TOPICAL DIS/ORDER, FLINTA*, GESELLSCHAFT

Reformulate social order: Parität in Wohlfahrtsstaaten

by MERCY FERRARS

Foto: Cot­ton­bro

03/10/2022

Im Kap­i­tal­is­mus gibt es eine Krisen­ten­denz in Bezug auf Carear­beit, welche mit ein­er geschlechtlichen Ungle­ich­heit­skrise ein­herge­ht. Bei­de dro­hen das kap­i­tal­is­tis­che Sys­tem zu desta­bil­isieren. Ann Orloff hat gezeigt, dass einige Län­der in der Lage sind, Bürger*innen bess­er zu ver­sor­gen als andere. Dazu hat sie schwache und starke Staat­en vorgestellt, um öko-poli­tis­che Entwick­lun­gen im Bere­ich der Sozialfür­sorge aufzuzeigen, und sie hat drei mod­erne Regime­typen ver­glichen. Sie iden­ti­fizierte das sozialdemokratis­che Mod­ell als den erfol­gre­ich­sten Typus hin­sichtlich der wirtschaftlichen sowie poli­tis­chen Abflachung der Ungle­ich­heit zwis­chen den Geschlechtern. Diese Rekon­struk­tion ermöglicht es, die Aus­gangs­be­din­gun­gen zu analysieren, die die Ungle­ich­heit zwis­chen den Geschlechtern begün­stigt haben, woraus sich let­ztlich ein fem­i­nis­tisch-demokratis­ch­er Entwurf von Par­ität ableit­en lässt. 

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Über Gle­ich­stel­lung und Gleichheit

Auch im Fem­i­nis­mus strö­men Mei­n­un­gen und Ide­olo­gien auseinan­der. Mein Fem­i­nis­mus konzen­tri­ert sich zunächst auf das Prinzip der Gle­ich­stel­lung, oder Par­ität. Häu­fig wird jedoch von ein­er Gle­ich­heit der Geschlechter gesprochen. Eine Suche nach Syn­ony­men für “gle­ich” ergibt Wörter wie “ähn­lich,” “iden­tisch” und “ein­heitlich.” Aber in Hin­sicht auf Men­schen von ein­er Gle­ich­heit zu sprechen, also eine Uni­for­mität anzunehmen, ist Gle­ich­stel­lung nicht nur nicht zutun­lich, son­dern ver­liert sich im falschen Moment. Und das übri­gens nicht nur in geschlechtlich­er Hin­sicht, son­dern in jeglich­er Facette von Men­schlichkeit. Jed­er Men­sch hat unter­schiedliche Fähigkeit­en, unter­schiedliche kör­per­liche Möglichkeit­en und Kapaz­itäten, unter­schiedliche Bedürfnisse, Tal­ente und Stärken. Aber jed­er dieser Men­schen sollte den­noch als gle­ich wertvoll gel­ten, mit gle­ichem Respekt behan­delt wer­den und gle­iche Rechte besitzen. 

In ihrem 1994 erschiene­nen Artikel “After the Fam­i­ly Wage: Gen­der Equi­ty and the Wel­fare State” zeigt die Philosophin Nan­cy Fras­er, dass eine Konzen­tra­tion auf Gle­ich­heit am Kern des gegen­wär­ti­gen Kampfes vor­beige­ht. Die Forderung nach Gle­ich­heit bedeutet heute die Gle­ich­stel­lung (engl.: equi­ty) der Geschlechter und Men­schen, ohne anzunehmen, dass sie alle gle­ich seien. In der gegen­wär­ti­gen Welt, die in erster Lin­ie auf androzen­trischen Weltan­schau­un­gen beruht, impliziert der Diskurs der “Gle­ich­heit” der Geschlechter stets eine Angle­ichung an Männlichkeit. Für Frauen und mar­gin­al­isierte Geschlechter bedeutet dies, dass ihre eigene Iden­tität stets rela­tion­al ist und sich durch Nega­tion oder Assim­i­la­tion aus­drückt. Das Gle­ich­heit­sprinzip kann daher nicht das Mit­tel sein, um Gle­ich­stel­lung in den Geschlechter­beziehun­gen zu erre­ichen. Unter dem Begriff der Gle­ich­stel­lung erken­nt man an, dass sich Kör­p­er und Men­schen nicht nach einem Arche­typ aus­richt­en müssen—im europäis­chen Kon­text in der Regel nach weißer Männlichkeit, nach Het­ero­sex­u­al­ität, nach Bina­rität, nach able-bod­ied-ness, und so fort—sondern dass eine Unter­schiedlichkeit nicht nur erkan­nt son­dern auch geschätzt wird, sodass sie nicht in Benachteili­gung und Diskri­m­inierung mündet.

