NAHAUFNAHME
Kapseltage in Schottland
by MERCY FERRARS

11/08/2022
Als ich an der Kreuzung stehe, wo St. Vincent und Pitt Street ineinanderfließen, habe ich eine Erleuchtung. Das Gewicht der Jahre, in denen ich aus meinem Leben in Berlin herausgewachsen bin, der Angst, die Welt zu verpassen, und meines perfektionierten Eskapismus brechen über mich herein, genau hier, genau jetzt. Aber die Schwere des Falls wird von einer durch schottische Luft beflügelten plötzlichen Klarheit und neu gefundener Hoffnung aufgefangen. “In zehn Jahren werde ich hier leben,” sage ich laut in den Lärm vorbeifahrender Autos und der pulsierenden Stadt gleich am Fuß des Hügels. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich wieder eine Richtung, ein Gefühl, welches mehr ist als bloßes “irgendwie durchkommen.”
Noch ein paar Jahre zuvor hatte ich kein Glasgow, nach dem ich streben konnte. Ich war von einer anderen Fotografin in die Stadt eingeladen worden und hatte vor, ein paar Tage in kreativer Verbundenheit zu verbringen. Ich war schon einige Male in Großbritannien gewesen. Nie lange genug, um die Schwere meines Lebens in Berlin abzulegen; bloß flüchtige Tage, losgelöst vom Leben, in roten Doppeldeckerbussen und durchgemachten Nächten. All diese Tage verbrachte ich in London. Sie waren nie mehr als Anekdoten, wenn auch womöglich die besten meines Lebens.
Als ich zum ersten Mal nach Glasgow kam, war da ein Gefühl. Der Beginn von etwas. Die Magie einer zögerlich erblühenden Knospe. Es fühlte sich seltsam tiefgehend an, als ob ein schlafender Teil von mir sanft wachgeküsst wurde. Vielleicht war es das Adrenalin, das ich auf dem letzten Stück der Autobahn spürte, die sich spiralförmig in die Stadt windet und sich nahtlos in das fließende Leben der Merchant City einfügt. Jedes Mal, ausnahmslos.

In Glasgow treffe ich auf Vertrautheit und Fremdheit. Straßen, die ich schon einmal begangen hatte, wurden zu Abenteuern. Eine Stadt, die nicht nur Polizeizellen ausstellt, sondern einer TARDIS gleicht; die in ihrem Inneren so viel größer ist, als man auf einer Karte erfassen kann.
Ich wohne in einem charmanten Stadthaus, in das ich immer wieder zurückkehre. Im Sommer, im Herbst, im Frühling sinke ich in frische Laken und lasse mich von der Straßenlaterne in nächtliches Orange tauchen. Im Herbst habe ich von hier aus einen Roadtrip in die verregneten Highlands angetreten, und im Sommer lausche ich den Möwen. Einmal stand ich in strömendem Regen auf der Nekropolis und blickte unter einem schwarzen Regenschirm auf die erleuchtete Stadt hinunter. Immer kehre ich in dieses Stadthaus zurück und sehe die orangefarbenen Straßenlaternen schimmern. Immer falle ich in einen tiefen Schlaf, und atme die Schwere aus.
Es liegt ein Zauber darin, von woanders zu sein. Nicht nur weg aus dem eigenen Land, sondern auch aus dem eigenen Leben und der eigenen Depression. Kassiererinnen fragen mich, woher ich komme, mein Akzent wechselt ins wirklich unbeholfene Amerikanische, ich bleibe Lidl treu und mache Boots zu einer Touristenattraktion. Ich finde eine britische Version von Hot Topic und begeistere die Barista bei Costa Coffee mit meiner DAMAGED SOCIETY Tüte. Ich höre nicht mehr auf zu lächeln, und Euphorie kribbelt in mir, bis nichts von meinem bitteren Berliner Groll bleibt.


