Integraler Bestandteil der sogenannten “rape culture” sind die “rape myths”, also einer bestimmten Logik folgenden Erzähl- sowie Darstellungsformen von Vergewaltigungen und sexualisierten Formen von Gewalt gegen Frauen. Wir sprechen für diesen Text eine Triggerwarnung aus.
TEXT Sandra Reichert LEKTORAT Mercy Ferrars, Anja Degner FOTO Cottonbro

Disclaimer und Triggerwarnung: Im folgenden Text geht es um sexualisierte Formen von Gewalt und sogenannte rape myths. Sollte dich das Thema triggern, liest du den Text vielleicht lieber später, oder mit einer Person deines Vertrauens, oder auch gar nicht. Du bestimmst und wählst für dich, was dir angenehm und für dich jetzt und hier richtig ist. An dieser Stelle sei zudem darauf hingewiesen, dass aufgrund der Lage und Zahlen, von männlicher Gewalt gegenüber Frauen gesprochen wird. Dies stellt nicht in Abrede, dass auch Männer von Gewalterfahrung und sexualisierten Formen von Gewalt betroffen sind. Der Fokus des Textes liegt auf denen, die hauptsächlich betroffen sind: FLINTA*. Solltest du Betroffene*r von Gewalterfahrungen sein, kannst du u. a. hier Unterstützung und Hilfe finden: Weißer Ring, Lara, BiG, L‑support, Hilfetelefon, maneo
Integraler Bestandteil der sogenannten rape culture sind die rape myths, also einer bestimmten Logik folgenden Erzähl- sowie Darstellungsformen von Vergewaltigungen und sexualisierten Formen von Gewalt gegen Frauen. Ein zentraler Teil dieser Narrative war schon immer, der Frau, d. h. dem im gegebenen Kontext zum Opfer gemachten Subjekt, die Schuld für die Gewalterfahrung zuzuschreiben. Angefangen bei Fragen zu ihrer Kleidung, über ihre Nüchternheit, ihr Verhältnis zum Täter, bis hin zum konkreten Anzweifeln ihrer Aussagen. Kulturgeschichtlich finden sich diese Motive unter anderem im Mythos der Medusa oder Kassandra wieder. Ziel ist es, das Opfer der sexualisierten Gewalt im Fokus und ursächlich für den Vorfall zu halten, es somit verantwortlich zu machen für das Handeln und Verhalten des Mannes. Victim Blaming durch klassische Täter-Opfer-Umkehr. Neben vielen Auswirkungen hat dies auch zur Folge, dass der wichtigste Aspekt weiter dramatisch unbeleuchtet bleibt: die Täter. So kennt fast jede*r Frauen, die sexualisierte Formen von Gewalt erfahren haben – doch wieso kennt (fast) nie jemand Täter?
Verschwesterung mit Tätern statt Solidarität mit Betroffenen
In Anbetracht dessen, dass die meisten dieser Taten eben nicht von fremden Unbekannten aus dem Nichts begangen werden, sondern stattdessen die meisten Überfälle und Delikte innerhalb von Partnerschaften und dem eigenen Zuhause verübt werden, wirft dies eine zunächst vielleicht seltsam anmutende Frage auf: Wissen die Männer vielleicht gar nicht, was sie da tun? Ist den betreffenden Männern eventuell nicht bewusst, dass sie vergewaltigen? Als Ergebnis des zuvor genannten Mythos denken noch immer viele Mädchen und Frauen, es läge in ihrer Macht und unterläge ihrer Verantwortung, eine Vergewaltigung zu verhindern. Diese Fehlannahme lässt weiter etliche dazu übergehen, statt der Solidarität mit den Opfern, die Verschwesterung mit den Tätern zu suchen. Dem zugrunde liegt nicht selten das Bedürfnis und der Wunsch nach dem Gefühl von Macht; der Wunsch, die eigene körperliche wie geistige Unversehrtheit schützen und im Zweifel verteidigen zu können. Umso größer der Schmerz wenn die Realität zum Korrektiv wird.
