BERLIN, THEATER, DIGITAL EXHIBITION
Von gewährter Illusion, gewahrter Realität und dem Gewahrwerden
by Imke Felicitas Gerhardt

© Luna Zscharnt
28/08/2022
Die Wirklichkeit in ihrer vermeintlichen Natürlichkeit ist im Wesentlichen: Geschichtlichkeit. So oder ähnlich formuliert es Roland Barthes am Anfang seines Buchs die Mythen des Alltags, in welchem er auf anekdotische Weise den Signifikanten über dessen Historisierung von seiner Mythologisierung zu befreien versucht. Denn über Mythen, so klagt Barthes, wird eine Natürlichkeit inszeniert, die die Geschichtlichkeit der Wirklichkeit vergessen lässt.
Volksbühne, 2022, Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer. Wir befinden uns im Jahre 1938 in einem Filmstudio in Hollywood. Gedreht werden, so erfährt es der/die Zuschauer*in am Anfang des Stücks vom Schauspieler Martin Wuttke, der sich selbst ‘spielt’ und doch zugleich die Figur, oder die Idee von Martin Wuttke ‘bespielt,’ soll dort der Film „Generäle über Bilbao.” Der Film beruht auf dem 1937 von Berthold Brecht verfassten Stück Die Gewehre der Frau Carrar. Brecht, und das entspricht der historischen Wahrheit, hat das Ende seines Stücks, das vom sich zeitgleich abspielenden Spanischen Bürgerkrieg handelt, ganz dem ungewissen Ausgang des Krieges entsprechend, ebenfalls offen gelassen. Etwa zur selben Zeit (1938), so erzählt Wuttke weiter, hätten die amerikanischen Zeitungen aufgehört über Wrestlingveranstaltungen zu berichten, als herauskam, dass die Kämpfe inszeniert seien und also ihr Ausgang bereits vor Kampfbeginn feststehe. Wuttke schlussfolgert: „Sport unterschied sich damit vielleicht zum ersten Mal vom Krieg.” Und damit sind wir direkt wieder bei Roland Barthes, denn dieser beginnt seine Essaysammlung mit dem Mythos des “Catchens”. Catchen ist wiederum ein Alternativ-Begriff für Wrestling und Wrestling ist so etwas wie eine alternative Realität. Wenn die Inszeniertheit des Wrestlings jedoch bereits 1938 enthüllt worden ist, welchen Mythos über das Wrestling enthüllt dann Roland Barthes fast 20 Jahre später?
Der Mythos ist bei ihm nicht mehr das als Wirklichkeit verpuppte Schauspiel, sondern die willentliche Rückübersetzung der Inszenierung in die Wirklichkeit. Es ist das emphatische Einlassen des Publikums auf diese Emphase des Ausdrucks. Der Körper in seiner ganzen Präsenz wird zum Zeichen und jedes seiner Gesten zur unumstößlichen Aussage. Es verwundert demnach wenig, wenn auch Marie Rosa Tietjen den Wrestler in Polleschs Stück mit seinem/ihrem Körper in eins setzt: „Diese Körper sind ja wahnsinnig bemerkenswert, so ein Wrestlerkörper ist ja wahnsinnig krass auf den Punkt, der ist durch diese Kämpfe ja richtig übermarkiert.”
Die gestischen Aussagen des Wrestlers sind, so sagt es Barthes, in ihrer Durchsichtigkeit unmittelbar intelligibel. Es ist die „Perfektion einer Ikonographie” (Barthes), deren Lesbarkeit sich ebenfalls perfektioniert hat. Im Grunde ist es ein Spiel um Erwartungen und Erfüllungen: das Publikum erwartet die Geste, die zum Bild erfriert, nein, es erwartet das Bild selbst, was die Geste bezeichnet: „Was das Publikum verlangt, ist das Bild der Leidenschaft, nicht die Leidenschaft selbst.”1

Mit Bildern und Erwartungen spielt auch Pollesch in seiner Inszenierung, ja vielmehr inszeniert er deren Wechselspiel, welches im Graubereich zwischen Realität und Fiktion die Wirklichkeit kontinuierlich neu verhandelt. Hier drehen sich, dank des genialen Bühnenbilds (quasi ein riesiges Rhönrad) von Nina von Mechow, die Gesetze von Zeit und Raum, hier verschmelzen Dokumentation und Fiktion, Rolle und Subjekt werden eins. Eine geschachtelte Erzählung aus neu geschichteten Geschichte(n) ist dieses Stück, welches komplexe theoretische Fragen humorvoll durchspielt, spielerisch schräge Perspektiven schafft, um dem Publikum die Orientierung zu nehmen. Auch in diesem Stück gibt es die für Pollesch bekannten Sprechautomaten: Wuttkes urkomische Faselei, die, zu Beginn den Rahmen setzend, uns in Raum und Zeit verortet, beziehungsweise verirrt, oder die genialen pseudo-geistigen Beiträge von Marie Rosa Tietjen, die sich häufig als sinnentleert erweisen. Und doch gehören die großen Bilder dieses Stücks dem Körper, ja ganz in schaukämpferischer Manier den Gesten desselben, die, als Zeichen fungierend, über jene der Sprache zu triumphieren scheinen. So erschafft Wuttke mit seiner erzählerischen Einleitung nicht nur den Boden, auf welchem sich das Geschehen zeitlich entfalten kann, nein, er rutscht mit seinen Steppschuhen auf diesem Boden im wahrsten Sinne aus. Dutzende Male geht er auf absolute gekonnte und herrlich amüsante Art zu Boden, versucht sich zu sammeln, die Worte wiederzufinden, um ihnen erneut zu entgleiten. Ebenso muss im besagten „Rhönrad,” dessen Innenraum eine Bar beherbergt, in welcher sich die komisch-philosophischen Gespräche zwischen den Schauspieler*innen vollziehen, mit der Aushebelung der Schwerkraft gekämpft werden: der auf den Kopf gestellte Körper siegt über den Logos, das blutentleerte Hirn kapituliert vor gestörter Zirkulation.