Auf dieser Reise verbringe ich wirklich Zeit nur mit mir. Ich gehe, wohin mein Blick mich führt, betreibe ein bisschen Introspektive bei einem Kaffee und nehme den längeren Weg mit der U‑Bahn zur Glasgow School of Art, nur um festzustellen, dass sie in Baugerüst eingepackt ist. An ihrer Stelle entdecke ich eine neue kinematografische Stadtlandschaft, die bis zum Horizont reicht. Ich bleibe stehen und nehme jedes Detail wahr. Ich finde ins Jetzt und entdecke einen Teil von mir wieder, den ich schon lange verloren geglaubt hatte. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr einsam und allein. Die Welt drehte sich in meinem eigenen Tempo. Ich bin präsent. Vorbei sind die Ängste und das Grübeln. Ich bin jetzt.
Den frühen Nachmittag des folgenden Tages verbringe ich auf dem Gipfel der Nekropolis. Nach einem Spaziergang auf der Duke Street in der gleißenden Sonne, vorbei an den Tennent Caledonian Breweries, besteige ich den Hügel gegenüber der Kathedrale auf Serpentinenpfaden. Die Geräusche der Stadt, ihr Rauschen und ihre Möwen verfolgen mich. Ich war schon öfters hier gewesen. Doch jedes Mal, wenn sich mir die Krone der Nekropolis offenbart, ergreift mich Ehrfurcht. Während der Wind mein Haar zerzaust, erfassen meine Augen Fragmente der Stadt, die sich zwischen hoch aufragenden Gräbern bis zum Horizont erstreckt. Dort oben, umgeben von den Toten, steht meine Kirche.
Ich blicke hinunter auf die Brücke, die ich einst in einer nebligen, regnerischen Nacht im Herbst 2019 überquerte, als wir in schwarzen Mänteln und mit schwarzen Regenschirmen durch die Nekropolis liefen, nachdem wir gerade den Tag in den Highlands verbracht hatten. Diesmal ist der Himmel blau, die Sonne unbarmherzig, und die Sicht war noch nie so klar. Als ich auf die Kathedrale hinunterblicke, habe ich das Gefühl, direkt auf Gotham City zu schauen. Vor meiner Reise habe ich Gotham gebingt, und jetzt stehe ich hier und bin überzeugt, dass Glasgow die europäische Version davon ist. Eine atemberaubende Noir-Ästhetik mit postindustriellen und viktorianischen Elementen verschmilzt mit meiner Vorstellung von Schönheit.

Auf dem höchsten Punkt der Nekropolis beschließe ich, meine Eltern anzurufen. Mit Video. In meinem Elternhaus auf dem Lande ist alles noch so, wie es immer war und gleichzeitig völlig anders. Plötzlich, zwischen Zuflucht, Gegenwart und Vergangenheit, läuft die Zeit und sie bleibt stehen. Sie krümmt sich. Ich setze mich auf einen Grabstein, schließe die Augen und atme zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder auf.
An diesem Abend gehe ich ins Bing Soul, ein koreanisches Dessert-Café, das köstliche Bubblewaffles serviert. “Ich glaub ich hab Utopia gefunden,” schreibe ich in meine Instagram Story, während ich auf den Bus warte. Utopia, das ist eine Reihe von kleinen Mehrfamilienhäusern auf Gallowgate, die mir ins Auge stechen. In der weißglühenden Abendhitze erleuchten sie in hellen Erdtönen, mit uneuropäisch aussehender Bepflanzung. Jedenfalls für mein Auge, Botanik ist leider nicht mein Fachgebiet. Auf dem Weg zu Bing Soul nehme ich eine Busroute, die mich an unzähligen filmkulissenartigen Stadtansichten vorbeiführt. Wie ein Kind, für das die Welt noch voller Wunder ist, klebt meine Nasenspitze an den Fenstern des Doppeldeckers, während ich mit großen Augen und einem überquellenden Herzen Orte, Menschen und das Leben wahrnehme. Ich bin schon vier Mal in Glasgow gewesen, aber dieses Mal habe ich das Gefühl, die Stadt endlich als Ganzes zu erfassen. Hinter jeder Ecke gibt es etwas Neues zu entdecken, und obwohl die Stadt vergleichsweise klein ist, fühlt sie sich absolut endlos an. Eine TARDIS eben. Schließlich ist ja auch der 12. Doktor (Peter Capaldi) von hier.

Ich schaffe es bis zum Westend, wo ich die koreanische Bedienung mit englischen Pfund verwirre (damn you, Reisebank), die sie “noch nie in ihrem Leben gesehen hat.” Wir haben nervös gelacht. Ich finde den besten Platz, um im Laden Leute zu beobachten, und denke über die vergangenen Tage nach. Wie mit mir selbst vereinbart, mache ich dann einen Spaziergang am Kelvingrove Museum vorbei, die Argyle Street hinunter, über die M8 und zur St. Vincent Street. Mein Ziel war Mackintosh’s Hatrack, aber schon im Bus hatte ich zu viele interessante Stadtansichten gesehen. Ich muss alle paar Meter anhalten und alles in mich aufnehmen. Normalerweise langweile ich mich ziemlich schnell, wenn ich alleine spazieren gehe, aber dieses Mal bin ich gut unterhalten. Ich habe das Gefühl, dass ich ewig laufen könnte—ganz im Gegensatz zu meinem sonstigen Naturell. Was mir an Glasgow am besten gefällt, ist die Art und Weise, wie die Stadt auf Hügeln und in Tälern gebaut ist, was ein interessantes Spiel mit Licht, Gebäuden und Perspektiven erzeugt.
Schließlich finde ich das Hatrack und stelle fest, dass ich zuvor daran vorbeigefahren bin. Ich weiß noch genau, dass ich dachte: “Was für ein ästhetisch ansprechendes Gebäude.” Natürlich war es ein Werk von Mackintosh.

