NAHAUFNAHME

Seit einem Jahr habe ich plötzlich Coming Outs.

by Héloise markert

24/06/2022

Meine Queer­ness ent­deck­te ich vor eini­gen Jahren — mit 18 in Südameri­ka, frei und unge­bun­den, Klis­chee über Klis­chee. Die Mit­teilung an Fam­i­lie und Freund*innen kann kaum Com­ing Out genan­nt wer­den, denn die eigene Bisex­u­al­ität war als Debat­ten­punkt nicht mehr wert als ein Neben­satz, aber natür­lich von ele­mentar­er Rel­e­vanz um die Attrak­tiv­ität der queeren Per­son im Club mit kurzen blauen Haaren und Under­cut wertzuschätzen.

Dass die Dinge sich verkom­plizierten, kam erst später. Seit 2021 bin ich — meis­tens nicht sicht­bar — schwer­be­hin­dert und in ein­er polyamoren Beziehung mit ein­er nicht-binären Per­son. Die Com­ing Outs sind nun an ver­schiede­nen Stellen. Beim Ken­nen­ler­nen neuer Men­schen stets die Frage: “Wem erzäh­le ich wann wie viel von mein­er Behin­derung?” Aus Angst davor “die Stim­mung zu ruinieren”, beim Dat­ing nicht mehr in Betra­cht gezo­gen zu wer­den oder aus Sorge, dass manche es als Ausrede hören kön­nten um Arbeit­en, Events, etc. zu ver­mei­den. Außer­halb der Kern­fam­i­lie kommt plöt­zlich die Frage auf “Wem von mein­er Fam­i­lie erzäh­le ich wann wie viel von mein­er Beziehung?” Gibt es eine Chance, dass meine Beziehungsper­son akzep­tiert wird? Gibt es den Raum, dass unser Beziehungskonzept ver­standen wird?

Ich weiß, dass ich in ein­er extrem priv­i­legierten Posi­tion bin mit ein­er Kern­fam­i­lie, ein­er Beziehungsper­son und einem Freund*innenkreis die mich unter­stützen. Viele queere und behin­derte Men­schen haben das lei­der nicht. Trotz­dem muss auch ich mich jet­zt häu­fig fra­gen, welche Kraft ich habe um Debat­ten zu führen und um meine Rechte zu kämpfen und welche Kraft ich haben muss um Ally für trans Men­schen und/oder weniger priv­i­legierte behin­derte Per­so­n­en zu sein.

Doch Com­ing Outs sind nur ein Teil der Geschichte, in der sich meine Queer­ness und meine Behin­derung immer wieder auf uner­wartete Art und Weise verweben.

Das erste Mal, dass ich uner­wartet über diese Verbindung gestoßen bin, war beim queeren Sex. Natür­lich ist jed­er Sex von zwei queeren Men­schen immer irgend­wie queer, doch der Sex, den ich meine, ist ein­er, der nicht dem het­ero­nor­ma­tiv­en Bild fol­gt. Nicht nur von Pen­e­tra­tion lebt. Nicht in Pornos zu find­en ist. Mein Kör­p­er hat­te ange­fan­gen sich fremd anzufühlen. Durch meine OPs mussten meine Haare abrasiert wer­den und Nar­ben sind an mir erschienen. Da war Gewichtsverän­derung und in mir, aus medi­zinis­chen Grün­den, ein Fremd­kör­p­er, der sich in mir ent­lang zu winden schien. Meine Beziehungsper­son war ger­ade in der Phase des eige­nen Ken­nen­ler­nens als nicht-binär­er Men­sch. Auch hier war es notwendig neue Ent­deck­un­gen an sich selb­st zu machen. Queer­er Sex hat das ermöglicht. Ein Sex der den ganzen Kör­p­er mit ein­schließt und der auch aus der Magie der Nicht­berührung beste­hen kann. Sex, der keine Erwartun­gen und Anforderun­gen stellt, der sich anpasst an die Men­schen und nicht Men­schen, die sich an Sex anpassen und dadurch ihre Indi­vid­u­al­ität ver­lieren. Mir ist bewusst, dass diese Beschrei­bung unglaublich kitschig klingt. Aber ich habe entsch­ieden, dass ich das ver­ant­worten kann, denn queer­er Sex hat mir geholfen mich in meinem Kör­p­er wieder mehr zu Hause zu fühlen.