Die Bilder die dabei entstehen, und das macht das gesamte Stück eben sehr dicht und komplex, provozieren, über die gezogenen Referenzen, die ästhetischen Analogien, eine Verflechtung von Zeit(en) und Räumen, die die Stabilität des linearen Denkens ins Schwindeln bringt. Spinning Room. My head is spinning. Im Deutschen könnte man auch sagen: Ich spinne, alles dreht sich. Und die Schauspieler*innen sinnieren: „Unter Drehen habe ich mir etwas anderes vorgestellt.” Die Vorstellungen, was denn überhaupt hier, im besagten Hollywood Studio, gedreht wird, scheinen dabei ebenfalls zu schwinden. Erneut triumphiert der Körper über das Sprechen, denn nun heißt es plötzlich: ein Tanzfilm soll es werden, der den Körper, erleichtert von, und doch in Auseinandersetzung mit Brecht’scher Didaktik, selber sprechen lässt: „Worum geht’s denn jetzt in diesem Film hier? Wird hier nur getanzt oder kann ich auch ein paar Texte unterbringen?” (Wuttke) — „Was? Was? Brecht? Wieso denn Brecht? Sag mal, jetzt echt ey. Das soll doch ein Tanzfilm werden!” (Kathrin Angerer)
Und so stammelt Wuttke, während sein Körper spricht, indem er beispielsweise über die durch Slapstick-Einlagen erzeugte Komik Bilder vergangener (Film)Zeiten beschwört. Auch der Spinning Room selbst und die über Kopf-Momente, die sich in diesem abspielen, haben natürlich ihre filmische Referenz: Fred Astaire’s berühmter Auftritt in The Royal Wedding (1951), in dem er für die Zuschauer auf unerklärliche Weise kopfüber an der Decke tanzte. Polleschs ohnehin verdichtetes Diskurstheater wird also angereichert durch eine körperlich-bildliche Sprachgewalt, die ihre Formvollendung sicherlich im eingesetzten Tanzensemble findet, welches dem gesamten Stück einen Revue-ähnlichen Charakter verleiht. Den Schauspieler*innen in ihrer Handlungsmacht ebenbürtig, lenken die Tänzer*innen den Blick des Publikums, schaffen Räumlichkeit und Dynamik, beenden Szenen und lassen neue beginnen. Und gleichzeitig sind sie keineswegs auf ihren Körper reduziert, haben sie doch ebenso ihren eigenen Sprech‑, oder besser Schrei-Anteil am Ende des Stücks.

Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer ist übersättigt von ikonischen Zeichen, die sich ihrer Verankerung im kollektiven Gedächtnis entsagen, sich dadurch neu konfigurieren, um die Geschichte, also Identität auf ganz spielerische Weise mit ihrer eigenen Kontingenz zu konfrontieren. Dazu passt der wahnsinnig komische und eben darin besonders tiefgehende Dialog zwischen Kathrin Angerer, Martin Wuttke und Rosa Lembeck, in dem letzere Wuttke erzählt, dass sie schon so einiges über ihn gehört habe. Auf Nachfrage erzeugt sie sein auf negative Attribute reduziertes (Fremd)bild. Weniger die gewählten Wörter selbst entfachen jedoch bei Wuttke Entsetzen, als vielmehr ihre geringe Anzahl, ihre Addition, deren kleine Summe also angeblich seine Identität bedeuten soll: „[…] dass sich plötzlich eine Lebensgeschichte zusammenraffen lässt, in ein paar Sätzen, und dahinter steht aber ein gelebtes Leben. Ja, und man weiß, dass es eine Differenz gibt.” Was da so humorvoll verhandelt wird, ist natürlich äußerst anspruchsvoll, geht es doch um die Konstruktion und Wiedergabe von Wirklichkeit und der Unmöglichkeit dieser sprachlich gerecht zu werden, während sie sich in ständigem Fluss befindet.
