis ins 20. Jahrhundert hinein. Die Frau hingegen bleibt rechtlos — bürgerrechtslos — sie ist der Nicht-Bürger, der die bürgerliche Gesellschaft in ihrem Fortbestehen sichert. Gesichert ist dabei für alle Zeiten der Kapitalismus, dem der Liberalismus seit je als Ideologie dient.

Wer (ver)dient im Neoliberalismus?

Schweigende Körper einsamer Seelen 

Regungs­los auf ein­er Yoga-Mat­te liegend: ein Kör­p­er, in ein­er Leere, in ein­er Stille. Still wird auch das in einigem Abstand zu ihm sitzende, ihn betra­ch­t­ende Pub­likum, in dem Bedürf­nis diesen Kör­p­er zu erfassen. Im Hin­ter­grund, wiederum das Pub­likum in den Blick nehmend, ist das Gesicht eines jun­gen Mannes überdi­men­sion­al an die Rück­wand pro­jiziert. Büste­nar­tig ist der Auss­chnitt, der die Nack­theit seines Kör­pers andeutet, die sich jedoch der vollen Ansicht durch das Pub­likum entzieht. Vielmehr wer­den die Betra­ch­t­en­den betra­chtet, wer­den regel­recht durch­drun­gen von seinem regungslosen und inten­siv­en Blick. Ein dystopis­ch­er Anklang an Orwells Großen Brud­er, vor allem als plöt­zlich, in die Stille hinein, eine Stimme aus dem Off erklingt. Über die Augen in den Blick, und über die Stimme in die Hörigkeit genom­men, fordert der ver­dop­pelte Imper­a­tiv (Stimme/Blick) das Pub­likum dazu auf den Ver­trag zu lesen und zu unterze­ich­nen, welchen sie unter ihren Stühlen vorfind­en. Es ist der Mit­glied­schaftsver­trag der Svoya Partei. Svoya, ein Akro­nym — oder vielle­icht Syn­onym? — für die neolib­erale Gesellschaft: Sym­bol­i­cal­ly Vio­lent Over­worked Young Artists. Und so scheint dem Unterze­ich­nen und damit Bestäti­gen der ver­traglichen Kon­di­tio­nen, die da beispiel­sweise laut­en: „In diesem Kalen­der­jahr haben Sie schon min­destens 2 Burnouts erlebt,“ oder: „Sie kön­nen keine aktuellen Arbeitsverträge nach­weisen, selb­st wenn Sie arbeit­en,“ beina­he ein kathar­tis­ch­er Moment zuteil zu wer­den. Sich indi­vidu­ell ver­standen wis­sen von ein­er Partei, die die gegen­wär­tige Gesellschaft in ihrer Bre­ite ver­ste­ht? — das sind doch für gewöhn­lich Volkspartei-Qual­itäten? Jene über ihren Zer­fall kla­gen­den alten Volksparteien, deren Fun­da­ment wegen der ver­stärk­ten Polar­isierung, Atom­isierung und Hyper-Indi­vid­u­al­isierung der Gesellschaft bröck­elt, ver­suchen verzweifelt die eigen­willi­gen Zäh­ler auf einen Nen­ner zu brin­gen. Doch wie entste­ht Übere­in­stim­mung, ein über die Teilung hin­weg geteiltes Ver­ständ­nis? Wie entste­ht das gesellschaftsver­tragliche Band, das die Sub­jek­te unsicht­bar verbindet? — Wenn im Neolib­er­al­is­mus die Einzi­gar­tigkeit zur Norm und damit das Konkur­ri­eren zum alltäglichen Hand­lungsmodus wird?

