FEUILLETON, LITERATUR
Circe: Tochter der Sonne und feministische Ikone
by MERCY FERRARS

09/08/2022
‚Ich denke, du bist Odysseus‘, sagte ich. ‚Vom gleichen Blut wie [Hermes].‘
Er zuckte nicht hinsichtlich dieses unheimlichen Wissens. Er war ein Mensch, der an die Götter gewöhnt war. ‚Und du bist die Göttin Circe, Tochter der Sonne.‘
Mein Name in seinem Mund. Es löste ein Gefühl in mir aus, stechend und erwartungsvoll. Er war tatsächlich wie die Gezeiten des Meeres, dachte ich. Man sähe auf, und das Ufer wäre verschwunden.
Hundertfach bin ich zu Zeiten meines Bachelors in meinen endlosen Freistunden zwischen den Statuen am Neuen Palais und dem Park Sanssouci in Potsdam entlang flaniert, ganz ohne zu begreifen, welch faszinierende Legenden mich eigentlich umgaben. Erst als ich vergangenen August mit einer Freundin einmal einen näheren Blick auf die Skulpturen warf, begriff ich, dass sie die vielfältigen Persönlichkeiten der griechischen Mythologie darstellten. Ganz besonders nahe fühlte ich mich einer Statue, welche einen Halbmond auf der Stirn trug—Selene, Göttin des Mondes. In diesem Moment war eine kleine Flamme in mir entfacht worden. Ich wusste bisher nichts über die griechische Mythologie—manche Namen, wie Odysseus oder Medea tauchten stellenweise in meiner Erinnerung auf, doch zum Großteil war mir die Welt der antiken Heldenepen und Göttersagen bis zu diesem Tage verschlossen geblieben. Ändern sollte sich dies, als ich während meiner letzten Reise nach Glasgow plötzlich über Madeline Millers Circe stolperte. Ich nehme unglaublich gerne Bücher als Souvenirs aus den Städten mit, die ich besuche (beispielsweise Warm Bodies aus London oder Die unendliche Leichtigkeit des Seins aus Bukarest). Millers Circe bestach mich in der britischen Ausgabe mit seinem wunderschön leuchtenden bronze-farbenen Cover—und sollte fortan den ersten Schritt auf meiner offenbarenden Reise durch die griechische Mythologie bezeichnen.
Die Geschichte der Göttin Circe, Tochter der Sonne, Erschafferin des Seeungeheuers Scylla und Geliebte des Odysseus, eine mächtige Zauberin—eine Pharmakis—wurde bereits in vielerlei anderen Werken erzählt, beispielsweise in Homers Odyssee. Doch Madeline Miller erzählt ihre Geschichte auf eine erfrischend neue Art und Weise. Bei Miller ist Circe eine Protagonistin mit einer reichen und tiefgründigen Innenwelt und, vor allen Dingen, einer beinahe schon menschlich nachvollziehbaren Vergangenheit. Ihre eigene Geschichte, ihr coming into existence, wird nicht nur fantastisch mit anderen großen Ereignissen der mythischen Sagen verknüpft und eingebettet, nein, bei Miller wird Circe zur feministischen Ikone, zur Hexe, welche viel ihrer selbst gibt und die das Leben letztlich lehrt, sich einzig auf ihre eigenen Kräfte zu verlassen. Meinem Sinn für Ästhetik und Dramaturgie wird Miller mit ihrer großen, mächtigen Sprache sehr gerecht—eine Sprache wie geschaffen, um von Göttlichkeit zu erzählen.
Es war meine erste Lektion, unter dem geschmeidigen, vertrauten Antlitz der Dinge verbirgt sich ein weiteres, welches die Welt entzwei zu reißen sucht.

Millers Konzeption der Circe lässt sich in drei große Konflikte einordnen: Ablehnung, Schmerz und Isolation.
