ESSAYS, TOPICAL “DIS/ORDER”

999 Teile

by NORA GROSSMANN

Foto: Clark Van Der Beken

07/10/2022

Ich beginne mit dem Rah­men. 1000 Puz­zleteile sind eine vielver­sprechende Prokrasti­na­tion. Med­i­ta­tiv. Mit Suchtpotenzial.

Meine Welt beste­ht aus Ein- und Aus­buch­tun­gen. Mit gekrümmtem Rück­en und bren­nen­den Augen sitze ich auf dem Boden inmit­ten von Chaos. Alles wirkt willkür­lich zusam­mengewür­felt. Als hätte jemand mein Zim­mer ein­mal kräftig durchgeschüt­telt. Eine hal­baus­gepack­te Reise­tasche, dazwis­chen dreck­ige Wäsche von vor der Reise und die eben­falls unaus­gepack­ten Einkäufe von gestern. Pfand­flaschen, dreck­iges Geschirr, der kom­plette Inhalt meines Medi­zin­schränkchens, unge­le­sene Post, Zeitschriften, Bücher, …

Noch ein Teil, dann höre ich auf! Aber ich finde vier Puz­zleteile, die zu mein­er aktuellen Baustelle (ein­er rot-gold­e­nen Abend­sonne) passen kön­nten. Jedes davon will sorgfältig über­prüft wer­den. Vielle­icht passen die vier auch zusam­men? Ich habe keine Lust, die Zahl der Kom­bi­na­tion­s­möglichkeit­en auszurech­nen. Also entschei­de ich mich für einen empirischen Ansatz und pro­biere es aus.

Keine der 56 möglichen Anord­nun­gen ist die Richtige. Trotz­dem möchte ich noch eine bes­timmte Lücke füllen. Ich beginne sys­tem­a­tisch vorzuge­hen. Ich sortiere die Teile grob nach Far­ben und Mustern und ignoriere, dass ich eigentlich mein Leben ord­nen sollte: Wäsche waschen, einkaufen, Anträge stellen, die Woh­nung kündigen, …

Ein Teil fehlt. Ein Rand­stück. Ich habe den Kar­ton dreimal durch­sortiert, doch es ist nicht auffind­bar. Unzufrieden mache ich weit­er. Das ist immer noch weniger frus­tri­erend, als mich um andere Dinge zu küm­mern: Stel­lenauss­chrei­bun­gen lesen, Bewer­bun­gen schreiben, Entschei­dun­gen treffen, …

Ich beginne mit Flächen und Objek­ten, ordne glitzern­des Wass­er und pinke Wolken zu. Auch an klaren Kan­ten wie Baum­stäm­men und Felsvor­sprün­gen kann ich mich ent­lang­hangeln. Einige Objek­te kann ich noch nicht erken­nen, weil jedes Stück nur einen kleinen Auss­chnitt von ihnen zeigt. Schwierig sind die grau-braun schat­tierten Übergänge—das undefinier­bare „Dazwis­chen.”

Grade bin ich irgend­wo „dazwis­chen.” Meine Aus­bil­dung habe ich abgeschlossen. Nun muss ich die aus­ge­fransten Rän­der ins große Ganze einord­nen und daran anbauen.

Die Lücke im Rah­men irri­tiert mich noch immer. Ich beschließe, das fehlende Stück zu suchen und wüh­le in meinem Chaos. Wenn es sich nicht bere­its im Zus­tand max­i­maler Unord­nung befun­den hätte, so hätte ich die Entropie meines Zim­mers dabei erhöht.

In meinem Lebenslauf (gestern habe ich ver­sucht, ihn niederzuschreiben) fehlen auch Teile: Spezial­isierun­gen, Skills, min­destens drei Jahre Arbeit­ser­fahrung. Wenn ich recht darüber nach­denke, fehlt in meinem Leben ständig irgendwas—nicht nur, weil ich dazu neige, Dinge zu verlieren.

Irgend­wann gebe ich die Suche nach dem Rand­stück auf. Wahrschein­lich fehlte es schon im Karton.

Jede passende Verbindung löst einen kurzen Adren­a­lin­kick aus. Und schon sehne ich mich nach dem Näch­sten. Er wird kom­men, wenn ich nur lange genug suche. Die Gewis­sheit, dass jedes Teil seinen Platz hat, gibt mir ein Gefühl von Sicher­heit. Dass sie per­fekt passen und am Ende ein kitschiges Bild ergeben: irgend­was mit Son­nenun­ter­gang. Den Kar­ton habe ich mir nicht so genau angeschaut. Schließlich will ich mich über­raschen lassen. Gerne würde ich auf die Ver­pack­ung meines Lebens lusch­ern. Es ist nicht bloß so, dass ich das Bild darauf nicht kenne—ich bezwei­fle, dass es existiert.

Einige der Papp­stückchen ähneln sich auf den ersten Blick in Farbe und Form. Doch das trügt! Es ist frus­tri­erend, ständig ein falsches Teil zu greifen, das ich nicht eingliedern kann. Aber immer noch bess­er, als einen Fehler zu machen. Manch­mal ver­suche ich minuten­lang eine Lücke zu schließen, bis ich merke, dass die angren­zen­den Teile bere­its falsch ver­bun­den sind.

Ich habe Angst davor, mich in irgen­deine Lücke zu zwän­gen, in die ich eigentlich nicht hinein­passe. Angst davor, den Fehler nicht zu find­en und mein Leben nie so richtig ver­voll­ständi­gen zu kön­nen. Also suche ich gar nicht erst nach dem richti­gen Platz.

Endlich ist das Bild (beina­he) fer­tig … lei­der. Wenn ich zurück­trete, erkenne ich die Details, die ich zuvor nicht zuord­nen kon­nte: Die Bewohn­er dieser malerischen Land­schaft sind Rehe, welche leicht­füßig durchs Gemälde hüpfen. Wenn meine anderen Auf­gaben nur auch so sys­tem­a­tisch lös­bar wären und mein Leben aus einem Stück ges­tanzt wäre! Es ist ein schwach­er Trost, dass das Puz­zle nur genau eine Lösung hat—wie lang­weilig! Außer­dem trieft es von Kitsch.

Ein Orkan ver­wüstet die Idylle. Meine Fin­ger zer­bröseln das Gemälde, klauben die Trüm­mer zusam­men und schieben sie in den Kar­ton. Nicht ein Puz­zle-Paar bleibt zusam­men. Nur um sicherzuge­hen, schüt­tle ich den Kar­ton noch ein­mal kräftig durch. Nun sind die 999 Teile bere­it für das näch­ste Spiel. Mit einem Edding stre­iche ich die “1000” auf dem Kar­ton durch und schreibe “999” darunter. Dann über­male ich einen kleinen Auss­chnitt des Bildes. Etwa dort, wo die Lücke war. So ist das Bild wenig­stens ehrlich und um einen Quadratzen­time­ter weniger kitschig.

Für einen kurzen Moment bin ich ver­sucht, von vorn zu begin­nen, über­lege es mir dann jedoch anders. Wozu etwas zusam­men­puzzeln, was bere­its auf der Ver­pack­ung abge­bildet ist?

EDITED BY MACY RIPLEY.


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