Nein heißt ja wenn er es sagt
Die männliche Unwilligkeit, ja gar Verweigerung, eigenes Fehlverhalten als solches zu erkennen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, bildet sich auch in einer im Jahr 2006 von der britischen Frauen- und Kinderhilfsorganisation „The Haven” durchgeführten Umfrage ab, wie Kat Banyard in ihrem Buch The Equality Illusion zitiert. Auch wenn die Studie in England durchgeführt wurde, dürfen wir die Zahlen repräsentativ für den status quo von Frauen im westlichen Patriarchat nehmen. Zudem weisen zahlreiche Quellen darauf hin, dass die Anzahl, Häufigkeit und das Ausmaß häuslicher Gewalt inklusive sexualisierter Formen von Gewalt in Partnerschaften während der Pandemie weiter drastisch zugenommen haben. Schmerzlich bestärkt durch die internationalen Zahlen, die im Jahr 2006 allein in der UK täglich 200 angezeigte Vergewaltigungen dokumentierten, wurde im Rahmen der von Banyard erwähnten Studie1 großflächig die Hälfte aller britischen Männer zwischen 18 und 25 Jahren zu dem Thema befragt. Zu den für mein Verständnis relevantesten Ergebnissen zählt die Angabe der Hälfte der Befragten, Sex und sexuelle Aktivitäten auch dann fortzusetzen, wenn die Partnerin deutlich und vernehmbar ihre Meinung dazu geändert und ihre Zustimmung zurückgezogen hatte. Besonders erhellend ist, dass diese Hälfte zudem erklärte, dies nicht für eine Vergewaltigung zu halten. Übersetzt heißt das: Nein heißt ja, selbst wenn sie nein sagt, solange er ja sagt. Zu den weiteren Erkenntnissen der Studie: einer von vier Männern hält es nicht für Vergewaltigung, wenn er mit einer Frau Sex hat, obwohl diese von Beginn an „Nein“ dazu sagt; einer von vier Männern würde versuchen, eine Frau zum Sex zu überreden, selbst wenn er weiß, dass diese dazu weder Lust noch Willen hat; 5% würden versuchen mit einer Frau Sex zu haben, die schläft; 6% würden versuchen, eine offenkundig betrunkene Frau zum Sex zu überreden. Aus einer analog dazu durchgeführten Umfrage ging hervor, dass 89% der Betroffenen die Vergewaltigungstäter kannten: In 45,5% der Fälle war der Täter der aktuelle oder Ex-Partner, gefolgt von Freunden und Bekannten mit 29,6%. Platz drei belegten Verwandte (13,9%), weit abgeschlagen und das Schlusslicht bildend lag, die Feministin nicht überraschend, der im rape culture-Patriarachat auf Platz eins projizierte unbekannte, fremde Mann (11%). Die Fragen, die sich für mich daraus ergeben, lauten: Kennen die meisten auch deshalb so wenige Täter, weil diesen nicht bewusst ist, sexuell übergriffig gewesen zu sein? Denn offenkundig ist das Bild oder die Vorstellung von dem Akt dieses Übergriffs dermaßen verzerrt/korrumpiert, dass es etlichen nicht einmal auffällt, wenn sie ihn begehen. Was halten die Befragten für Vergewaltigung, wenn nicht Sex gegen den Willen, gegen das Einverständnis der anderen? Wie viele Ehemänner wurden in Deutschland de jure durch die Gesetzesänderung im Juli 1997 zu Vergewaltigern, jedoch weiterhin nicht laut ihres Selbstverständnisses? Wer kannte ab August 1997 mehr Vergewaltiger als noch im Juli desselben Jahres?

Wiegt die Herkunft des Täters mehr als die Tat selbst?