Wie sich kein Ding(-an-sich) über seine Information in Gänze erfassen lässt (Kant), so natürlich am wenigsten der eitle Mensch, auch wenn dieser seine Identität über die ökonomisierbaren Attribute, die er in der Instagram-Bio listet, schon längst freiwillig auf kompakte, verwertbare Größe reduziert hat. Es geht letzlich um die unaufkündbare Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit, gleichzeitig um die Konstruktion dieser Wirklichkeit durch Sprache und Bilder, der Versprachlichung des Selbstbilds, welches mit dem Fremdbild in einem unglücklichen und für beide Seiten toxischen Liebesverhältnis steht. Dabei spielt natürlich das Gestern eine fundamentale Rolle, also die gesammelten Erinnerungen – wir kommen zurück auf Wuttke: „Ich kann nicht mit zwei, drei Sätzen über mein Leben auskommen.” Und weil Erinnerung sich so unmittelbar mit dem kollektiven Gedächtnis, also der offiziellen linearen Geschichtsschreibung verzahnt, von der sie sich doch so unabhängig wähnt, ist Polleschs Präsentation der Kontingenz auch eine Absage an festgeschriebene Identitäten. Dass letztere vielmehr verschachtelte Konstruktionen zusammengeklaubter Zitate sind, ja, immer eine Inszenierung vor sich selbst und dem Anderen bedeuten, das wird natürlich am offensichtlichsten in der Traumwelt Hollywoods, wo Realität und Inszenierung vielleicht am ehrlichsten ineinander fließen. Die in Polleschs Stück verwendeten Referenzen zu Kenneth Angers Buch Hollywood Babylon (1965) sind in diesem Kontext also äußerst treffend gewählt. Dieses auf Wikipedia als „Sachbuch” charakterisierte Werk behandelt angebliche Skandale großer Stars, was wiederum selbst einen Skandal erzeugte, der zum Verbot des Buches in den USA kurz nach dessen Erscheinen beitrug. Skandal über Skandale, oder: die Geschichte besteht aus geschichteten Geschichten wirklicher Legenden. Schauspieler*innen sind Legenden, Wrestler sind Legenden, die westliche Zivilisation beruht auf, ist gar in sich selbst eine einzige Legende. Kathrin Angerer spielt sich selbst, alle spielen sich selbst: die wirkliche Rolle ist das gespielte Subjekt. Und irgendwo zwischen Erzählung und Wirklichkeit changiert die Wahrheit.
Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer gibt den Glauben an die eindeutige historische Wahrheit der Lächerlichkeit preis indem es sich jeglichen Zitierregeln widersetzt. Pollesch wiederholt und modifiziert nicht nur den Brecht’schen Titel Die Gewehre der Frau Carrar, sondern erzeugt dadurch eine unmittelbare Verbindung, ja ein Ineinanderfließen von historischer Erzählung und gegenwärtiger Realität und ebenso von Fiktion und Wirklichkeit. Das Jetzt modifiziert die Geschichte und das Jetzt wird durch die Geschichte interpretiert. Brechts episches Theater wollte sich der Illusion entsagen und vielmehr auf realistische Weise reale Grausamkeiten thematisieren. Konsequenterweise gab er deshalb dem Stück Die Gewehre der Frau Carrar parallel zum offenen Kriegsausgang ein offenes Ende. Das heißt, er öffnete das Stück, gab ihm die Möglichkeit, auf die einbrechende Wirklichkeit zu reagieren. Wie beeinflusst diese die Fiktion, und wie wiederum prägt die Vorstellungskraft die Wirklichkeit? „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin” — auch ein Zitat, das man lange fälschlicherweise Brecht zuschrieb. Die erste Fassung von Brechts Stück hieß übrigens Generäle über Bilbao. Pollesch betitelt so den Film, der in seinem Stück in der Scheinwelt Hollywoods gedreht werden soll. In dieser illusionären Welt, die unsere Wirklichkeit bespielt. Gespielt wurde Die Gewehre der Frau Carrar zu Brechts Lebzeiten häufiger als jedes andere seiner Stücke und machte ihn damit gerade selbst zur Legende. René Pollesch, als neuer Intendant der Volksbühne schreibt derweil auf sehr intelligente und selbst-ironische Weise an seiner eigenen.
1 Barthes, Roland. Mythen des Alltags. Übersetzt von Horst Brühmann. Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 15–17, 19, 21.
Das Bildmaterial wurde freundlicherweise von der Volksbühne Berlin bereitgestellt.