Ein neues Format von ARTE analysiert gesellschaftliche Normvorstellungen von Sex und zeigt: Eigentlich können wir es sowieso niemandem Recht machen. Warum dann nicht einfach tun, was wir wollen?
TEXT Lara Shaker LEKTORAT Lara Helena BILD Freie Liebe! ARTE, Regie: Ovidie Diglee, © Magneto/2 Minutes/ARTE France 2020

© Magneto/2 Minutes/ARTE France 2020. Mediathek
“I kissed a girl and I liked it”
Den Katy Perry Song kann wohl so ziemlich jede*r mitsingen. Aber kann jede Person, besonders Frauen, die Frauen lieben, auch (öffentlich) dazu stehen? Das mag vielleicht Typsache sein; die einen wollen ihr Coming Out öffentlich teilen, andere scheuen davor zurück. Die Gründe sind vielfältig: zum einen sind es fehlendes Verständnis, manchmal aber auch die Angst vor unangenehmen Reaktionen, etwa das Hypersexualisieren weiblicher Bisexualität. Genau hierauf spielt die erste Folge von „Freie Liebe!“ an, einem ARTE-Format, das sich mit gängigen Normen und Idealen von Sexualität auseinandersetzt.
Ovidie und Sophie-Marie Larrouy, Hauptfiguren dieser kurzen, aber sehr informativen Sketches, untersuchen in jeder Folge ein anderes Thema, das gesellschaftlich normiert und im besten Falle noch tabuisiert ist. In „I kissed a girl and I liked it“ heißt es zum Beispiel:
„Bisexualität bei Frauen wird nur toleriert, wenn ein Mann an der Seite ist, um sich einen darauf runterzuholen!“
Die Charaktere in den Animations-Kurzfilmen lassen dies aber keineswegs unkommentiert stehen, sie wehren sich, stehen hinter ihren Vorlieben und machen deutlich: Nur wenn wir trotz gesellschaftlicher Ideale tun, was wir wirklich wollen, können wir diese überkommen und hinter uns lassen.

Das weibliche Selbstbild ist fremdgesteuert
Eine andere Folge setzt sich mit dem Älterwerden als Frau auseinander. In „for ever young“ sehen wir eine Frau, die sich die Lippen unterspritzen lässt und anderen Schönheitsidealen hinterherjagt. Ihre individuelle Panik vor Falten und Co. wird in Bezug gesetzt zu Werbeplakaten für Kosmetikbehandlungen und der Porno-Industrie, die das Älterwerden nur im Bezug auf “MILFs” oder aber in Form von Lehrerinnen-Fetisch als erstrebenswert sieht. Dass die Darstellerinnen in diesen Filmen allerdings statt 40 höchstens 30 Jahre alt sind, erfahren wir auch von unseren Hauptfiguren. Durch sie werden die Geschichten quasi „von Freundin zu Freundin“ erzählt. Die Folge endet damit, dass die operierte Frau nüchtern Bilanz zieht: Nach ihrem Eingriff ist sie nicht zufriedener als zuvor, denn an der Litfaßsäule um die Ecke wartet das nächste Idealbild, dem sie nicht entspricht.
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Ovidie fragt dazwischen: „Wie kann man verhindern, dass Frauen ihr Geld und ihre Gesundheit für Beauty-OPs verschleudern?“ Und das fragen sich Zuschauer*innen auch. Denn die Animationen sind trotz ihrer übertriebenen Darstellung erschreckend realitätsnah. Sie zeigen mit verschiedenen Geschichten und eingestreuten Fakten auf, wie sehr propagierte Schönheitsideale und wirtschaftliche Interessen der Beauty-Industrie zusammenhängen. Und dass am Ende beide Faktoren Hand in Hand damit gehen, das weibliche Selbstbild zu steuern. Diese Art der Fremdbestimmung macht vor keiner Frau Halt und wird durch Film und Fernsehen, insbesondere durch Pornos, nur weiter verstärkt. Dass „barely legal“- und „teen“-porn boomen, bestätigt nur das Narrativ, je jünger eine Frau, desto sexier, desto besser ist sie. Und immer wieder stellt sich die Frage: Warum machen wir dabei mit? Und wie schaffen wir es, uns von diesen Normen freizumachen?