Unsichtbare Verbindung entbindender Individuation 

Wed­er schriftlich kodiert, noch mit ein­er binden­den Unter­schrift sig­niert — wie soll auch das Sub­jekt unter­schreiben, wenn es erst über den Ein­tritt in den Ver­trag Iden­tität erhält? — ist ein Gesellschaftsver­trag vielmehr per­for­ma­tiv zu ver­ste­hen. Zu ver­ste­hen vielle­icht über die geteil­ten Rhyth­men und gesellschaftlichen Kon­ven­tio­nen, über Hand­lun­gen also und ihren Wieder­hol­un­gen, die den Ver­trag immer wieder aufs Neue her­stellen und repro­duzieren. Und zer­bricht die heutige Gesellschaft deshalb, weil wir sel­ten nur noch gemein­sam han­deln, oder im Kollek­tiv per­for­men? Die Beto­nung der Sin­gu­lar­ität in jeglich­er (Selbst)repräsentation scheint das Band der Gemein­schaft unwieder­bringlich zu zer­stören. Aber vielle­icht Teilen wir auch ein­fach nur Gemein­samkeit­en, die sich dem unmit­tel­bar Sicht­baren entziehen? Eine Ver­bun­den­heit scheint es, auch wenn das Bünd­nis im Unsicht­baren ver­bor­gen ist, doch zu geben: denn der gemein­same Nen­ner, der ruht eben nicht auf dem repräsen­tierten Teil der Iden­tität, auf dem Positiv(en), son­dern auf dem dun­klen Negativ(en). Der gemein­same Nen­ner, das sind die indi­vidu­ellen, aber in ihren hem­menden Auswirkun­gen mehrheitlich geteil­ten Äng­ste, die Depres­sio­nen, die indi­vidu­ell, aber mehrheitlich die gesellschaftlichen Rhyth­men prä­gen. Es ist dies die Ver­bun­den­heit der Aus­ge­bran­nten. Und ist der Svoya Mit­glied­schaftsver­trag dann nicht die Aus­for­mulierung eines Ver­trags, der die neolib­erale Gesellschaft schon sehr lange unsicht­bar verbindet?

Die Grammatik der Körper. Die Satzung des Vertrags 

Nach­dem die unbekan­nte Stimme aus dem Off die Unterze­ich­nung des Ver­trags fordert, erk­lärt sie das Mit­glieder-Train­ing für die neuen Parteizugänge für begonnen. Zuerst wird der Fokus auf das gelenkt, was sich der bewussten Wahrnehmung entzieht: etwa das Blinzeln der Augen, das Atmen, oder wie die Spucke langsam durch die Speis­eröhre rin­nt. Dieses Train­ing mag Anspie­len auf all die ökonomisch ver­w­erteten Acht­samkeit­sübun­gen, all den Insze­nierun­gen der Selb­stop­ti­mierung, den per­formten ‚healthy-lifestyles,‘ die den gegen­wär­ti­gen Gesellschaftsver­trag mit-kon­sti­tu­ieren und kon­tinuier­lich repro­duzieren. Bei Svoya, wo das Train­ing Bedin­gung der Parteim­it­glied­schaft ist, ent­blößt sich der zwang­hafte Charak­ter dieser täglichen Per­for­mances. Über die dom­i­nante Stimme, die aus dem Off das Ein- und Ausat­men streng rhyth­misiert, wird der eigene innere Befehlshaber ent­larvt, der von Anbe­ginn den Äußeren inter­nal­isierte und uner­müdlich zur Selb­stop­ti­mierung treibt. Als die Stimme ver­s­tummt, erwacht der Kör­p­er. Bish­er regungs­los auf der Yoga-Mat­te liegend, begin­nt er sich in langsamen, aber mit kraftvoll bes­timmten Bewe­gun­gen zu erheben. Klare Lin­ien, Direk­tive. Der Kör­p­er in ein­er Struk­tur, als Struk­tur, struk­turgebend. Es scheint als entwick­le die Per­formerin Sophia Seiss eine eigene Gram­matik und darauf basierend, ein sich wieder­holen­des Vok­ab­u­lar, das tat­säch­lich später von ihren Co-Performer*innen aufge­grif­f­en und bestäti­gend wieder­holt wird. Mal gemein­sam und zeitweilig syn­chron, mal indi­vidu­ell aus­ge­führt, wieder­holen sich Bewe­gun­gen dieser klar kodierten Anfangsse­quenz. Es ist die per­for­ma­tive Her­vor­bringung und Bestä­ti­gung des Svoya Ver­trags.