Als ich geboren wurde, gab es keinen Namen für das, was ich war. Sie nannten mich Nymphe, und nahmen an, ich sei wie meine Mutter und Tanten und tausend Cousinen…
beginnt Circes Geschichte, wenn man das Buch aufschlägt. Nymphe zu sein, so macht Circe klar, bezeichnet nicht nur eine niedrigere Gottheit, sondern auch ihre Funktion in einer patriarchal geprägten Gesellschaft der großen Gottheiten: Ihr Schicksal als Braut. Aus hohem Hause des Sonnenkönigs Helios stammend, erfüllt Circe keine der Ansprüche, welche an Nymphen gestellt werden. Ihre Stimme ist zu menschlich, ihre Erscheinung niemals schön genug, ihre Fähigkeiten nicht nützlich und ihr Wille so ungestüm und unberechenbar, dass eine Zukunft als folgsame Braut unvorstellbar wird. Nachdem Circe die Nymphe Scylla aus Eifersucht in ihre wahre Gestalt—ein furchteinflößendes Seeungeheuer, welches der Legende nach die Meere zwischen Sizilien und Italien heimsucht—verwandelt, zieht sie die Wut der Götter auf sich und wird auf die Insel Aiaia verbannt. Nebst ihrer Löwin und ihrer magischen Pflanzen führt Circe dort ein einsames, doch erfülltes Leben. Sie schult eigens ihre Hexenkunst und führt eine affektlose Affäre mit dem Götterboten Hermes, der nebenbei den Tratsch der Götterhäuser zu ihr trägt. Zuweilen finden auch einige namhafte Figuren der griechischen Mythologie ihren Weg in Circes Leben, beispielsweise ihre Nichte Medea und der Künstler und Erfinder Daidalos.
Die Wahrheit ist, Männer machen fürchterliche Schweine.
Kurz nachdem einige junge Nymphen ins Exil nach Aiaia geschickt werden, findet auch ein kritisches Moment in Circes Leben den Weg dorthin. Ein Schiff geht nahe der Insel vor Anker und die Besatzung, erschöpft von ihrer Reise, bittet um Rast und Proviant. Circe heißt die Gäste willkommen, doch sie ahnt um die Unwissenheit der Reisenden hinsichtlich ihrer Göttlichkeit. Als die Seemänner sich nach ihrem Ehemann erkundigen, um ihm zu danken, erwähnt Circe gegenüber einem der Männer, dass sie mit den Nymphen allein auf Aiaia lebe—was er als Einladung versteht, um sich an ihr zu vergehen. Miller schildert mit mitreißender und berauschender Feinfühligkeit die graphische Szene von Circes Vergewaltigung, durch welche die Göttin sich erst in Hilflosigkeit, und schließlich von ihrer steigenden Panik in die Wogen tosender Wut getriebenen sieht. Ihr Wille bleibt unberührt von den geifernden Händen der Seemänner, und sie spricht eine Formel, welche ihnen den Rücken bricht und sie in Schweine verwandelt—ein Schicksal, welches anschließend jede Schiffsbesatzung ereilen sollte, die ihren Weg zu Circes Palast fände.
Dieses Schlüsselereignis entfacht ein neues Feuer in Circe, welches sie an die Spitze ihres Könnens treibt und sie zu einer mächtigen Hexe macht, welche folglich ihr Leben und ihre Heimat mit allem verteidigt, was sie hat. Nicht verwunderlich also, dass sie auch Odysseus‘ Seemänner kurzerhand in Schweine verwandelt, als deren Schiff ihre Insel findet. Und doch fasst sie letztlich Vertrauen zu Odysseus, dem „Besten der Griechen“ (Miller), auf seiner Rückreise aus Troja; einem Mann, der anders ist als die anderen—weiser, reifer, sanfter. Der besungene Held wird alsbald in Circes Bett zu einem verwundbaren Mann, verfolgt von Jahren auf dem Schlachtfeld.
Er zeigte mir seine Narben, und im Gegenzug ließ er mich vortäuschen, ich habe keine,
berichtet sie. Es entwickelt sich eine eigentümlich sanfte und tiefgreifende Freundschaft zwischen Circe und Odysseus, welche erst durch seine Heimkehr nach Ithaka, zu Frau und Kindern, ein Ende findet.
