FLINTA, PRIDE, LITERATUR

Warum eigentlich Pride? — Von der tödlichsten aller Todsünden

by MONA SCHLACHTENRODT

Mikhail Nilov

28/06/2022

Im Kon­text des Pride Month ist Pride bzw. Stolz ein all­ge­gen­wär­tiger und pos­i­tiv kon­notiert­er Begriff. Eine gute Gele­gen­heit sich der philosophis­chen Unart hinzugeben, einen Begriff so lange zu analysieren, bis die alltägliche und selb­stver­ständliche Ver­wen­dung des Begriffs langsam abhan­den kommt. Sobald man den Begriff Stolz etwas aus dem LGBTQ Kon­text löst, fällt einem wieder ein, dass er ein zweis­chnei­di­ges Schw­ert ist, der nicht sel­ten abw­er­tend ver­wen­det wird. Die ersten bei­den Def­i­n­i­tio­nen, die bei ein­er Google-Suche des Begriffs erscheinen, zeigen diese Ambivalenz bereits:

„1. von Selb­st­be­wusst­sein und Freude über einen Besitz, eine [eigene] Leis­tung erfül­lend; ein entsprechen­des Gefühl zum Aus­druck brin­gend oder her­vor­rufend “die stolzen Eltern”

2. in seinem Selb­st­be­wusst­sein über­he­blich und abweisend, “eine stolze Frau”“

Sofort springt einem durch die Beispiele ins Auge, wie der Begriff von gesellschaftlichen Vorstel­lun­gen und Nor­men geprägt wird. „Stolze Eltern“ sind schein­bar typ­is­cher­weise Men­schen, die zurecht Selb­st­be­wusst­sein über eine Leis­tung oder einen Besitz (was von bei­dem ein Kind ist, ist nicht ganz klar), empfind­en. „Eine stolze Frau“ hinge­gen, ist offen­bar ohne weit­eren Kon­text ein gutes Beispiel für eine Per­son, die in ihrem Selb­st­be­wusst­sein über­he­blich und abweisend ist. Vielle­icht, weil einem so schnell nichts ein­fällt, auf das eine Frau zurecht stolz sein kön­nte? Außer vielle­icht ein Kind zu haben – aber dann würde man sie wohl am besten als Mut­ter kennze­ich­nen. Es scheint unwahrschein­lich­er, dass „eine stolze Mut­ter“ hier als Neg­a­tivbeispiel funk­tion­iert hätte. „Ein stolz­er Mann“ hätte diesen Zweck ver­mut­lich auch nicht erfüllt.

Ein ander­er Grund, weshalb ger­ade eine „stolze Frau“ so gut als Neg­a­tivbeispiel funk­tion­iert, ist, dass Stolz mit Eigen­schaften assozi­iert wird, die tra­di­tionell der männlichen Sphäre zuge­sprochen wer­den und daher an Män­nern gerne gese­hen sind, an Frauen und an nicht binären Men­schen aber in der Regel miss­bil­ligt wer­den. Das genan­nte starke Selb­st­be­wusst­sein gehört dazu und damit ein­herge­hend Dom­i­nanz und Ziel­stre­bigkeit. Es han­delt sich um Eigen­schaften, die wir bei Men­schen, die typ­is­cher­weise in der Hier­ar­chie oben ste­hen (vor allem weiße Cis-Män­ner), gewohnt sind und erwarten. Bei Men­schen, die von der Gesellschaft auf die unteren Ränge ver­wiesen wer­den (beispiel­sweise Frauen, nicht binäre Men­schen und Peo­ple of Colour), nehmen wir sie hinge­gen als irri­tierend, über­he­blich und unfre­undlich, vielle­icht sog­ar als bedrohlich wahr.

Jan Kopři­va

Es mag in ver­schiede­nen Kon­tex­ten vari­ieren, wann wir Stolz an Men­schen als pos­i­tive, und wann als neg­a­tive Eigen­schaft wahrnehmen. Die Beispiele machen aber deut­lich, dass der Begriff stark von Nor­men und Hier­ar­chien abhängt, die wir uns in der Gesellschaft impliz­it und expliz­it auferlegen.

