Die Geschichte des Rock & Roll ist auch eine Geschichte der Rassenpolitik, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Musik. In seiner frühen Form besaß der Rock & Roll eine subversive politische Kraft, bevor er zu einer kapitalen Industrie wurde.
TEXT Mercy Ferrars LEKTORAT Lara Helena FOTO Jakayla Toney

“Für einige von uns begann es spät in der Nacht: zusammengekauert unter der Bettdecke und mit den Ohren an ein Radio geklebt, aus dem schwarze Stimmen voller intensiver Emotionen und mit einem wilden, kinetischen Rhythmus durch das nachmitternächtliche Rauschen dröhnten. Da wir im Amerika der fünfziger Jahre aufgewachsen waren, hatten wir so etwas noch nie gehört, aber wir reagierten darauf”
schreibt Robert Palmer im Rolling Stone.
Der Rock & Roll entstand in den 1950er Jahren in Amerika und wurde vor allem von Schwarzen Rhythm & Blues-Musiker*innen entwickelt. Deren Sound hatte sich, grob gesagt, durch das Liebäugeln ihrer Labels mit weißer Country-Musik und schwarzem Blues und Jazz verändert. In der Ära der Rassentrennung—die in der rechtlichen und kulturellen Struktur der US-Gesellschaft fest verankert war, vor allem unter den so genannten Jim-Crow-Gesetzen im Süden—popularisierte er die Schwarze Musik, wirkte als Katalysator im Überwinden der Rassentrennung und brachte den Traum von Freiheit und Revolte zu den Fußmatten weißer Teenager. Die Geschichte des Rock & Roll ist auch eine Geschichte der Rassen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Musik. In seiner frühen Form besaß der Rock & Roll eine subversive politische Kraft, kurz bevor er zu einer kapitalen Industrie wurde.
Als der frühe Rock & Roll das Licht der Welt erblickte, war sein Sound dem Rhythm & Blues so ähnlich, dass Musiker*innen wie Fats Domino die Entstehung und Notwendigkeit des Genres in Frage stellten. Country, Swing, afroamerikanische und lateinamerikanische Einflüsse flossen in den R&B der 1940er Jahre ein und verschmolzen zu einem neuen Sound: energiegeladen, revolutionär und jung. Musikalisch gesehen entstand der Rock & Roll nicht aus einer Innovation, sondern aus einer Verschmelzung rassifizierter Klangeigenschaften wie Riffs, Beats und Rhythmen. Seine multiethnischen Einflüsse lassen sich nicht leugnen:
“Der Bo-Diddley-Beat, der […] auf Platten von allen auftauchte, vom ehemaligen Jazz-Bandleader Johnny Otis (“Willie and the Hand Jive”) bis zum texanischen Rockabilly Buddy Holly (“Not Fade Away”), war afro-karibisch abgeleitet. Das langlebigste (sprich “überstrapazierte”) Bassriff im Rock ‘n’ Roll der fünfziger Jahre […] hatte Dave Bartholomew, der gewiefte Produzent und Bandleader von Domino, von einer kubanischen Son-Platte abgekupfert. […] Traditionelle mexikanische Rhythmen fanden durch Chicano-Künstler Eingang in die Rock’n’Roll-Arena.”1
Aufstrebende Künstler*innen ließen ein segregiertes Publikum am selben Ort tanzen, veranstalteten flamboyante, extravagante Shows und versprühten Lebensfreude, Sexualität und Freiheit. Dieses neu entdeckte Gefühl der Rebellion und Revolution fand beim Publikum Anklang. Der Rock & Roll wurde zu einer emanzipatorischen Kultur, die von jugendlicher Rebellion und sozialer Nonkonformität geprägt war. Er wurde vor allem an weiße Teenager vermarktet, die über Geld verfügten, das sie gerne ausgaben, und die bereits hinter geschlossenen Vorhängen in die Energie und den Soul der Schwarzen Musik eingetaucht waren. Vor allem für Teenager eröffnete der Rock & Roll eine neue Form der Selbstdarstellung, als “treibende Rhythm-and-Blues und schlüpfrige Blues-Platten” sie in “eine Kultur führten, die exotischer, aufregender und unerlaubter klang als alles, was sie bisher gekannt hatten.”2
Der Rock & Roll der Fünfziger Jahre lockerte die entmenschlichenden Ideologien der Jim-Crow-Gesetze auf und bereitete kulturell vor, was die Bürgerrechtsbewegung im nächsten Jahrzehnt erreichen sollte. Im selben Jahr 1954 wurde die seit Plessy v. Ferguson von 1896 geltende Politik des “getrennt aber gleich” Doktrins durch das Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten in der Rechtssache Brown v. Board of Education aufgehoben, während ein junger weißer Elvis Presley bei Sun Records in Memphis, Tennessee, mit dem avantgardistischsten Produzenten des Rock & Roll, Sam Phillips, seinen ersten Hit “That’s Alright Mama” aufnahm.