Trail­er: https://vimeo.com/646562806

Zeichenflut. Überflutet. Flaute

Jede Bewe­gung von Sophia wird in ihrer Emphase zum Zeichen und spielt damit indi­rekt auf die Hyper­in­fla­tion von Zeichen an, die in ihrer ökonomis­chen Ver­w­ert­barkeit die Gesellschaft bes­tim­men, wie Jean Bau­drillard bere­its 1981, also noch vor der Bilder- und Zeichen­flut des Inter­nets, in sein­er Schrift For a cri­tique of the polit­i­cal econ­o­my of the sign kon­sta­tiert. Zeichen, die zirkulieren und dabei ein Sim­u­lacrum, eine Hyper­re­al­ität schaf­fen. [ii] Auf diese anspie­lend, gibt sich auch die Svoya Per­for­mance dem Zeichen­spiel hin: Einige Minuten später kom­men drei weit­ere Performer*innen (Vitalii Shu­pli­ak, Yana Novo­toro­va, Véronique Lan­glott) mit ihren Yoga-Mat­ten in den Raum. Auf die Rück­wand des­sel­ben wer­den nun in schneller Abfolge Videos pro­jiziert: YouTube Tuto­ri­als und kurze Home Videos deren Selek­tion und deren Inhalt abso­lut zufäl­lig erscheinen. Der Blick des Pub­likums schweift kon­stant zur überdi­men­sion­alen Video­pro­jek­tion auf der Rück­wand des Raumes, die seine Aufmerk­samkeit fordert. Die Performer*innen ver­suchen wiederum die vor allem sportlichen Tuto­ri­als live auszuführen (Home-Work­out). Ihre Kör­p­er sind dabei dem Pub­likum zuge­wandt, ihre Blicke richt­en sich jedoch auf einen Bild­schirm, der, vor dem Pub­likum auf dem Boden instal­liert, eben­falls die Videos abspielt. Daraus ergibt sich eine eige­nar­tig chi­astis­che Blick­dy­namik, bei der die Kör­p­er und Augen der Performer*innen und des Pub­likums räum­lich einan­der zu‑, aber über die Bild­schirme voneinan­der abge­lenkt wer­den. Kör­p­er in einem geteil­ten physis­chen Raum wer­den aufgeteilt in virtuelle Räume, in denen sich ihre Präsen­zen ver­lieren. Die kurzen und schnell aufeinan­der­fol­gen­den Videose­quen­zen führen im Ver­hält­nis zur leicht verzögerten kör­per­lichen Aus­führung der Performer*innen zu ein­er zeitlichen Verz­er­rung. In der Schwierigkeit, die zum Teil absur­den Übun­gen simul­tan umzuset­zen, entste­ht eine gewisse Het­ze, die das ganze Spek­takel albern erscheinen lässt. Hin­ter­her­ren­nende Kör­p­er, die vor der Schnel­ligkeit der Video-Abfolge eben­so kapit­ulieren, wie Augen vor dem akzelerierten News-Feed. Hier sieht das Pub­likum die Kapit­u­la­tion diszi­plin­iert­er Kör­p­er vor dem Nord­ko­re­anis­chen Stech­schritt. Die Nebeneinan­der­stel­lung von Videos in denen Men­schen durch Yoga-Übun­gen ihre Kör­p­er stählen, und mil­itärischen Übun­gen, durch welche der Kör­p­er gedrillt und opti­miert wird, lässt nicht nur Über­schnei­dun­gen in der physis­chen Prax­is erken­nen, son­dern ver­weist auf die Strenge der Selb­st­diszi­plin­ierung, den Druck der Selb­stop­ti­mierung, die die gegen­wär­tige Gesellschaft dem einzel­nen Sub­jekt als Bedin­gung für seine Anerken­nung abver­langt. Diese Sequenz des Stücks endet mit ein­er Acht­samkeit­sübung, dem Shavasana. Auf der Rück­wand wird nun ein tro­pis­ch­er Wasser­fall sicht­bar, der zur Med­i­ta­tion, zur tem­porären Entspan­nung ein­lädt, die im Anschluss zu ein­er gesteigerten Leis­tung führen soll. Natür­lich ver­weist die gezeigte Flut an Ama­teur-Videos auf den Zwang, das Selb­st nicht nur zu opti­mieren, son­dern dies der Gesellschaft auch zu präsen­tieren. Dabei wird erneut ersichtlich, dass die dig­i­tale Selb­stin­sze­nierung der eige­nen Leis­tung zwar mit dem Ziel der Sin­gu­lar­isierung erfol­gt — die Rhyth­men, die Ästhetiken, die Zeichen die dabei entste­hen, sich aber, weil gegen­seit­ig kopierend (denn copy&share ist nun mal die Grund­struk­tur des Inter­nets), zumin­d­est inner­halb der eige­nen Echo-Kam­mer homogenisieren. Den Ver­trag, den die neolib­erale Gesellschaft unter­schreibt, indem er sich in die erschöpften Kör­p­er ein­schreibt, entste­ht über die Rhyth­men der Selb­stop­ti­mierung — das unsicht­bare Band, das die indi­vid­u­al­isierte Gesellschaft verbindet, ist das geteilte Leid diese Rhyth­men bis zur Erschöp­fung zu befol­gen. Véronique, die im Anschluss, als die anderen Performer*innen den Raum ver­lassen minuten­lang im Kreis ren­nt und über ihre Erschöp­fung und ihr am Mor­gen einzunehmen-vergessenes Kurku­ma klagt, wird dabei zum Sinnbild dieser Gesellschaft. Generell gelingt es dem Stück die Dynamik zwis­chen exzes­siv­er kör­per­lich­er Ver­aus­gabung und Effizienz-steigern­den Ruhep­hasen per­fekt in ihrem wech­sel­seit­i­gen Bedin­gungsver­hält­nis zu insze­nieren. Ver­mut­lich liegt die wahre Gefahr auch im beschle­u­nigten Rhyth­mus des Alternierens selb­st, diesen kurzen unge­planten Momenten des wahren Kon­trol­lver­lustes, in denen die über­s­teuerte Energie in absolute Erschöp­fung umkippt. Angstaus­lösende Momente der Nicht-Kon­trolle in ein­er Gesellschaft, für die die Selb­stkon­trolle — sich selb­st der eigene Man­ag­er sein — als eine den Erfolg bedin­gende Grund­vo­raus­set­zung gilt.