Bald finde ich mich vor Glasgow Central wieder. Auch hierher haben mich schon einige Wege geführt, wenngleich auch nie im Zug. Das bemerkenswerteste Mal war, als ich mit einer Freundin dorthin ging, um Senior-Samoyed-Dame und Social-Media-Star Little Lucy zu treffen und dabei von BBC Scotland interviewt zu werden. Aber weil ich so nervös war und gleich im Anschluss hektisch nach meiner Begleiterin suchen musste, die vor der Kamera weggelaufen war, hatte ich die Ästhetik des Gebäudes nicht wahrgenommen. Ich war zu sehr mit meiner Panik beschäftigt gewesen. Nichts Neues. Also lasse ich mir dieses Mal Zeit, und so kitschig es auch klingen mag, für mich war Glasgow Central ein weiteres Gotham City-Element im Noir-Stil. Schließlich gehe ich hinein und um das Gebäude herum, und mein Herz fühlt sich so schwer an, es zerreißt und bedrückt mich, weil ich daran denke, diesen Ort zu verlassen. Gleichzeitig ist der Moment geerdet, in Erinnerungen, in Träumen, in Achtsamkeit. Es ist eigentlich gar nicht so übel, alleine unterwegs zu sein.

Ich gehe um die Ecke und erreiche schließlich die berühmte Brücke, die, wie ich erfahre, aufgrund der Glasgower Arbeitergeschichte liebevoll “Highland Man’s Umbrella” getauft wurde. Von dort aus gehe ich durch die Mitchell Street, in der ich kurzzeitig damit rechne, ausgeraubt und mit einer Waffe bedroht zu werden, vorbei an der Not Everything Sucks Bar, nur um auf der anderen Seite wieder herauszukommen und zufällig zum Lighthouse zu finden (einem weiteren Mackintosh Bauwerk). Nach einem langen Tag zu Fuß pilgere ich um 23 Uhr durch eine leere und unheimliche Queen Street Station drei lange Minuten nach Hause.
Meine letzten Stunden in Glasgow verbringe ich damit, am Montagvormittag zurück in die Innenstadt zu fahren, um eine kleine, silly Geldwechselstube zu finden und meinen kleinen silly Taco bei Taco Bell zu bestellen, und dabei stolpere ich über eine eindrucksvolle Straße, die mir eine Kernerinnerung bereitet hat.
Als ich von Charing Cross kommend am westlichen Ende auf die Sauchiehall Street laufe, fühlt es sich an, als würde ich Schritt für Schritt europäischen Boden verlassen und durch ein Wormhole die USA betreten, nur mit intakten Menschenrechten. (Ha.) Und einfach so werde ich ganz leicht. “Es ist fast so, als würde ich gar nichts wiegen,” schreibe ich auf Instagram, mit dem Gesicht gen Himmel und den Händen ausgestreckt drehe ich mich im Kreis, zu Placebos “Special Needs.” Den entsprechenden Tweet verfasse ich zwanzig Minuten später bei meinem wohlverdienten Taco, um das rasende Herz wieder zu beruhigen. Als ich diesen Artikel schreibe, mache ich zeitgleich eine Zeitreise auf Google Maps und sehe, dass dieser Teil der Straße noch nicht allzu lange so aussieht. Chapeau also an die Stadtplaner*innen.


Ich war schon immer gerne weg. Anderswo als zu Hause. Ich weiß, dass es eigentlich bedeutet, von mir selbst weg zu sein, eine Pause vom Überdenken und Untererfüllen, vom Gefühl der Lähmung in der eigenen Haut, im eigenen Leben. Schottland verschafft meinem Kopf und meinem Herzen eine Verschnaufpause, einen Moment, in dem ich ohne Erwartungen einfach nur sein kann, in dem ich ohne Angst nachdenken kann, in dem ich wirklich innehalten und die Sonne wahrnehmen kann, die sich auf dem Glas spiegelt, das Licht, das durch die Bergstraßen flüchtet, und das Gefühl, dass mein Körper fest auf dem Boden steht. Es stimmt, dass Urlaub immer so sein sollte, aber an die meisten Orte nehme ich mich selbst mit, und meine Umgebung ist bestenfalls eine schöne Ablenkung. Aber in Schottland, zwischen seinen magischen Metropolen und seinen liebenswerten Menschen, seinen Kaminfeuer-Pubs und dem Regen, der auf die Windschutzscheibe prasselt, während wir bei Klaviermusik durch die Highlands brettern, finde ich zu dem zurück, was ich bin. Auch wenn es schwer greifbar ist. Und noch schwerer in Worte zu fassen. Aber es genügt, es zu fühlen.