Ein Ort, an dem sich gesellschaftliche Nor­men beson­ders deut­lich man­i­festieren und expliz­it wer­den, sind die jew­eils dom­i­nan­ten Reli­gio­nen. In der christlichen Tra­di­tion gibt es deut­liche Mei­n­un­gen darüber, wie Stolz einzuord­nen ist. Die erste der sieben Tod­sün­den, „Super­bia“, wird neben „Hochmut“ auch mit „Stolz“ über­set­zt. Die Sieben Tod­sün­den wur­den im 6. Jahrhun­dert erst­mals von Papst Gre­gor dem Großen ent­wor­fen. Die Rei­hen­folge, in der sie ste­hen, ist absteigend darin, wie schw­er sie wiegen. Stolz ist die erste und stellt damit das größte Verge­hen gegen die men­schliche Seele und vor allem gegen Gott dar.1 Daher wird er auch als die tödlich­ste der Tod­sün­den beze­ich­net. Stolz ist die ursprüngliche Sünde, die allen anderen Sün­den zugrunde liegt. Papst Gre­gor der Große beschrieb einen stolzen Men­schen als jeman­den, der sich selb­st in seinen Gedanken bevorzugt, mit sich allein auf dem Pfad sein­er Gedanken wan­delt und im Stillen seine eigene Lobpreisung verkün­det. Wenn uns diese Sünde vol­lkom­men in Anspruch nimmt, ergeben wir uns automa­tisch allen weit­eren Tod­sün­den. Wir wen­den uns von Gott ab und ver­lassen uns auf uns selb­st.2 Der Kirchen­lehrer Augusti­nus beschrieb Stolz als ein per­vers­es Ver­lan­gen nach Größe, in dem wir nicht mehr Gott als den Anfang von allem Sein erken­nen, son­dern das Selb­st.3 Für die Kirche ist Stolz ein so großes Prob­lem, weil er das ist, was uns dazu ver­leit­et (oder ermächtigt) unserem eige­nen Impuls nachzuge­hen, statt Gottes Gebot als höch­ste Hand­lungsnorm zu fol­gen. Ob unser Wille, dem wir dabei fol­gen, wün­schenswerte oder zer­störerische Kon­se­quen­zen hat, ob er auf einem Bedürf­nis oder ein­er ratio­nalen Über­legung beruht, ist bei der Frage, ob wir uns an Gott ver­sündi­gen nicht rel­e­vant. Wir „miss­brauchen“ unseren freien Willen, indem wir uns selb­st über Gott stellen, indem wir nicht han­deln, wie er es für uns vorherbes­timmt hat.4 (The Pol­i­tics and Poet­ics of Camp S.31) Indem wir gegen Gott rebel­lieren, begeben wir uns auf den wahn­haften Pfad des Teufels, auf dem wir ver­suchen Gott gle­ich zu wer­den.5 In John Mil­tons „Par­adise Lost“, ist Evas erste Hand­lung, noch bevor sie Adam trifft und von der ver­bote­nen Frucht isst, das Betra­cht­en ihres eige­nen Spiegel­bilds im Wass­er. Sie ist so entzückt von ihrer eige­nen Schön­heit, dass sie einen Moment lang kaum mit Adam gehen will, der ihr weitaus weniger schön erscheint als die Spiegelung ihrer selb­st.6 Bere­its dort scheint ihr inner­er Stolz seinen Ursprung zu haben, der sie später dazu ver­leit­et, der Ver­führung der Schlange nachzuge­hen, eine Entschei­dung gegen das Gebot Gottes und die War­nun­gen ihres Mannes zu tre­f­fen und vom Baum der Erken­nt­nis zu essen. Sie stellt ihren eige­nen Impuls über das Gebot der ihr über­ge­ord­neten Män­ner und wird mit einem Moment der Ekstase belohnt, den sie in laster­hafter Lust mit Adam teilt.7

Auch das Ver­sprechen Satans, durch die Frucht auf die Ebene der Göt­tlichkeit erhoben zu wer­den, ist keine reine Lüge. Die Men­schen gewin­nen die Erken­nt­nis von Gut und Böse und erweit­ern damit ihr Bewusst­sein auf ein himm­lis­ches Maß. Damit der Men­sch Gott nicht vol­lkom­men eben­bür­tig wird, ver­ban­nt dieser ihn schle­u­nigst aus dem Paradies, „daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!“(1 Mose 44,22)

Geht man nicht davon aus, dass Gott und die Kirche unzweifel­haft gute Instanzen sind, denen wir uneingeschränkt gehorchen soll­ten, kön­nen wir die Sünde Stolz als eine innere Hal­tung sehen, die der Beginn ein­er Ermäch­ti­gung ist, die den Sta­tus Quo angreift. Stolz ermöglicht uns das Hin­ter­fra­gen der herrschen­den Ord­nung und öffnet damit eine Tür, hin­ter der wir die Möglichkeit haben, die Herrschaftsver­hält­nisse anzu­greifen und uns eventuell sog­ar von ihnen zu befreien. Ger­ade wenn wir zu ein­er Gruppe von Men­schen gehören, deren Selb­st­wert­ge­fühl sys­tem­a­tisch klein gehal­ten wird, spielt Stolz diese entschei­dende Rolle. Das gilt auch dann, wenn wir nicht gegen Gott rebel­lieren, son­dern gegen noch abstrak­tere Machtver­hält­nisse, die aber durch konkrete Geset­ze und von Men­schen aufrechter­hal­ten wer­den. Stolz ist etwas, das Men­schen, die in der Hier­ar­chie oben ste­hen, nicht an Men­schen sehen wollen, die in dieser Ord­nung unter ihnen sind, so wie Gott es nicht bei den Men­schen sehen will. Ein sicheres Zeichen dafür, dass mar­gin­al­isierte Grup­pen ihren Stolz kul­tivieren soll­ten, um daraus Stärke zu ziehen und ihre Posi­tion zu verbessern.

