POLITIK, GESELLSCHAFT
Ist “Revolutionäre Realpolitik” die Lösung?
by HÉLOISE MARKERT

29/09/2022
Nur wenige Monate nach meinem Umzug nach Berlin bin auch ich in den klassischen linken Slang verfallen: “Antikapitalismus ist die einzige Lösung.” “Revolution jetzt! Es ist der einzige Weg.” Zu 50% war und ist dies meine eigene Überzeugung. Rückblickend bemerke ich aber, dass die anderen 50% von dem Druck herrührten, nicht “links genug” zu sein. Denn alles, was im Ansatz reformistisch war, wurde sehr schnell abgelehnt. “Nicht radikal genug.” “Stärkt letztlich nur das bestehende System.” Genauso sind mir natürlich auch schon genügend Menschen begegnet, die glauben, mit Reformen alle globalen Ungerechtigkeiten lösen zu können oder zumindest zum bestmöglichen Zustand zu gelangen. Dass wir eine Revolution brauchen, scheint vielen von uns allerdings offensichtlich. Der Kapitalismus ist dafür verantwortlich, dass immer mehr Menschen, besonders im Globalen Süden, in die Armut getrieben werden. Gewalt wird immer mehr zunehmen bei Kämpfen um Versorgung und Lebensraum. Denn eben dieser Lebensraum wird einerseits durch die Wirtschaft immer weiter zerstört, um “nutzbar” gemacht zu werden—und andererseits durch den Klimawandel, der die Meere steigen lässt und die Böden austrocknet. Wie Eva von Redecker es so treffend ausdrückt: “Modernes Eigentum berechtigt den Besitzer nicht nur zu Kontrolle und Gebrauch, sondern auch zu Missbrauch und Zerstörung desselben.”1 Ich werde meine Kraft in diesem Artikel nicht darauf aufwenden, Reformist*innen zu überzeugen, warum eine Revolution notwendig ist, das ist nämlich die Grundannahme. Stattdessen möchte ich der Idee der sofortigen und radikalen Revolution etwas auf den Zahn fühlen.
Etwa ein Jahr nach meinem Umzug nach Berlin hat sich bei mir eine Schwerbehinderung “so ergeben.” Dies hat dazu geführt, dass ich viele Dinge noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachtete. Wird im Falle einer Revolution der Zugang zu Krankenhäusern konstant gewährleistet sein und gibt es dann dort verfügbare Ärzt*innen? Ab wann kann wieder an den Medikamenten geforscht werden, die ich möglicherweise zum Überleben brauche? Don’t get me wrong—mir ist bewusst, dass unglaublich viele Menschen auf der Welt keinen oder keinen guten Zugang zu gesundheitlicher Versorgung haben. Und dass im Kapitalismus unser Wert an unsere Produktivität geknüpft ist, die bei Menschen mit Behinderungen häufig nur begrenzt ist. Deswegen braucht es die Revolution. Und trotzdem ist es dieses System gerade eben, das mich am Leben hält und einen Umbruch schwierig machen könnte. Auch viele andere marginalisierte Menschen befinden sich in ähnlichen Dilemmata. Einerseits der Wunsch nach einem Leben, in dem sie in Würde existieren können, ohne Armut, Rassismus oder eine zerstörte Natur zu erfahren (-> Revolution) und gleichzeitig das nicht warten können auf ein unbestimmtes irgendwann und irgendwie, da sie abhängig sind vom aktuellen System (-> Reform).
So war es Rosa Luxemburgs Gedanke zu einer revolutionären Realpolitik, aufgegriffen von Verónica Gago in ihrem Werk Für eine feministische Internationale, der mich faszinierte. Ich wollte wissen, was dieser beinhaltet und ob er auch heute noch Relevanz hat. Luxemburg verwendete den Begriff der “revolutionären Realpolitik” 1903 in einem Text in der sozialistischen Zeitung Vorwärts. Danach nutzte sie ihn allerdings nicht mehr und auch in linken Debatten fand er wenig Beachtung. Luxemburg wird in linken Kreisen häufig als die große Revolutionärin gefeiert, die zwar für eine prozesshafte Revolution stand, aber trotzdem klar den Umbruch im Fokus hatte. Ich will gar nicht ausschließen, dass die “revolutionäre Realpolitik” nicht den Kern Luxemburgs Denkens ausmacht. Doch immerhin war sie relevant genug, dass Menschen sie über 100 Jahre später für ihre politischen Überlegungen verwenden.