So sehr ich mich auch zu Hause füh­le in mir, war es mein Kör­p­er, der mich kom­plett aus der Zeit gewor­fen hat. Der den lin­earen Zeit­strahl durchtren­nt, zurück­ge­bo­gen und ver­knotet hat. Mehr ins Reflek­tieren zu mein­er eige­nen Crip Time bin ich erst durch das Essay von Ellen Samuels und das Buch Fem­i­nist, Queer, Crip von Ali­son Kafer gekom­men. Kafer bezieht sich darin auch auf die Analy­sen zu Queer Time von ver­schiede­nen Theoretiker*innen. Sowohl Queer als auch Crip Time kön­nen mit Shake­spear­es “the time is out of joint” beschrieben wer­den. Seien es die Funk­tio­nen des Kör­pers, die ein nor­ma­tiv geführtes Leben unterbinden, oder sei es die queere Asyn­chronität. Crips und Queers fol­gen nicht dem tra­di­tionellen geregel­ten Rhyth­mus des Lebens, beste­hend aus Geburt, Heirat­en, Repro­duk­tion und Tod. Jack Hal­ber­stam spricht von den “strange Tem­po­ral­i­ties” für Queers. Sei es die zweite Pubertät für Trans­men­schen, das Stre­ichen der Ver­gan­gen­heit durch den Bruch mit der Fam­i­lie oder die (gezwun­gene) Zurück­weisung der Zukun­ft durch das Hin­ter­fra­gen repro­duk­tiv­er Nor­men und — lei­der — die höhere Mor­tal­ität, auf­grund der Aids-Epi­demie, Morde und Suizide. Ich bin dankbar, dass viele dieser Aspek­te der Queer Time mein Zeit­ge­fühl heute unbee­in­flusst lassen. So viel des Schmerzes muss ich auf­grund von Schwarzen trans Aktivist*innen heute nicht mehr erfahren. Trotz­dem wird meine Zeit anders geord­net sein, als die viel­er Het­ero-Men­schen. Auch meine Crip Time ist wahrhaft “strange” gewor­den. Sei es der zwis­chen­zeitliche Wiedere­inzug bei den Eltern und sich umsor­gen lassen (müssen), dass Nicht­teil­nehmen an Club­nächt­en mit anderen jun­gen Men­schen, die aus­ge­lassen feiern und trinken und die Zukun­ft, die zu einem Frageze­ichen gewor­den ist. So ist meine Crip Time von Ver­lus­ten geprägt, aber sie bein­hal­tet auch eine gewisse Form der Macht. Ali­son Kafer fasst es so zusam­men: “rather than bend dis­abled bod­ies and minds to meet the clock, crip time bends the clock to meet dis­abled bod­ies and minds.” Die Macht, die Uhr mir anzu­passen, anstatt ander­sherum. Ich bin noch dabei es zu ler­nen, aber Crip Time hil­ft mir immer mehr, meinen eige­nen Rhyth­mus zu find­en, der nicht vom kap­i­tal­is­tis­chen “Immer mehr, Immer schneller, Immer weit­er” geprägt ist. Stattdessen höre ich auf mich und nehme mir Pausen, wenn es notwendig ist, gebe meinem Kör­p­er den zusät­zlichen Schlaf und ver­suche Raum zu schaf­fen, um zu weinen. Crip Time ist sich­er nicht immer ein­fach, aber sie trägt ein unglaublich­es Poten­zial in sich.
Ich weiß nicht ob meine Zeit irgend­wann wieder “straight” wird, mit lin­ear­er Ord­nung, mit Syn­chronität. Und ich weiß nicht, ob ich das will.

Den let­zten Punkt kann ich hof­fentlich kurz hal­ten, denn dass wir alle nicht für eine het­ero­nor­ma­tive, kap­i­tal­is­tis­che Welt gemacht sind, soll­ten wir hof­fentlich mit­tler­weile wis­sen. Auch Queers und Crips zer­brechen regelmäßig daran, sei es das “Mut­ter-Vater-Kind” Fam­i­lien­bild oder die kon­stante Work­load und der Hus­tle-Modus. Jack Hal­ber­stam hat in seinem Werk The Queer Art Of Fail­ure beschrieben, wie Queers immer wieder scheit­ern in ein­er Welt, in der Erfolg an Prof­it oder Heirat geknüpft ist. Doch da dieses Scheit­ern fast schon vorgeschrieben ist, nimmt es Druck von den Schul­tern und bietet eine Chance für freie Ent­fal­tung und eigene Lebenswege. Für behin­derte Men­schen lassen sich diese Sätze fast wortwörtlich übernehmen. Ich weiß noch nicht wie mein kun­stvolles Scheit­ern ausse­hen wird. Das ist okay. Alles Pin­sel­strich für Pin­sel­strich. Und wenn ich pausieren muss um Kraft zu tanken, ist auch das okay.

LEKTORATiert von Clemens Hübner. FOTO Cottonbro


Bib­li­ografie
Kafer, Ali­son: Fem­i­nist, Queer, Crip. New York: Indi­ana Uni­ver­si­ty Press, 2013.
Hal­ber­stam, Jack: The Queer Art of Fail­ure. Durham: Duke Uni­ver­si­ty Press, 2011.

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