Lisett Kru­usimäe

Die LGBTQ+ Com­mu­ni­ty hat die Tod­sünde Stolz zu ihrer Tugend erk­lärt, in Anlehnung an den Kampf der Schwarzen Com­mu­ni­ty, die sich Stolz und Selb­st­wert­ge­fühl trotz per­ma­nen­ter Erniedri­gun­gen und Mar­gin­al­isierung zu eigen gemacht hat. Etwas, das als Auf­s­tand gegen Unter­drück­ung und Polizeige­walt begonnen hat, wird bekan­nter­weise heute jedes Jahr mit viel Glitzer unter dem Namen „Pride“ gefeiert. Auch hier gehen, wie im Chris­ten­tum, Stolz und Rebel­lion Hand in Hand. Auch hier kann man den Stolz der Men­schen als eine innere Hal­tung betra­cht­en, die es ihnen ermöglicht sich trotz dum­mer Sprüche, schrä­gen Blick­en und weitaus Schlim­merem nicht zu ver­steck­en, ihren Kopf hoch zu tra­gen und auch mal den ersten Stein zu wer­fen. Selb­st wenn wir keine Steine wer­fen, ist es oft schon ein Akt der Rebel­lion offen und ohne jede Reue als das zu existieren, was man ist. Denn bere­its davon, dass Men­schen ein­mal im Jahr stolz ihr Queer­sein zeigen und sich nicht dafür schä­men, fühlen sich viele Leute ange­grif­f­en. An der Ober­fläche erscheinen dann oft Fra­gen wie: Warum sollte man stolz auf die eigene Sex­u­al­ität oder das eigene Geschlecht sein, das ist doch keine Leis­tung? Oder: Brauchen wir dann nicht auch eine Straight Pride? Bei der ersten Frage wer­den wir auf die anfangs ange­führte Def­i­n­i­tion von Stolz zurück­ge­führt, bei der es darum geht, dass wir „von Selb­st­be­wusst­sein und Freude über einen Besitz, eine [eigene] Leis­tung erfüllt“ sind. Durch die Herange­hensweise an Stolz über die Tod­sünde, haben wir eine mögliche Begrün­dung gefun­den, weshalb es hil­fre­ich ist, Stolz in einen poli­tis­chen Kampf einzu­bet­ten. Dabei ging es nicht darum stolz auf etwas zu sein, son­dern um Stolz als eine Art all­ge­meine innere Hal­tung, ähn­lich wie es das Selb­st­wert­ge­fühl ist. Aber auch das Ver­ständ­nis von Stolz, bei dem er sich auf eine bes­timmte Sache, wie etwa eine eigene Leis­tung bezieht, sollte berück­sichtigt wer­den, da der Begriff das im All­t­agsver­ständ­nis nun­mal bein­hal­tet und nicht vol­lkom­men unab­hängig davon ver­wen­det wer­den kann. Daher wäre es gün­stig auch über diesen Aspekt des Stolzes eine ansprechende Vorstel­lung von Gay Pride zu bekom­men. Fabi­an Hart liefert die gesuchte Antwort in sein­er Kolumne „Das neue Blau“. „Nein, ich bin nicht stolz darauf schwul zu sein. Ich bin stolz darauf, den Mut zu haben meine Wahrheit zu leben und ein­er Gesellschaft zu ent­geg­nen, die Het­ero­sex­u­al­ität als die Norm begreift und struk­turell diskri­m­inierend ist.“ Men­schen, die aus der binären, cis­geschlechtlichen, het­ero­sex­uellen Norm her­aus­fall­en, bringt bere­its der All­t­ag immer wieder Sit­u­a­tio­nen, in denen sie entschei­den müssen, ob sie in der Sit­u­a­tion den leicht­en Weg gehen und ver­schleiern, wer sie sind oder ob sie die Energie für kleine oder große Kon­fronta­tio­nen auf­brin­gen, sich selb­st zeigen und angreif­bar machen oder sich sog­ar vehe­ment gegen Diskri­m­inierung ein­set­zen. Verbinden wir die bei­den Def­i­n­i­tio­nen von Stolz, kön­nte man sagen, wir kön­nen als queere Men­schen Stolz auf unsere Leis­tung sein, uns ent­ge­gen allen Widrigkeit­en einen eige­nen Stolz aufge­baut zu haben, der uns nicht den Kopf einziehen lässt, wenn es von uns erwartet wird. Die zweite Frage, auch wenn sie einen vielle­icht zur Weißg­lut treibt, weist einen den­noch auf einen Aspekt von Stolz hin, der nicht vol­lkom­men in Vergessen­heit ger­at­en sollte. Stolz bleibt eine zweis­chnei­di­ge Klinge. Erin­nern wir uns an die zweite Def­i­n­i­tion, die Google aus­ge­spuckt hat: „in seinem Selb­st­be­wusst­sein über­he­blich und abweisend“. Es fall­en uns sich­er schnell ein paar Men­schen ein, auf die das zutrifft. Auch wenn Stolz etwas Pos­i­tives und ver­mut­lich auch etwas Notwendi­ges ist für ein erfülltes Leben, zu viel davon kann in etwas Zer­störerisches umschla­gen. Wir wür­den es dann wohl eher als Arro­ganz beze­ich­nen. Das geht oft ein­her mit Stolz auf Eigen­schaften, die uns ohne­hin schon mit Priv­i­legien ausstat­ten, die anderen im Gegen­zug voren­thal­ten wer­den. Wohin beispiel­sweise Nation­al­stolz und White Pride führen kön­nen, ist bekan­nt. Vielle­icht wären entsprechend passendere Begriffe für diese Phänomene “Nation­alar­ro­ganz” und “White Arro­gance”. In dieser Ter­mi­nolo­gie wäre eine mögliche Antwort auf die Frage, ob es eine Straight Pride Parade geben sollte, dass man es lieber in Erwä­gung ziehen sollte, sie Straight Arro­gance Parade zu nen­nen. Vor­sicht ist daher geboten und wir soll­ten alle hin und wieder hin­ter­fra­gen, ob unser Stolz in einem pro­gres­siv­en Kon­text ste­ht und wie er sich auf unser Umfeld auswirkt. Sehen wir uns die geset­zlichen und sozialen Schwierigkeit­en an, mit denen sich offen queere Men­schen in ver­schieden­em Maße über­all kon­fron­tiert sehen, ist klar, dass in diesem Kon­text Stolz hil­fre­ich und notwendig ist.