Entgrenzte Disziplinierung

Diese Über­nahme äußer­er For­men der Diszi­plin­ierung, die zur gnaden­losen Selb­st­beobach­tung und Selb­st­diszi­plin­ierung führt, hat Michel Fou­cault bere­its im Mitte des 20. Jahrhun­derts fabel­haft über die Funk­tion­sweise des Panop­tikums ver­an­schaulicht und dadurch die Bedeu­tung der räum­lichen Organ­i­sa­tion, die die Kör­p­er verortet und die Blicke kon­trol­lierend lenkt, demon­stri­ert. [iii] Doch die Vir­tu­al­isierung und Zer­split­terung des Raums, die die hyper-Flex­i­bil­isierung der post-fordis­tis­chen Pro­duk­tion und die Funk­tion­sweise der Gig-Econ­o­my erwirkt, lässt Fou­caults Panop­tikum, welch­es sich an ein­er star­ren Architek­tur ori­en­tiert, anachro­nis­tisch erscheinen. Thomas Math­iesens Begriff des Syn­op­tikums, in dem eben nicht eine/r die vie­len, son­dern viele eine/n, also mich, beobacht­en, charak­ter­isiert die heutige Gesellschaft tre­f­fend­er, in der jed­er Klick eine ökonomis­che und emo­tionale Ver­w­ert­barkeit erhält, in der also Quan­tität zur Exis­ten­z­grund­lage wird. [iv]

Da das Sub­jekt nun nicht mehr an klar definierten Orten, wie der Fab­rik, oder der Schule von Lehren­den oder Vorarbeiter*innen diszi­plin­iert wird, son­dern es die diszi­plin­ieren­den Vie­len, mit dem Smart­phone in der Tasche trägt, wird die äußere Diszi­plin­ierung und damit die Selb­st­diszi­plin­ierung räum­lich und zeitlich ulti­ma­tiv entgrenzt.