Brown v. Board of Education erklärte die Rassentrennung in Schulen für illegal und erlaubte Schwarzen Kindern, weiße Schulen zu besuchen, was auch Busse zwischen Schwarzen und weißen Vierteln einschloss. Dies war der erste Schritt zur Aufhebung der Rassentrennung.3 Rosa Parks weigerte sich 1955 in Montgomery, Alabama, einem weißen Fahrgast ihren Sitzplatz zu überlassen, während zeitgleich Little Richard zu Ruhm gelangte und die Art und Weise veränderte, wie weiße und Schwarze Bürger*innen den öffentlichen Raum gemeinsam nutzten, während er Show für Show rassistische Stereotypen bekämpfte. Elvis Presleys erster Hit schnitt metaphorisch das Band für den Rock & Roll durch, der zu einem Lebensstil und einem Genre wurde, mit dem sich die Weißen offen identifizieren konnten und das sie annehmen wollten. Die afroamerikanische Musik, die zuvor als “Rassenmusik” verunglimpft worden war, wurde nun einem breiteren weißen Publikum zugänglich gemacht, was ihren Klang in eine sterilere Version ihrer selbst verwandelte. Der neue Musikstil brauchte einen neuen Namen: Rocking and Rolling, angeblich ein Schwarzer Slangausdruck des frühen 20. Jahrhunderts für Geschlechtsverkehr, bezeichnete das rebellische, rasante, aufregende neue Genre und den neuen Lebensstil.
Bis in die 60er Jahre folgten mehrere Gesetze auf die Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen, die in der Rechtssache Brown v. Board of Education entschieden worden war. Während der gewaltfreie Anführer der Bürgerrechtsbewegung, Martin Luther King Jr., etwa von 1955 bis 1968 aktiv war, erließ der Oberste Gerichtshof den Civil Rights Act (1964), der die Diskriminierung aufgrund der Rasse oder des Geschlechts verbietet, den Voting Rights Act (1965), der das Wahlrecht für Nichtweiße schützt, und den Fair Housing Act (1968). Urteile wie Loving v. Virginia (1967), welches das Verbot der Ehe zwischen Rassen aufhob, und Heart of Atlanta Motel, Inc. v. United States (1964) trugen dazu bei, die Fortschritte bei den Bürgerrechten weiter zu beschleunigen und aufrechtzuerhalten. Doch während sich die Politik vorwärts zu bewegen schien, machte der Rock & Roll in seiner Haltung gegenüber der Rassenfrage einen Schritt zurück—eine bedauerliche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass einer seiner Gründerväter, Sam Phillips, den philosophischen Hintergrund der Musik geprägt hatte.
Das Magazin des National Endowment for the Humanities titelt in einem Artikel aus dem Jahr 20164: “Die Geburt des Rock’n’Roll ist bei Sam Philipps’s Sun Records zu finden.” Sam Phillips (1923–2003) war eine der Schlüsselfiguren des Rock & Roll. Als weißer Junge aus dem ländlichen Alabama wurde er schon früh von einer Vielzahl von Musikstilen beeinflusst, darunter auch von der Musik seiner afroamerikanischen Arbeitskolleg*innen, mit denen er als Kind auf den Feldern gearbeitet hatte. Ein weiteres prägendes Ereignis war ein Besuch in der Beale Street in Memphis, Tennessee, “der Heimat einer energiegeladenen und vielfältigen Musikszene, in der noch nicht existierende Blues- und Jazzlegenden wie Louis Armstrong und B. B. King zu hören waren.”5 Von Anfang an war sein Studio ein einladender Ort für weiße und Schwarze Künstler*innen gleichermaßen, obwohl er Sun Records im letzten Jahrzehnt vor einem politischen Umbruch der Rassenpolitik in den Staaten gründete. Phillips’ Philosophie blieb von der Rassentrennung seiner Zeit herzlich unbeeinflusst. Infolgedessen brachte er Rhythm & Blues-Koryphäen wie B.B. King, Ike Turner und Rufus Thomas hervor. Phillips veröffentlichte, was manche für die erste Rock & Roll-Single halten, nämlich “Rocket 88” der von Ike Turner angeführten Band Jackie Brenston and his Delta Cats. Aber seine Einnahmen verliefen zäh, und er erkannte bald, dass er in der Ära der Rassentrennung mehr Erfolg haben würde, wenn er den Schwarzen Rock & Roll stellvertretend durch weiße Künstler*innen an ein weißes Publikum vermarkten könnte.