Welche Art von Gleichheit?

Welche Art von Gle­ich­heit meinen wir also im Fem­i­nis­mus und wie unter­schei­det sie sich von anderen Strö­mungen des egal­itären Denkens, wie dem Glück­se­gal­i­taris­mus? In ihrem 1999 erschiene­nen Essay “What is the Point of Equal­i­ty?” entwick­elt die Philosophin Eliz­a­beth S. Ander­son ihr egal­itäres Konzept der fem­i­nis­tisch-demokratis­chen Par­ität. Der Glück­se­gal­i­taris­mus beispiel­sweise, so Ander­son, konzen­tri­ert sich auf Gle­ich­heit in Form eines Aus­gle­ichs für das Pech, das manche Men­schen im Ver­gle­ich zu anderen benachteiligt. Ein solch­es Prinzip sähe eine Umverteilung von Ressourcen vor, die ein gle­ich gutes Leben ermöglichen und gegen eine Benachteili­gung durch Pech ver­sich­ern. Glücksegalitarist*innen ver­weisen daher so oft wie möglich auf Entschei­dun­gen und Ver­ant­wor­tung. Indem sie allen zu Beginn eine auf Bedürfnisse zugeschnit­tene Verteilung der Ressourcen zur Ver­fü­gung stellen, ist ihre Auf­gabe schein­bar erfüllt. Die Entschei­dun­gen, die mit diesen Ressourcen getrof­fen wer­den, nach­dem diese ver­meintlich gerechte Verteilung erfol­gt ist, dik­tieren fol­glich das Woh­lerge­hen und im Falle schlechter Entschei­dun­gen sehen Glücksegalitarist*innen keinen Grund, eine aus diesen Entschei­dun­gen resul­tierende Ungerechtigkeit auszu­gle­ichen. Man mag fra­gen: Am Anfang wovon? Am Anfang der Kind­heit oder der Volljährigkeit? Der Glück­se­gal­i­taris­mus scheint abstrahiert von Leben­sre­al­ität und arbeit­et unter ein­er men­schen­feindlichen Annahme, dass alle jed­erzeit für ihr eigenes Glück ver­ant­wortlich sein können.

Auch Ander­son for­muliert drei entschei­dende Ein­wände gegen das Konzept des Glück­se­gal­i­taris­mus, die zeigen sollen, dass das Konzept in der Tat Gle­ich­heit und gegen­seit­i­gen Respekt stark ver­nach­läs­sigt, und zwar nicht nur unter den Men­schen selb­st, son­dern auch zwis­chen dem Staat als Kom­pen­sator und den Empfänger*innen von Ressourcen. Der Glück­se­gal­i­taris­mus schlägt vor, dass “alle Ergeb­nisse, die auf frei­willige Entschei­dun­gen zurück­zuführen sind, deren Fol­gen von der Akteurin vernün­ftiger­weise vorherge­se­hen wer­den kon­nten, von der Akteurin getra­gen oder genossen wer­den soll­ten.”1 Am Beispiel eines Aut­o­fahrers, der ille­gal abbiegt und einen Unfall verur­sacht, verdeut­licht Ander­son die Men­schen­feindlichkeit des Glück­se­gal­i­taris­mus. Dem Fahrer wird nach dem glück­se­gal­itären Prinzip der Zugang zu medi­zinis­ch­er Hil­fe ver­weigert. Gle­ichzeit­ig wird im Falle seines Über­lebens seine eventuell daraus resul­tierende Behin­derung nicht weit­er berück­sichtigt. Das­selbe gilt für die Bewohner*innen eines für Naturkatas­tro­phen anfäl­li­gen Gebi­etes, oder für Beruf­s­grup­pen, die in risiko­r­e­ichen Umge­bun­gen arbeit­en, wie zum Beispiel der Feuer­wehr oder Polizei. Ander­sons zweit­er Ein­wand lautet, dass der Glück­se­gal­i­taris­mus in einem Sys­tem von Bevorzugten und Benachteiligten spielt, und selb­st wenn er ver­sucht, eine solche Über­legen­heit bzw. Unter­legen­heit auszu­gle­ichen, kol­li­diert er mit der Idee der Par­ität und des gegen­seit­i­gen Respek­ts gegenüber allen Bürger*innen. Schließlich bemerkt Ander­son, dass die Glücksegalitarist*innen davon aus­ge­hen, dass alle Indi­viduen zu vernün­fti­gen Entschei­dun­gen fähig sind, sei es auf kog­ni­tiv­er, wirtschaftlich­er oder kul­tureller Ebene. Doch for­male Frei­heit entspricht nicht immer tat­säch­lich­er Freiheit.