Wenn wir als queere Men­schen ohne­hin schon von der Kirche und einem erhe­blichen Teil der Gesellschaft als Sünder*innen betra­chtet wer­den, kön­nen wir genau­so gut das Nar­ra­tiv übernehmen und in ein­er selb­ster­mächti­gen­den Weise umgestal­ten. Wir wis­sen schließlich wie befreiend es ist, sich über die erlernte Scham zu erheben und zu sündi­gen. Warum uns dann nicht gle­ich der tödlich­sten aller Tod­sün­den hingeben und im Stillen sowie in aller Öffentlichkeit unsere eigene Lobpreisung verkünden?

LEKTORiert von Clemens Hübner. FOTO Mikhail Nilov


Fußnoten
1 Dyson, Michael Eric: Pride, Oxford, 2006, S. xi.
2 Dyson, Michael Eric: Pride, Oxford, 2006, S. 10.
3 Dyson, Michael Eric: Pride, Oxford, 2006, S. 11.
4 King, Thomas A., Mey­er, Moe (Hrsg.): The Pol­i­tics and Poet­ics of Camp, Lon­don, 1994, S. 31.
5 Dyson, Michael Eric: Pride, Oxford, 2006, S. 11.
6 Mil­ton, John: Das ver­lorene Paradies. Berlin. 1984. S. 100–101.
7 Mil­ton, John: Das ver­lorene Paradies. Berlin. 1984. S. 237–246.

Lit­er­aturverze­ich­nis
Die Bibel, Nau­mann & Göbel Ver­lags­ge­sellschaft, Köln, 1990.
Dyson, Michael Eric: Pride, Oxford, 2006.
Mey­er, Moe (Hrsg.): The Pol­i­tics and Poet­ics of Camp, Lon­don, 1994.
Mil­ton, John: Das ver­lorene Paradies. Berlin. 1984.
https://www.regenbogenportal.de/informationen/erinnerung-sichtbarkeit-und-emanzipation-christopher-street-days
https://www.vogue.de/lifestyle/artikel/fabian-hart-das-neue-blau-die-pride-frage

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