Zu Phillips’ größten Entdeckungen gehörte Elvis Presley. Elvis’ Sound war kein weißer Sound. Viele vergleichen seine Stimme mit der von afroamerikanischen R&B‑Sänger*innen. Unzählige seiner Songs waren Coverversionen von afroamerikanischen Musiker*innen. Aber für die rebellischen Teenager seiner Zeit wurde er zu einem Idol, unter anderem da Urheberrechtsfragen nicht so streng gehandhabt wurden wie heute. Viele weiße Teenager hatten zuvor Rhythm & Blues gehört, und das oft heimlich im stark segregierten Amerika, aber Elvis brachte den Rock & Roll in die weiße Welt und repräsentierte eine Ikone, mit der sich weiße Teenager identifizieren konnten. Er löste einen Rausch aus, dem viele weiße Rockbands folgten. Nach und nach rückte der afroamerikanische Einfluss in der Wahrnehmung der Rockmusik durch den Mainstream in den Hintergrund. In den 60er und 70er Jahren waren die meisten erfolgreichen Rockkünstler*innen prozentual gesehen weiß. Phillips beherbergte bei Sun Records die Superstars des Landes, darunter keinen Geringeren als Johnny Cash. Nachdem er dazu übergegangen war, Schwarz klingende weiße Musiker zu produzieren, die entsprechend für ein weißes Publikum gestylt waren, wandte er sich folglich von der Produktion Schwarzer Künstler ab. Und obwohl Phillips zu Beginn seiner Karriere die Philosophie des Rock & Roll als eine farbübergreifende, integrative Bewegung inszenierte, die von träumerischer Freiheit und Rassengleichheit beseelt war, trug er letztlich dazu bei, dass der Einfluss der Afroamerikaner*innen in der Geschichte der Rockmusik ausgelöscht wurde. 1955 verkaufte Philipps Presleys Vertrag und 1969 verkaufte er Sun Records, um sich zur Ruhe zu setzen. Trotz der langsamen Abkehr von seinen afroamerikanischen Wurzeln trug der Rock & Roll wesentlich zum sozialen Wandel in den USA bei. “Was könnte unerhörter sein, bedrohlicher für die soziale und sexuelle Ordnung, die unter dem süffisanten Begriff der traditionellen amerikanischen Werte subsumiert wurde, als eine Little-Richard-Show in voller Länge?” fragt Palmer.6

In den 1980er Jahren hatte sich der Rock & Roll längst als “weiße Musik” etabliert. Die Weißwaschung hatte seine Wurzeln aus der Mitte des Jahrhunderts unter einer dicken Decke verborgen. Das allgemeine Wissen der meisten modernen Generationen über die Rockgeschichte reicht nicht weiter als bis in die 70er Jahre zurück, und so hält sich das Narrativ, dass Rockmusik von Natur aus eine weiße Kultur sei. In den 80er Jahren war die Rockmusik zu einer riesigen kapitalisierten Industrie herangewachsen und hatte sich von der Jugendkultur in den Mainstream verwandelt. Gleichzeitig entwickelte sich der Hip-Hop zu einem diametralen Gegenspieler des Rock, nicht nur musikalisch, sondern auch rassisch. Galt der Rock & Roll nun als weiße Kultur, so waren die Schlüsselfiguren des frühen Hip-Hop Afroamerikaner*innen aus New York, die über kratzige Platten lyrische Verse reimten, welche sich mit der immer noch sehr ungleichen Lebensrealität in den USA auseinandersetzten—geprägt von Polizei- und Ganggewalt, Armut und systemischem Rassismus.7
Wenn die Entstehungsgeschichte des Rock & Roll etwas bewiesen hat, dann, dass Musik dazu neigt, Grenzen zu überschreiten, Menschen zusammenzubringen und in der Lage ist, Stereotypen sowohl zu definieren als auch aufzulösen. In den 1990er Jahren, als die Rassen musikalisch wieder getrennt sind, verbindet sich der Rap plötzlich mit der Rockmusik und entwickelt sich zum Nu-Metal oder “Rap-Rock”.7 Weltberühmte Bands der 90er und frühen 2000er Jahre wie Linkin Park, KoRn, Limp Bizkit, Papa Roach, Rise Against the Machine oder die Beastie Boys sind berühmte Vertreter des Genres und haben die Popkultur mindestens ein Jahrzehnt lang dominiert. Auch wenn die meisten dieser Bands weiß sind, gibt es auch Kollaborationen, die von schwarzen Rap-Künstler*innen initiiert wurden, wie Run D.M.C. mit Aerosmith bei einem Remake von “Walk This Way” aus dem Jahr 1986, die Zusammenarbeit von Public Enemy mit Anthrax beim Remix von “Bring The Noise” aus dem Jahr 1991, die Band Body Count des Rappers Ice‑T, die Zusammenarbeit von Jay‑Z mit Linkin Park auf “Numb/Encore”, “Kool Thing” von Sonic Youth und Chuck D aus dem Jahr 1990, “Clint Eastwood” von Gorillaz und Del the Funky Homosapien aus dem Jahr 2001 und zahlreiche andere.