Demokratis­che Parität 

Ander­son vertei­digt daher ein alter­na­tives egal­itäres Mod­ell. Die demokratis­che Par­ität fördert eine “Gemein­schaft von Gle­ichgestell­ten” und “inte­gri­ert Verteilung­sprinzip­i­en mit den aus­drück­lichen Forderun­gen des gle­ichen Respek­ts.”2 Damit bringt demokratis­che Par­ität Ansprüche zum Aus­druck, die auf gegen­seit­iger Gle­ich­stel­lung und nicht auf ein­er Über­legen­heits-Unter­legen­heits-Dynamik basieren. Außer­dem “garantiert sie allen geset­zestreuen Bürger*innen jed­erzeit einen effek­tiv­en Zugang zu den sozialen Bedin­gun­gen ihrer Frei­heit.”2 Ander­sons demokratis­ches egal­itäres Mod­ell leit­et sich von den Zie­len ab, die in ihrer Def­i­n­i­tion das egal­itäre Denken ursprünglich inspiri­erten: die Abschaf­fung sozialer Ord­nun­gen, die auf ein­er Hier­ar­chie des Eigen­werts der Men­schen beruhen. Ungle­ich­heit, so Ander­son, wurde in erster Lin­ie durch ein Ungle­ich­heits-Nar­ra­tiv motiviert. Sie stellt klar, dass “ungle­iche soziale Beziehun­gen eine ungle­iche Verteilung von Freiheit(en), Ressourcen und Sozialfür­sorge nicht nur erzeu­gen, son­dern auch recht­fer­ti­gen. Sie sind der Kern der ine­gal­itären Ide­olo­gien von Ras­sis­mus, Sex­is­mus, Nation­al­is­mus, Kaste, Klasse und Eugenik.”3 Eine gerechte egal­itäre The­o­rie, die sich gegen diese sys­tem­a­tis­che Ungle­ich­heit wen­det, müsste sich also mit diesen Fra­gen befassen. In ihrem Kern muss sie die Überzeu­gung fördern, dass jed­er Men­sch, unab­hängig von Vorteilen oder Nachteilen durch anfänglich­es (Un-)Glück, unab­hängig von guten oder schlecht­en Entschei­dun­gen, den gle­ichen moralis­chen Wert besitzt. Sie muss die Gewis­sheit ver­mit­teln, dass die Men­schen als Teil­nehmende an einem demokratis­chen Sys­tem auf der Grund­lage der Gle­ich­stel­lung zusam­men­leben. Die demokratis­che Par­ität definiert sich durch gegen­seit­i­gen Respekt, aber sie muss auch ein Gespräch sein: Die Men­schen müssen die Stim­men ander­er anerkennen. 

Par­ität formulieren

Wie kann eine solche demokratis­che Par­ität angesichts der Geschlechterasym­me­trie erre­icht wer­den? In “Equi­ty and the Wel­fare State” skizziert Nan­cy Fras­er fünf nor­ma­tive Prinzip­i­en, die die Ver­wirk­lichung von Geschlechter­par­ität in der sozialen Für­sorge aus­machen. Prinzip­i­en der Armuts- und Aus­beu­tungs­bekämp­fung zie­len darauf ab, Armut für alle zu ver­hin­dern, ins­beson­dere aber für Frauen und Kinder, die bish­er vom Fam­i­lieneinkom­men abhängig waren. Außer­dem sollen diese Prinzip­i­en den Bürger*innen die notwendi­gen Mit­tel an die Hand geben, um sich der Aus­beu­tung zu wider­set­zen. Frasers bezieht Gle­ich­heit in das Par­ität­skonzept mit ein, beschränkt sich jedoch auf Gle­ich­heit in Einkom­men, Freizeit und Respekt. Sie fügt ein Anti­mar­gin­al­isierung­sprinzip hinzu, das darauf abzielt, Frauen und mar­gin­al­isierte Geschlechter vom Rande des öffentlichen Lebens zu holen und sie zu kul­turellen und poli­tis­chen Akteurin­nen zu machen: “Das Anti­mar­gin­al­isierung­sprinzip ver­langt die Schaf­fung der notwendi­gen Bedin­gun­gen für die Teil­habe von Frauen, ein­schließlich der Tages­be­treu­ung, der Pflege älter­er Men­schen und der Möglichkeit, in der Öffentlichkeit zu stillen. Es erfordert auch den Abbau von maskulin­is­tis­chen Arbeit­skul­turen und frauen­feindlichen poli­tis­chen Umfeldern.”4 Schließlich soll das Antian­drozen­tris­mus­prinzip androzen­trische Lebens­muster als Ide­al abschaf­fen: “Die Poli­tik sollte […] darauf abzie­len, androzen­trische Insti­tu­tio­nen so umzus­truk­turi­eren, dass Men­schen, die Kinder zur Welt brin­gen kön­nen und häu­fig Ange­hörige und Fre­unde pfle­gen, willkom­men sind, und sie nicht als Aus­nah­men, son­dern als ide­al­typ­is­che Akteur*innen behan­deln. Das Prinzip des Anti-Androzen­tris­mus erfordert die Dezen­trierung maskulin­is­tis­ch­er Normen—zum Teil durch die Aufw­er­tung von Prak­tiken und Eigen­schaften, die derzeit unter­be­w­ertet sind, weil sie mit Frauen assozi­iert wer­den.”5 