Selbstentwurf. Entwurf verwerfen. Retry

Der Svoya Mit­glied­schaftsver­trag ist ver­schriftlichter Aus­druck eines unsicht­baren Ver­trags, den die neolib­erale Gesellschaft vor Jahrzehn­ten geschlossen hat. Dementsprechend find­et auch Mar­garet Thatch­er, zen­trale Ini­tia­torin des neolib­eralen Wan­dels, ihren Ein­gang in die Svoya Per­for­mance: ein Bild der Iron Lady wird — the irony! ‑am ‚iron­ing board‘stehend an die Rück­wand des Raumes pro­jiziert. Jedoch wird sie nicht als Begrün­derin des Neolib­er­al­is­mus vorgestellt, son­dern als eine der weni­gen weib­lichen Führerinnen(in der Per­for­mance als ‚dic­ta­tress’ beze­ich­net) in der west­lichen Geschichte. Es ist der Teil des Stücks, in dem die Per­formerin Yana, als Grün­derin der Svoya Partei humoris­tisch vorgestellt wird. Im For­mat ein­er Late Night Show wird Yana als Gast von der Per­formerin Sophia, die in diesem Abschnitt als Talk­show­mas­terin fungiert, jubel­nd begrüßt. Karikiert wird dabei nicht nur das TV-For­mat selb­st, son­dern auch die pos­i­tive Beset­zung, sowie die selb­stver­ständliche Nutzung des Wortes ‘dictator’in ein­er weib­lichen Form, die im Englis­chen über­haupt nicht existiert. Yana wird als erfol­gre­iche Kar­ri­ere­frau insze­niert, die sich aus der Prekar­ität der neolib­eralen Gesellschaft befre­it hat, nun aber iro­nis­cher­weise deren Ide­olo­gie — gesellschaftliche Anerken­nung qua Wille und Leis­tung — durch die Ver­mark­tung ihrer eige­nen Erfol­gs­geschichte unweiger­lich repro­duziert. Nach ihrem verge­blichen Kampf um Ent­loh­nung und Wertschätzung als Tänz­erin beschloss sie die Svoya Partei zu grün­den und eine dic­ta­tresszu wer­den. Die Komik und Absur­dität der Szene — obwohl Frau hier doch bloß großspurig spricht, wie Mann bre­it­beinig han­delt? Und obwohl der durch Coach­ing-Ange­bote fanatisch genährte Glaube an das Leis­tung­sprinzip doch genau die Illu­sion der Erre­ich­barkeit jeglich­er Selb­stver­wirk­lichungs-Fan­tasie forciert? — ent­larvt auf geniale Weise die Funk­tion­sweise des neolib­eralen Sys­tems, dessen Dik­tatur sich das Sub­jekt frei­willig unter­wirft. Der unsicht­bare neolib­erale Gesellschaftsver­trag offen­bart durch die dic­ta­tressYana auf geniale Weise seine dom­i­nante Stimme und seine Ver­führungskraft zugle­ich. Ver­führt wird das Sub­jekt von der Frei­heit, die der Neolib­er­al­is­mus ver­spricht und die das Leid, welch­es die Kon­se­quen­zen dieses Ver­sprechens fordern, überstrahlt.