„Das Lieblingsmotiv unserer pubertären Kritzeleien“
Die Antwort auf diese Frage liegt in der Erziehung. Unser Umfeld suggeriert uns schon früh, dass weibliche Sexualität restriktiv ist und Männer eine sexuell freie Frau nicht mögen, wir also lieber die Beine zusammenhalten und auf „den Richtigen“ warten müssen. Sophie-Marie fasst dies in der Folge „Sex in Zahlen“ so zusammen:
„Die Schlampe eines Mannes sollen wir sein, aber nur Schlampe sein – Na ja, das würde zu weit gehen!“
Dazu kommt die Unsichtbarkeit weiblicher Sexualität, begonnen mit Menstruationsblut, dass selbst in Werbespots erst jetzt mit roter Flüssigkeit dargestellt wird, bis hin zum Fehlen anatomischer korrekter Darstellungen in Biologiebüchern. Frauenkörper und ihre Sexualität sind entweder unsichtbar, oder stark sexualisiert. Dagegen kann jedes Kind mit Erreichen der Pubertät einen Penis skizzieren, er bleibt bis heute das gängigste Motiv pubertärer Kritzeleien. Dies ist nicht nur aus ästhetischer Perspektive höchst fragwürdig, sondern deutet auf ein viel größeres Problem in unserer Gesellschaft hin, dessen Behebung sich die Macher*innen von „Freie Liebe!“ verschrieben haben: Der fehlenden weiblichen Emanzipation und sexueller Freiheit.

Eine radikale Entnormierung von Sexualität
Ovidie und Sophie-Marie treten nicht nur als Brücke zwischen Geschehen und Zuschauer*innen auf, sie verkörpern genau diese sexuelle Freiheit und Selbstbestimmung. Geht es in einer Folge etwa um Magersucht und den ständigen Diätwahn, heißt es kess aus dem Off:
„Eine hungrige Frau kann nicht denken – das schützt die Geschlechterordnung!“
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Sie zeigen uns, dass es möglich ist, ganz nach den eigenen Wünschen und fernab der vorgefertigten Idealbilder zu leben. Doch dafür müssen erstmal Zusammenhänge erkannt und Muster entdeckt werden. Wenn wir nicht wissen, woher unsere einschränkenden Gedanken und Vorbilder kommen, können wir sie auch nicht hinterfragen. Deshalb ist das Reflektieren über eigene Wünsche und Vorstellungen, gepaart mit dem Informieren über ihre Entstehung so wichtig.

Mit „Freie Liebe!“ bietet ARTE ein Format, das unterhält, aber auch vor Augen führt, wie wir unsere Sexualität leben (können). Thematisiert werden von Analsex bis Fifty Shades of Grey viele Sexualpraktiken und traditionelle Tabuthemen, aber auch die Kritik an typischen Rollenbildern – für Männer und Frauen. Am Ende steht immer der Appell, die Sexualität ist frei und kann von jedem/jeder so gelebt werden, wie er/sie es für richtig hält – ohne sich nach einer bestimmten Norm zu richten. Obwohl viele Charaktere recht stereotyp sind – wie beispielsweise der pubertierende Junge, der einen Blowjob einfordert, aber seine Freundin nicht lecken will – sind die Clips sowohl in ihrem Informationswert als auch in ihrer Gestaltung nie platt oder billig.
Die Wahl der Amination als Format ist ebenfalls geschickt, da sie durch schematische und vereinfachte Darstellungen eine Zensur umgeht und so spielerisch aufklärt, ohne künstlerische Freiheit einzubüßen. Trotz des großen Fokus auf weiblicher Sexualität werden auch männliche Normen, wie beispielsweise sexueller Leistungsdruck behandelt und analysiert. Insgesamt leistet „Freie Liebe!“ also einen wichtigen Beitrag zu einer Gesellschaft, in der Frauen frei und selbstbestimmt leben können – und unterhält nebenbei auch noch sehr gut.
„Freie Liebe!“ kommt aus Frankreich und wurde 2019 produziert. Alle Folgen sind in der ARTE Mediathek verfügbar.