Deshalb ist mir jede Ausrede recht, um ein bisschen länger zu bleiben, als ich es mir leisten kann. Nach der Pandemie leiden die Fluggesellschaften in ganz Europa unter Personalmangel, was zu gestrichenen Flügen und gestressten Passagieren führt. Wäre das auf meinem Hinflug passiert, hätte ich jemanden umgebracht. Aber als mein Rückflug gestrichen wird, kämpft sich ein Lächeln durch den Last-Minute-Stress. Ja, Easy-Jet, ich nehme die zusätzliche Zeit in Schottland, vielen Dank.
Ich buche eine Nacht in Edinburgh, welches ich mir schon lange ansehen wollte, obwohl ich mir schon vorher sicher war, dass ich mich nicht ganz so stark verlieben würde wie in Glasgow. Im Zug dorthin habe ich eine Panikattacke, weil sich in meinem Rucksack ein Fach nach Narnia aufgetan hat, durch welches mein Ticket verschwunden ist. Kurz gehen mir Horrorszenarien durch den Kopf, in denen ich von der schottischen Polizei gefoltert werde, aber dann begegnet mir ein einfühlsamer Kontrolleur und erinnert mich in schottischer Freundlichkeit daran, dass ich mich entspannen darf.
Einen Nervenzusammenbruch, drei Träume und ein zerknülltes Ticket später komme ich in Edinburgh an, und werde mit dem Gegenprogramm zu Glasgow konfrontiert. Auf dem Weg zur Toilette stehe ich plötzlich in einer kirchenartigen Wartehalle, jemand spielt Klassik auf einem Klavier, und alles sieht ein bisschen nach Hogwarts aus. Nach einer kurzen Uber-Fahrt stehe ich vor meinem AirB’n’B, einem Haus aus dem 19. Jahrhundert, seit sicherlich siebzig Jahren unsaniert. Die Wohnung fügt sich nahtlos in das Wegseingefühl ein, in meine “Kapseltage.”

Im Schnelldurchlauf wandere ich zu früher Abendstunde durch die gesamte Alt- und Neustadt; in nur vier Stunden, inklusive eines unbefriedigendem Carbonarakonsums, weil die Küchen der Pubs bereits geschlossen sind. Während ich die High Street hinab flaniere, sehe ich am Horizont die funkelnde Nordsee, von allen Meeren. Ein seltsamer Zufall, was ich erst jetzt begreife, als ich den Weg auf Maps nachverfolge; was mich aber durchaus schmunzeln lässt—denn am Horizont fließen Heimat und Sehnsucht ineinander. Edinburgh, meint eine Bekannte später im Chat, ist wie eine leere Filmkulisse. Und sie hat Recht. Auch wenn spätabends an einem Montag vielleicht nicht die Prime Time für Remmidemmi ist. Und doch ist es mitunter eine der schönsten Filmkulissen Europas, vielleicht der Welt. Auf Edinburghs Straßen habe ich eine Tiefe gefühlt, die ankert und erdet. Es gibt einiges, was ich noch gerne gesehen hätte, beispielsweise Arthur’s Seat. Seit One Day mit Anne Hathaway und Jim Sturgess steht es auf meiner Bucket List, auf Arthur’s Seat über Edinburgh zu blicken. Aber hey. One day.


Ich will nicht fort aus diesem Land und seinen Städten. Nachdenklich und melancholisch sitze ich in Waverley und warte auf den Bus nach Hause. Ein Mann mit pinken Haaren kommt auf mich zu, und mein Berliner Reflex ist es, die grimmigste Miene aufzulegen, zu der ich fähig bin. Aber in respektvollem Abstand fragt er mich lediglich: “Haben Sie sich gut amüsiert, Madame?” Und ein letztes Mal flammt mein Herz auf. Ich nicke, und werfe meine letzten zwei Pfund in die Kasse des Busfahrers. Mit Schlafmangel und einem Gefühl, als hätte ich mehrere Nächte durchgemacht, trinke ich frühmorgens meinen letzten Costa im Flughafen und tweete ein bisschen fiebrig: “Ich glaub, das Flughafenpersonal hat gerade einen Flug nach Wakanda ausgerufen.” Die Kapsel um mich und mein Herz bleibt und hält sich noch ein paar Tage. Bis sie zerbricht.
LEKTORIERT VON LARA HELENA.
Mercy Ferrars is a MA graduate in philosophy and writes fiction, poetry and non-fiction essays. She is madly in love with Scotland, dogs and Bojack Horseman.