Was lässt sich über die Geschichte des Rock & Roll festhalten? Das Genre und die Jugendkultur entstanden in den späten Vierziger/frühen Fünfziger Jahren aus Schwarzem R&B, welcher von einer Vielzahl ethnischer Stimuli beeinflusst und geformt wurde und entwickelte sich schließlich zu einer hoch angesehenen Industrie. Mit beispiellosem Elan vermittelte er vielen das Gefühl von Freiheit, Revolte und Selbstdarstellung. Doch Geld und Politik färbten ihn weiß und führten dazu, dass er sich von seinen subversiven Wurzeln abwandte und das falsche Narrativ “Rock ist weiß” an künftige Generationen weitergab. Die Analogie zwischen der Entstehung des Rock und seinen vielen Wellen der rassischen Trennung und Annäherung spiegelt die Ideologien seiner Zeit. Umso wichtiger ist es, den Teil der Geschichte aufrechtzuerhalten, der aus den Geschichtsbüchern ausgeschlossen ist.
Fußnoten
1Palmer, Robert. “The 50s: A Decade of Music That Changed the World.” Rolling Stone, April 19, 1990.
2Kot, Greg. “Rock and Roll.” Encyclopædia Britannica.
3McWhorter, John. “The Origins of the ‘Acting White’ Charge.” The Atlantic, Atlantic Media Company. July 20, 2019
4Scanlan, Laura Wolff, et al. “The Birth of Rock ‘n’ Roll Is Found at Sam Phillips’s Sun Records.” The National Endowment for the Humanities, 2016.
5Scanlan, Laura Wolff, et al. “The Birth of Rock ‘n’ Roll Is Found at Sam Phillips’s Sun Records.” The National Endowment for the Humanities, 2016.
6Palmer, Robert. “The 50s: A Decade of Music That Changed the World.” Rolling Stone.
7Grierson, Tim. “Rap-Rock and Its Hip-Hop Origins.” LiveAbout, 13 Apr. 2019.
Weitere Quellen
History.com Editors. “Black History Milestones: Timeline.” History.com, A&E Television Networks, 14 Oct. 2009.
Jordan, James. “Racial Roots of Rock and Roll.” Medium, Publishous, 1 Oct. 2019.
“Rock’n’Roll.” Board of Music.
Reents, Edo. “Sam Phillips: Der Mann, Der Elvis Erfand.” Frankfurter Allgemeine, 31 July 2003.
“Sam Phillips.” Sun Records, 7 Jan. 2022.
Caroline Peacock. “The True Story of Rock and Roll: How Whitewashing Let down the Black Voice.” The Kollection, August 3, 2020.
Vanderburg, Colin. “How Rock and Roll Became White.” Los Angeles Review of Books, 24 Nov. 2016.
ÜBER: Mercy Ferrars
… Autorin von Why We Are Here, veröffentlicht seit 2019 das Ferrars & Fields Magazine. Als Philosophin interessiert sie sich vor allem für intersektionale kritische Theorie (wovon sie ein wenig Ahnung hat) und für die Metaphysik des Universums; Zeit und Raum (wovon sie im Grunde keine hat). Als Schriftstellerin schreibt sie hauptsächlich Romane, Kurzgeschichten und Gedichte, die sich um die Erforschung komplexer Gefühle drehen. Sie kann manchmal ein wenig zu ernst sein (deshalb ist ihre Lieblingsserie Bojack Horseman), aber ihr Sinn für Humor ist umso mehr basic (ihre Lieblingssitcom ist New Girl…).