Mit Blick auf Silvester 2015 und das mediale wie politische Echo darauf lässt sich durchaus vermuten, dass eine Vergewaltigung sich im Weißen Patriarchat nur durch das sie vollziehende Subjekt in Form eines schwarzen Mannes, nicht aber durch die tatsächliche Tat definiert. Wiegt die Herkunft des Täters mehr als die Tat selbst? Immer? Oder in gradueller Abhängigkeit der Breiten- und Längengrade des Herkunftsortes des Täters? Gibt es auch deshalb diese Solidarität unter Männern, weil keine kleine Zahl zumindest dumpf ahnt, selbst möglicherweise Täter gewesen zu sein? Wie oft habe ich einem Mann dabei zugehört, wie er den ihm Unbekannten durch Relativierung oder Umdeutungsversuche verteidigte, sogar angesichts und entgegen des Erfahrungsberichts einer vor ihm sitzenden, ihm bekannten Frau? Wie kommt es, dass ich durch Frauen von der Aufklärungs- und Anti-Gewalt-Arbeit von Männern wie dem Bildungsaktivisten, Autor und Filmemacher Jackson Katz oder dem Schauspieler, Filmregisseur und ‑produzenten Justin Baldoni weiß? Welche Vorstellungen hat (und lebt, unterstützt wie sanktioniert) diese Gesellschaft von Sexualität, von Sexualität im Kontext von Geschlecht, Macht, Beziehung und Rollen? Schafft und lässt sie Raum für Sex ohne Macht? Gilt noch immer der Rahmen aus christlich-paternalistischem Ton und binärem Code aus Heiliger oder Hure, innerhalb dessen man Heilige nicht vergewaltigt, die Hure per definitionem nicht vergewaltigbar ist, womit es keine Vergewaltigung von „richtigen“ Frauen gibt – und ergo auch keine wirklichen Täter? So hat sie es also doch verdient oder gewollt. So oder so: Er trägt keine Schuld für seine Tat.
Die größte Massenvernichtungswaffe gegen Frauen bleiben Männer
Sieht noch jemand, dass dieser double-bind es dem männlichen Täter so ermöglicht, für immer ohne Verantwortung zu bleiben, ganz gleich wie gräulich die Tat? Wie hält eine Frau es aus, dass ihr Missbrauchstäter weder juristisch noch sozio-kulturell jemals zur Rechenschaft gezogen wird? Was ist die männliche Vorstellung von weiblicher Sexualität und Lust? Woher kommt die Lust und der Lustgewinn an (sexueller) Erniedrigung der Frau bei so vielen Männern? Woher weiß eine Frau, dass sie bei einem Mann sicher ist? Was braucht es, damit die Stimme einer Frau zählt? Und schließlich: Wie bekomme ich das Patriarchat aus den Köpfen, das noch immer lieber FLINTA* ihre Glaubwürdigkeit und so auch das Recht auf Autonomie abspricht, als Cis-Männer in Verantwortung für das eigene aktive Handeln zu nehmen? Das Patriarchat, das lieber vor einem Kippen ins Matriarchat warnt — weil eine Frau erstmals für eine Legislaturperiode von 16 Jahren lang Kanzlerin war — anstatt marginalisierten, unterdrückten und strukturell benachteiligten Stimmen Gehör zu schenken. Wohl bemerkt in einer Zeit, in der in Deutschland jeden zweiten Tag eine Frau durch Männerhände stirbt, und jeden einzelnen Tag mindestens ein Mann versucht eine Frau zu töten. Das Patriarchat, in welchem Männer sich eher solidarisch mit ihnen unbekannten männlichen Tätern erklären und sie sich im Zweifel eine Welt basteln, in der Frauen weder diskriminiert noch angegriffen werden können, sei es durch Negieren oder Leugnen der Erfahrungen selbst ihnen vormals vertrauter Frauen. Die größte Massenvernichtungswaffe gegen Frauen bleiben Männer, und immer noch ist das Zuhause der gefährlichste Ort für FLINTA*. Mein Neujahrswunsch bleibt also das Ende des Patriarchats mitsamt seinen hass- und machtbedürftigen Brüdern wie Frauenhass und Egomanie. Das kommende Jahr steht an. Das kommende Jahr wird lang. Genug Zeit um Antworten zu finden. Oder bessere Fragen. Mythen sind aus guten Gründen zu hinterfragen. Sie sind überlieferte Geschichten vergangener Zeiten in ihrer Interpretation. Doch in dem, was bewahrt wurde, liegt auch der Schlüssel zur Veränderung. Denn selbst die Mythen um Figuren wie die einer Medusa oder Kassandra werden nach und nach holistischer, ehrlicher und endlich gehaltvoller erzählt. Alles bleibt also wandelbar. Das gilt auch für Bilder und Vorstellungen von Männlichkeiten. Der Held darf sich mittlerweile selber retten. Auf ein weiteres bewegtes und bewegendes neues Jahr – und Frauenleben.
1Kat Banyard: The Equality Illusion. Faber & Faber: 2010.
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