In der Sehnsucht nach Anerkennung —suche das Selbst

Strahlend waren auch die Frei­heit­en, die die Kon­trak­tu­al­is­ten des 18. Jahrhun­derts für ihre neu ent­wor­fe­nen Gesellschaften imag­inierten, auch wenn Frauen, in ihrem Auss­chluss aus den Verträ­gen, nie in Geschmack der­sel­ben kamen. Als Rousseau 1762 seinen Con­trat Social als Antwort auf gesellschaftliche Missstände entwirft, bleiben die weib­lichen Unfreien unbeachtet. Große Beach­tung aber erhal­ten die von Rousseau diag­nos­tizierten Ursachen, die für die Unfrei­heit sein­er weißen männlichen Mit­bürg­er ver­ant­wortlich seien. Als Quelle dieser beschreibt er gesellschaftliche Dynamiken, die heute in Rein­form in der neolib­eralen Gesellschaft anzutr­e­f­fen sind. In sein­er Schrift Abhand­lung über die Ungle­ich­heit (1755) sieht Rousseau in der Idee des Pri­vateigen­tums, die zu Ungerechtigkeit und Neid in der Gesellschaft führe und in der über­triebe­nen Eigen­liebe (‘l’amour pro­pre’) des mod­er­nen Indi­vidu­ums die Ursprünge gesellschaftlich­er Missstände begrün­det.[v] Die Per­ver­sion der amour pro­pre entspringe ein­er ego­is­tis­chen Gesellschaft und scheint diese zugle­ich in ihrem unsol­i­darischen Charak­ter für ewig zu bestäti­gen. Das mod­erne Sub­jekt han­delt, weil durch­weg in einem Konkur­ren­zver­hält­nis ste­hend, eigen­nützig und kann sich sein­er Selb­st doch nie eigen sein. Per­ma­nent um Anse­hen rin­gend, lebt das Indi­vidu­um außer­halb sein­er Selb­st, da sich der Selb­st­wert am äußeren Stel­len­wert bemisst. Anerken­nung ist dem­nach, wie Fred­er­ick Neu­houser fest­stellt, ein „posi­tionales Gut” und gener­iert sich aus dem Ver­hält­nis der Gesellschaftsmit­glieder zueinan­der, welch­es es zugle­ich mit definiert.[vi] Der natür­liche Wun­sch nach Anerken­nung wird laut Rousseau in der mod­er­nen Gesellschaft kün­stlich per­vertiert — und in der Postmoderne?

Bemessen wer­den kann heute der eigene Wert auf ganz ein­fache Weise durch die Anzahl der Likes, der Fol­low­er, oder den Rang in der Google-Suche. Die extreme Ver­schär­fung der von Rousseau beklagten Dynamiken inner­halb der neolib­eralen Gesellschaft zeu­gen vor allem von der Fetis­chisierung dessen, was Rousseau ger­ade als die Ursprünge des Übels kri­tisierte: Pri­vateigen­tum und Selb­stliebe. Neolib­er­al­is­mus, das ist die massen­hafte Pri­vatisierung und damit Glo­ri­fizierung von Eigen­tum im Zuge der Thatch­er-Rea­gan Ära. Neolib­er­al­is­mus, das ist die Insze­nierung des Selb­st für den Anderen und die emo­tionale und ökonomis­che Abhängigkeit von der Bew­er­tung des­sel­ben im Zuge der Digitalisierung.