“Revolutionär” bezieht sich dabei nicht auf einen mit Gewalt durchtränkten Moment der Machtergreifung, sondern meint vielmehr den umwälzenden, transformatorischen und an die Wurzel gehenden Charakter einer Politik. Das beinhaltet einen grundsätzlichen Bruch mit den jeweiligen Eigentums- und Machtverhältnissen. Üblicherweise sind die Begriffe “Reform” und “Revolution” ganz klar als Gegensätze konzipiert. Doch die Idee der revolutionären Realpolitik versucht, eine neue Lösung dieser Debatte zu finden und die Begriffe zusammenzuführen. Die Professorin für politische Theorie Lea Ypi verdeutlicht dabei allerdings, dass Luxemburg die Revolution nicht als eine “verdichtete Reihe von Reformen” versteht und Reformen wiederum keine “langwierige Revolution” darstellen. So sind es nicht zwei verschiedene Taktiken, die letztlich zum gleichen Ziel führen sollen, sondern sie stellen zwei verschiedene Ziele dar. Ihre Verbindung sah Luxemburg, laut Ypi, darin, dass Reformen notwendige Lernplattformen seien, “die der Masse der Unterdrückten die Fähigkeiten zur autonomen Entscheidungsfindung vermitteln und von der aus sie sich auf das Erringen politischer Macht vorbereiten würden.” Damit sind Reformen vielmehr als eine Art Testlauf der Befreiung zu verstehen. So war es für Luxemburg keine Option, einfach auf einen Bruch in der Zukunft zu warten. Stattdessen erachtete sie es als notwendig, in Kenntnis der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu agieren, dabei aber konstant die Perspektive einer Verschiebung dieser im Kopf zu behalten.
Für eine erfolgreiche revolutionäre Realpolitik war für Luxemburg die Teilhabe der Massen entscheidend. Dies beinhaltete eine Gestaltung von Politik, die aus dem Handeln der Menschen selbst hervorgeht. Es sollte Raum dafür geben, mit Formen und Inhalten zu experimentieren, zu lernen und eigene Schlüsse zu ziehen, sowie neue Organisationsformen zu entwickeln. Im Einklang mit dem feministischen Aktivismus steht die enge Verbindung Luxemburgs zwischen der Theorie und den Erfahrungen der Menschen im Alltag. Auch ihre Politik setzte im Bestehenden an, um die Menschen direkt mitzunehmen, denn die Perspektive einer großen Veränderung stand immer im Hintergrund des Handelns.
Der argentinische Politologe Hernán Ouviña sieht Luxemburg als eine “Vorläuferin der antikolonialen, ökologischen, feministischen und demokratischen Linken von heute.” So ist es nicht überraschend, dass auch Verónica Gago eine enge Verbindung zu Luxemburg hat. Gago ist Professorin für Sozialwissenschaften an den Universitäten in Buenos Aires und San Martín. Bekannt wurde sie allerdings durch ihr Engagement in der feministischen Bewegung Ni Una Menos. Die Philosophin Eva von Redecker beschreibt Gago wie folgt: “Sie spielt […] für die feministische Bewegung jene Rolle, die der italienische Antifaschist und Kommunist Antonio Gramsci als “organische Intellektuelle” bestimmt hat—eine Denkerin aus der Bewegung und für die Bewegung.”2 Ni Una Menos gründete sich 2015 in Argentinien und hat sich schnell in ganz Lateinamerika verteilt. Anlass war der Femizid an der 14-jährigen Chiara Páez, die begraben unter dem Haus ihres Freundes gefunden wurde. Seitdem erhebt Ni Una Menos die Stimme gegen Femizide und generell gegen geschlechtsbasierte Gewalt. Am 19.10.2016 wurde vom Kollektiv der erste Massenstreik der Frauen in Argentinien organisiert.