Geschlecht auf­brechen

Ein sich der Geschlechter­par­ität rüh­mender, postin­dus­trieller Wohlfahrtsstaat set­zt also eine Dekon­struk­tion dessen voraus, was öko-poli­tis­che Sys­teme in der Ver­gan­gen­heit als Geschlecht(er) kon­stru­iert, kon­tex­tu­al­isiert und kon­notiert haben. Beispiel­sweise bedarf es ein­er Dekon­notierung von Ver­hal­ten, Tätigkeit­en und Eigen­schaften. Um Ander­sons Vision ein­er demokratis­chen Gle­ich­heit zu gewährleis­ten, in der Män­ner, Frauen und alle anderen Geschlechter einan­der mit gegen­seit­igem Respekt begeg­nen, aber auch vor dem Gesetz, in der Arbeitswelt und in der Pflegear­beit gle­ich­berechtigt sind, schlägt Fras­er fol­gende Verän­derun­gen vor:

Anders als bei der Pflegepar­ität wäre der Beschäf­ti­gungssek­tor nicht in zwei ver­schiedene Bere­iche unterteilt; alle Arbeit­splätze wür­den Arbeitnehmer*innen umfassen, die auch Pflegekräfte sind; alle hät­ten eine kürzere Wochenar­beit­szeit als die derzeit­i­gen Vol­lzeitar­beit­splätze und alle wür­den beschäf­ti­gungs­fördernde Dien­stleis­tun­gen anbi­eten. Anders als bei den Uni­ver­salernährern würde jedoch nicht davon aus­ge­gan­gen, dass die Arbeitnehmer*innen die gesamte Pflegear­beit auf die Sozial­dien­ste über­tra­gen. […] Die Kun­st beste­ht darin, sich eine soziale Welt vorzustellen, in der das Leben der Bürger*innen Lohnar­beit, Pflegear­beit, kom­mu­nales Engage­ment, poli­tis­che Par­tizipa­tion und Ein­bindung in das kom­mu­nale Leben der Zivilge­sellschaft miteinan­der verbindet—und dabei auch noch Zeit für etwas Spaß lässt. 6

Kap­i­tal­is­mus und Unter­drück­ung haben viele Gesichter, und so sehr sie sich auf Carear­beit und sozialer Repro­duk­tion ver­lassen, so sehr sind sie auch auf Macht und ein­er hier­ar­chis­chen Dynamik von über­lege­nen und unter­lege­nen Indi­viduen aufge­baut. Um die Macht der einen zu erhal­ten, mussten andere aus­ge­beutet wer­den; vor allem Frauen, mar­gin­al­isierte Geschlechter und nicht-weiße Arbeiter*innen. Die Entwick­lung ein­er Gesellschaft, in der jed­er Men­sch gle­ich behan­delt wird—unabhängig von Geschlecht, Herkun­ft, Behin­derung und so fort—sollte für die glob­ale Welt ganz oben auf der Pri­or­itäten-Liste ste­hen. Dieser Kampf ist inter­sek­tion­al und geht uns alle etwas an. 

LEKTORIERT VON LARA HELENA.

Fußnoten
1 Ander­son 1999: 295 2 Ander­son 1999: 289 3312 4Fras­er 1994: 599 5599–600 6612–613

Quellen
Ander­son, Eliz­a­beth S. “What Is the Point of Equal­i­ty?” Ethics, Jan. 1999, pp. 287– 337.
Fras­er, Nan­cy. “After the Fam­i­ly Wage: Gen­der Equi­ty and the Wel­fare State.” Polit­i­cal The­o­ry, Nov. 1994, pp. 591–618.  


Mer­cy Fer­rars is a MA grad­u­ate in phi­los­o­phy and writes fic­tion, poet­ry and non-fic­tion essays. She is mad­ly in love with Scot­land, dogs and Bojack Horseman.

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