Wenn Rousseau auf­grund der Missstände, die er vorfind­et, einen Ver­trag für eine neue Gesellschaft imag­iniert und wenn wiederum der unsicht­bare Ver­trag, der die heutige neolib­erale Gesellschaft kon­sti­tu­iert, ger­ade das in seine lebenslang verbindliche Satzung schreibt, was Rousseau als Ursache des gesellschaftlichen Übels diskred­i­tiert, wie kön­nen wir dann mit diesem neolib­eralen Ver­trag brechen? Wie kön­nen wir uns von seinen Verbindlichkeit­en los­sagen, die doch so tief inter­nal­isiert sind, dass sie unsere Hand­lun­gen lenken und unsere Iden­tität bedeuten? Zuallererst gilt es sich, ent­ge­gen des ego­is­tis­chen Unab­hängigkeitsver­sprechens des Neolib­er­al­is­mus, als über­haupt in einem unsicht­baren Ver­tragsver­hält­nis ste­hend zu begreifen, sich in Rela­tion zum Anderen zu sehen — den Anderen zu sehen. Und dann gilt es sich zu sol­i­darisieren, um sich gemein­sam, über das gespürte und geteilte Leid, das der unsicht­bare Ver­trag der Ver­tragslosen mit sich bringt, aus sein­er Geisel zu befreien. Die Svoya Partei ruft auf zur Rev­o­lu­tion der Aus­ge­bran­nten, jen­er, die der neolib­erale Ver­trag bet­ro­gen hat. Gemein­sam erschöpfen sich die Erschöpften indem sie am Ende der Per­for­mance ihre Kör­p­er zusam­men zur Ekstase steigern, um dann im Kollek­tiv zu kol­la­bieren. Eine rauschar­tige Euphorie von Kör­pern, die sich nicht mit dem Sys­tem, das sie doch illus­tri­eren, son­dern vielmehr miteinan­der sol­i­darisieren, um für uns eine neue Gesellschaft zu imaginieren.


[i] Jean-Jacques Rousseau zitiert in: Kosel­leck, Rein­hart. Kri­tik und Krise. Eine Studie zur Patho­genese der bürg­er­lichen Welt. Berlin 1973, S.135.
[ii] Vgl. Bau­drillard, Jean. For a cri­tique of the polit­i­cal econ­o­my of the sign. New York 1981, S.29–39 und vgl. Bau­drillard, Jean. Sim­u­lacra and Sim­u­la­tion. Michi­gan 1994 [Frankre­ich 1981], S.121–125.
[iii] Vgl. Fou­cault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefäng­niss­es. Frank­furt a. M. 2016 [1975], S.250–270.
[iv] Vgl. Bau­man, Zygmunt/ Lyon, David. Dat­en, Drohnen, Diszi­plin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung. Berlin 2013, S.90–101.
[v] Vgl. Jean-Jacques Rousseau. Abhand­lung über den Ursprung und die Grund­la­gen der Ungle­ich­heit unter den Men­schen. Ditzin­gen 1998 [Frankre­ich 1755].
[vi] Vgl. Fred­er­ick Neu­houser. „Rousseau und das men­schliche Ver­lan­gen nach Anerken­nung“. In: Deutsche Zeitschrift für Philoso­phie, 56 (2008) 6, S.899–922 (S.900–910).

“Hid­ing In Plain Sight: Stud­ies On Sym­bol­ic Vio­lence Vol. I” 

Von Symbol­i­cal­ly Violent Over­worked Young Artists:

Yana Novo­toro­va — Konzept, Entwick­lung, Per­for­mance
Sophia Seiss — Entwick­lung, Per­for­mance
Véronique Lan­glott — Entwick­lung, Per­for­mance
Vitalii Shu­pli­ak — Entwick­lung, Per­for­mance
Clau­dia Barths — Dira­maturgie, tech­nis­che Unter­stützung
Pitt Wen­ninger — Pho­togra­phie, tech­nis­che Unter­stützung
Han­nah Ret­tl — Pro­duk­tion­sas­sitenz 

Unter­stützt durch das NATIONALE PERFORMANCE NETZ — STEPPING OUT, gefördert von der Beauf­tragten der Bun­desregierung für Kul­tur und Medi­en im Rah­men der Ini­tia­tive NEUSTART KULTUR. Hil­f­spro­gramm Tanz.

Gefördert durch die Beauf­tragte der Bun­desregierung für Kul­tur und Medi­en im Pro­gramm NEUSTART KULTUR, Hil­f­spro­gramm DIS-TANZEN des Dachver­band Tanz Deutsch­land.

Unter­stützt durch NRW KUL­TURsekre­tari­at und Tanzrecherche NRW Stipendi­um,  Ver­anstal­tungszen­trum Tor 28, Tanz­fak­tur Köln, IZONE Kiew, FLUTGRABEN Berlin, Tanz­fab­rik Berlin.
studiesonsymbolicviolence.org
yananovotorova.com 


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Ferrars & Fields Magazine 

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