Für Verónica Gago sind Revolution und Reform nicht disjunkt. Stattdessen eröffnen sie eine simultane Zeitlichkeit, die es ermöglicht, an jeder einzelnen Grenze zu kämpfen, an der Auseinandersetzungen mit dem Kapital heute stattfinden. Gleichzeitig eröffnet sich ein Feld des Forschens und Experimentierens. Diese simultane Zeitlichkeit zeigt sich in Gagos Vorstellung, dass ein Übergang in eine Zeit nach der Revolution nur prozesshaft verlaufen kann. Damit tritt das Endziel in eine andere Beziehung zur Tagespolitik. Anstatt im Widerspruch zu stehen, sind nun beide Elemente komplementär zueinander. Somit kann eine “strategische Zeitlichkeit” entstehen. Diese ermöglicht es, inmitten aller bestehender Widersprüche zu arbeiten, ohne in einem Warten auf die Revolution zu verharren. Mehr noch, jeder einzelnen Aktion, sei sie noch so klein, kann die Kraft zum Bruch mit den bestehenden Verhältnissen innewohnen. Dieser komplementäre Charakter von Reform und Revolution macht es möglich, verschiedene Forderungen zu integrieren und gleichzeitig zu übertreten. Ein Integrieren kann stattfinden durch verschiedene Forderungen nach Budgets oder neuen Gesetzen, genauso wie das Einfordern der Veränderungen in Institutionen. Das Überlaufen wiederum tun die Körper auf der Straße. Die Körper, die demonstrieren und streiken und Zeit geben für verschiedene Vorstellungen davon, wie wir leben wollen. Immer wieder sind es die Körper selbst, die den Wunsch bestätigen, alles verändern zu wollen.
So ist es möglich, die Teleologie eines revolutionären “Endziels” zu verschieben. Dies geschieht nicht, weil es nicht da oder weniger wichtig wäre, “sondern weil es in eine andere zeitliche Beziehung tritt mit der alltäglichen Politik und weil jede einzelne Aktion daraufhin befragt werden kann und muss, inwiefern sie von revolutionärer Dynamik erfüllt ist.” Somit wird die Revolution ein Akt der Insubordination im Jetzt. Gago zufolge ist dies revolutionäre Realpolitik; es sind die Kämpfe im Alltag um konkrete Verbesserung, aber mit der zugrundeliegenden Idee einer radikalen Veränderung. Auch Gago glaubt an die somit mögliche Rekonfiguration des politischen Gegensatzes von Reform und Revolution. Diese sind laut ihr weder entgegengesetzt noch ein Disjunkt. So stellte auch Ni Una Menos Forderungen zu neuen Gesetzgebungen oder dem Entgegenwirken von Femiziden, ohne dabei den Wunsch nach Revolution zu vergessen. Wie bei Luxemburg geht es um das Kombinieren von parlamentarischen und außerparlamentarischen Kämpfen. Die Auflösung des Gegensatzes von Reform und Revolution ist bei Luxemburg darin verankert, dass Politik immer eine Politik von unten sein muss. In, unter anderem, der Tradition Luxemburgs sieht auch Gago Versammlungen als eine Form politischen Handelns, welches für revolutionäre Realpolitik entscheidend ist. Durch Versammlungen können verschiedene Gruppen zu einer Bewegung zusammenwachsen. Bei Ni Una Menos entfaltete sich daraus eine enorme Menschenmasse, die bereit war, zu streiken und alles zu hinterfragen. Eine feministische Politik ist das Bewusstsein, dass die Politik lebendigen Pragmatismus nicht ignorieren kann, sowie die Existenz des Wunsches nach Revolution. Somit überschreitet der Feminismus der Massen die Tagesordnungen und Gesetze, schließt diese allerdings nicht aus.