Er war ein weiteres Messer, ich konnte es fühlen. Ich kümmerte mich nicht. Ich dachte: gib mir die Klinge. Manche Dinge sind es wert, dass man für sie Blut vergießt.
Millers Circe endet auf einer epischen Note, denn nachdem Circe Odysseus’ Sohn gebärt, muss sie sich nicht nur den unweigerlichen Herausforderungen einer Mutter stellen—wobei ihr ihre Göttlichkeit mehr in Weg steht, als zuvor angenommen—sondern muss sich vor allem mit allgegenwärtiger Sterblichkeit auseinandersetzen. Sterblichkeit, nicht nur ihres Sohnes Telegonus, sondern genauso die ihres Liebhabers Odysseus und der vielen anderen Menschen, deren Leben sie berührt hat. In einem Rausch von Prophezeiungen und fatalen Verstrickungen mit Athena, der Göttin des Krieges, zieht Telegonus unter dem Schutz seiner Mutter schließlich los, um seinen Vater zu suchen—nur um dessen Leben durch sein eigenes Erscheinen zu beenden. Als Odysseus’ Ehefrau Penelope und sein Sohn Telemachus schließlich gemeinsam mit Telegonus nach Aiaia zurückkehren, sieht sich Circe mit der dringendsten Frage ihres Lebens konfrontiert. Der Wahl zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit…
Ich dachte einst, Götter seien das Gegenteil vom Tod, aber ich sehe jetzt, dass sie toter als irgendetwas anderes sind, da sie sich nie verändern und nichts in ihren Händen halten können.
Millers Erzählung erlaubt es Circe, aus dem Schatten ihrer legendären Zeitgenossen zu treten: Als Protagonistin, nun selbst die strahlende Sonne im Mittelpunkt der Welt, weist sie eine solche Komplexität auf, dass es einem förmlich den Atem verschlägt. Circe besitzt einen unbeugsamen Willen, reinen Herzens liebt sie wieder und wieder, um anschließend mit den Konsequenzen der tiefschürfenden Emotionen zu kämpfen. Circes Geschichte ist vom ersten Moment an fesselnd und ihr Charakter einnehmend; sei es, wenn sie von ihrer Familie wegen ihrer vermeintlichen Plumpheit verhöhnt wird, oder wenn sie einen Sterblichen in einen Meeresgott und eine Nymphe in ein reißerisches Ungeheuer verwandelt; Circe besticht mit ihrer Magie, ihrer Weisheit, ihrer Intensität und ihrer Rigorosität.
Hexen sind nicht so zartsinnig.
Ob sie während der abscheulichen Geburt des Minotaurus einige Finger im blutigen Unterbauch ihrer Schwester Pasiphaë verliert oder sich lange Zeit später selbst bei vollem Bewusstsein den Unterleib aufschlitzt, um ihren Sohn auf die Welt zu bringen, Circe lässt keinen Raum für Halbherzigkeiten; auch nicht, wenn sie dutzende übergriffige Männer in Schweine verwandelt. Und doch regiert sie Aiaia nie in Kälte oder Ablehnung. Bis zum Ende glaubt Circe an das Gute in den Menschen, wenngleich auch nicht in den Göttern. Am Ende der Reise fühlt man sich ihr tief verbunden und es scheint fast, als wäre ein klein wenig ihrer Magie auf einen selbst übergesprungen.
Frauen zu demütigen, scheint ein hauptsächlicher Zeitvertreib der Poeten zu sein. Als könnte es keine Geschichte geben, solange wir nicht kriechen und weinen,
bemerkt Circe kalt, und genau diese Andersartigkeit, dieses Feuer und diese Wut und dieser Schmerz, welche Millers Erzählung von den unzähligen anderen Versionen von Circe abheben, sind es, die Circe zu einem absoluten Must-Read machen.
Miller, Madeline. Circe. Bloomsbury Publishing, 2018.
LEKTORIERT VON LARA HELENA. FOTOS VON MERCY FERRARS.
Mercy Ferrars is a MA graduate in philosophy and writes fiction, poetry and non-fiction essays. She is madly in love with Scotland, dogs and Bojack Horseman.