Ich kann mir vorstellen, dass die revolutionäre Realpolitik auch für Menschen mit Behinderung ein sinnvolles Konzept sein könnte. Vielen von uns wird die Stimme genommen und es gibt keinen Raum, mitzuentscheiden. Die Teilhabe aller wäre enorm wichtig. Möglicherweise müsste eine andere Form des Streiks gefunden werden, da es schwierig werden könnte, uns alle auf der Straße zu versammeln, doch deswegen ist der Streik auch als Forschungsexperiment gedacht. Wie schon zu Beginn gesagt, brauchen wir die Reformen, aber genauso brauchen wir die Revolution. Mit diesem Konzept gibt es die Hoffnung, neue Strukturen zu schaffen, während die alten noch funktionieren. Das ist für uns elementar um zu verhindern, dass wir während der Revolution vom Zugang zu Krankenhäusern sowie Ärzt*innen abgeschnitten werden. Vielleicht gibt es jetzt am Ende immer noch Menschen, die sagen: “Ja, aber mit einer prozesshaften Revolution kann all das doch erreicht werden! Warum jetzt ‘revolutionäre Realpolitik’?” Dazu kann ich nur sagen, dass es mir um ehrlich zu sein scheißegal ist, wie das Konzept des Wandels, der Revolution, genannt wird. Solange alle Menschen mitgedacht werden und marginalisierten Personen nicht untersagt wird, im Hier und Jetzt, auch mit Reformen für ihre—unsere—Rechte einzustehen, kann es gerne jede*r nennen, wie es grad passt. Prozesshafte Revolution, revolutionäre Realpolitik oder Transformation—wichtig ist der Gedanke dahinter.
LEKTORIERT VON CLEMENS HÜBNER W. LARA HELENA.
Fußnoten
1 Redecker, Revolution für das Leben. S. 22
2 Redecker, Revolution für das Leben, 199.
Bibliographie
Candeias, Mario, und Michael Brie. „ABC der Transformation: Revolutionäre Realpolitik“. Zeitschrift LuXemburg, Nr. Heft 03/2018 (März 2018). ABC der Transformation: Revolutionäre Realpolitik « Zeitschrift LuXemburg (zeitschrift-luxemburg.de).
Dilger, Gerhard. „“Rosa ist unsere Komplizin”“. Rosa Luxemburg Stiftung (blog), 13. April 2021. https://rosalux-ba.org/de/2021/04/13/rosa-ist-unsere-komplizin/.
Gago, Verónica. „Critical Times/La Tierra Tiembla“. Critical Times 1, Nr. 1 (2018).
———. Für eine feministische Internationale. 1. Auflage. Münster: UNRAST Verlag, 2021.
Gago, Verónica, und Marta Malo. La Internacional Feminista/ Luchas en los territorios y contra el neoliberalismo, 2022. https://traficantes.net/libros/la-internacional-feminista.
Haug, Frigga. „Ein Denkmal für Rosa Luxemburg“. UTOPIE kreativ 113 (2000): 213–22.
Luxemburg, Rosa. Sozialreform oder Revolution. Der Funke, 1899.
http://www.derfunke.at/html/pdf/marxistischebasics/luxembrug_sozialreform_revolutioin.pdf.
Ni Una Menos. „Carta orgánica“. Ni Una Menos (blog), 2017. http://niunamenos.org.ar/quienes-somos/carta-organica/.
Redecker, Eva. Revolution für das Leben: Philosophie der neuen Protestformen / Eva von Redecker. Originalausgabe. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2020.
Ypi, Lea. Reform und Revolution. Jacobin, 05.03.2021. https://jacobin.de/artikel/rosa-luxemburg-lenin-kautsky-bernstein-reformismus-sozialdemokratie-sozialismus-revolution/
Zeitschrift Luxemburg. „Revolution heißt, für die Zukunft sorgen“, 19. Dezember 2019. https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/revolution-heisst-fuer-die-zukunft-sorgen.