TOPICAL DIS/ORDER, KUNST, PHILOSOPHIE
Die (Un-)Ordnung der Bilder
Vor 50 Jahren wurde John Bergers Ways of Seeing veröffentlicht. Ein Reread.
by CLARA BERLICH

19/10/2022
„Sehen kommt vor den Worten. Das Kind sieht und erkennt, bevor es lernt, zu sprechen.”
So lautet der erste Satz des Buches. Ein schmales Bändchen, das sich heute in mehr oder weniger zerfledderter Form in allen Sprachen und quer über die Welt verteilt in ziemlich vielen Bücherregalen findet. Mein Exemplar habe ich der Mutter eines Freundes geklaut. Die Mutter meines Freundes hat einzelne Sätze und Passagen mit einem gelben Textmarker unterstrichen, ich später mit einem roten Kugelschreiber. Man sieht diese Markierungen übrigens zuerst, bevor man die Worte darunter erkennt.
Das Buch heißt Ways of Seeing und zettelt 1972, vor genau fünfzig Jahren also, eine kleine Revolution des westlichen Denkens und eine große Rebellion innerhalb der Kulturwissenschaften an. Autor des Buches ist (neben vier anderen Autor*innen, deren Namen allerdings nicht auf der Frontseite zu finden sind) natürlich John Berger. Berger hat Laura Mulveys Arbeiten zum female gaze inspiriert, das Buch ist inzwischen zum locus classicus der Kunst, Kultur und Popliteratur geworden.
Seit 1972 ist nun ziemlich viel passiert, wenn es um die Beziehung zwischen den Menschen und den Bildern geht. Das Internet, zum Beispiel. Seit mindestens einer Dekade lernen wir spätestens in der Grundschule, dass wir heute im ‚digitalen Zeitalter’ von einer ‚Bilderflut’ umgeben sind, die zu strukturieren unserem Gehirn faktisch unmöglich ist. Berger baut seinerzeit noch von Walter Benjamins Überlegungen dazu auf, inwiefern die Erfindung der Kamera unser Verständnis von Kunst grundlegend verändert hat. Das Kunstwerk schien, im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, auf einmal etwas ganz anderes zu sein als zuvor. Wir wiederum gucken Transformers in HD und kaufen das Lächeln der Mona Lisa auf Etsy. Und dennoch gibt es da etwas bei Berger, das sich immer noch einigermaßen revolutionär anfühlt, heute beim Reread, ein halbes Jahrhundert später. Immerhin geht es bei Berger nicht nur um die Erfindung der Kamera, sondern auch um Frauen und den Kapitalismus. Brandaktuelle Themen also. Bevor sich die Frage stellen lässt, wie aktuell Bergers Erkenntnisse zu diesen Themen heute noch sind, lohnt es sich, eine kurze Reise zurück in die 70er zu machen und einen Blick auf den Kontext zu werfen, in dem Bergers berühmt-berüchtigter Sammelband entstanden ist.
Anfang der 70er Jahre ist John Berger ein Autor und Kunst- und Literaturkritiker, der sich bereits einen Ruf als von weit, weit links aus vergeistigter Pöbler gemacht hat. Mit einer Low-Budget-Produktion für die BBC, die als vierteilige Serie und unter dem Titel Ways of Seeing ausgestrahlt wird, antwortet Berger auf eine andere BBC-Serie, die mit deutlich mehr Budget und von einem anderen studierten Kunsthistoriker produziert wurde. In Kenneth Clarks Civilisation sollte die europäische Kunst- und Geistesgeschichte für das breite Fernsehpublikum auf ansprechende und zugängliche Weise präsentiert werden. Bergers Ways of Seeing kann (muss aber nicht) dann als Versuch gesehen werden, dem Fernsehpublikum klarzumachen, dass das mit der europäischen Kunstgeschichte alles nicht so einfach ist.
Im Resultat steht Berger viermal für ca. dreißig Minuten in einem Hemd, das heute in Berlin wohl wieder freiwillige Träger finden würde, vor dem Bluescreen und erklärt Kunst. Im Anschluss an die Fernsehserie entsteht dann das Buch. Das Buch setzt sich aus sieben Essays zusammen, die lose aufeinander aufbauen und sich alle mit derselben simplen Frage auseinandersetzen: Was sehen wir eigentlich, wenn wir ein Bild sehen? Berger und seine Co-Autoren argumentieren dann vor allem sehr anschaulich (drei der Essays bestehen nur aus Bildern) dafür, dass diese Frage alles ist, nur nicht simpel. Hier wären ein paar der Antwortmöglichkeiten, die man bei Berger findet:
Wir sehen, was wir sehen sollen.
Seitdem das Original eines Kunstwerks beliebig reproduzierbar ist, wissen wir nicht mehr, was wir sehen.
Manchmal sehen wir eine Frau.
Und meistens sehen wir eine Frau, die gesehen wird.
Und das ist nicht dasselbe.
Kunst ist hier ein weiter Raum und es geht bei Berger dann immer mehr und immer allgemeiner um die Dreiecksbeziehung Menschen-Blicke-Bilder in all ihren Facetten. Die Kunst, beziehungsweise vornehmlich die europäischen Ölgemälde, die hier als Bezugspunkt dient, das dient Berger vor allem dazu, einen fundamentaleren Gedanken zu fassen: Sehen ist etwas, das immer da ist, und dennoch lernen wir sehen. Und wir lernen auf eine bestimmte Weise zu sehen, die von der Gesellschaft, in der wir leben, präfiguriert wird und eben diese Gesellschaft dann gleichzeitig bedingt und strukturiert. Dass die Art, auf die wir Kunst betrachten, und die Art, auf die wir die Welt betrachten, irgendwie miteinander verschränkt sind, versteht sich da ganz von selbst. Das Bild existiert nicht unabhängig vom Urteil. Und das Urteil ist nicht unbedingt autonom. Dass es in ästhetischen Studien eine politische Komponente zu beachten gilt und dass eine Diskussion über Rembrandt sich ebenso mit Fragen der Ideologiekritik auseinanderzusetzen hat wie eine Diskussion eines Coca-Cola-Werbespots, das war zumindest 1972 noch keine Selbstverständlichkeit. Heute sieht das natürlich anders aus und die Frage, inwiefern Kunst auch ganz nebenbei und versehentlich politisch sein kann, führt in gewissen Kreisen nur noch zu einem entnervten Achselzucken.
Allerdings geht der Aha-Moment bei Berger über die Beobachtung, dass Ölgemälde und Werbespots einiges gemeinsam haben Weit hinaus: Berger verortet Werbung—jedenfalls den sichtbaren Teil—in eben der Tradition des Sehens, die wir dem europäischen Ölgemälde zu verdanken haben. In dieser Tradition fällt das Sehen mit dem Besitzen zusammen. Im 16. Jahrhundert, als das Ölgemälde—mindestens in Westeuropa—als Technik und Form allem anderen den Rang abgelaufen hat, sind die Auftraggeber*innen der Gemälde typischerweise selbst auf dem Bild zu sehen. Was außerdem zu sehen ist: weitläufige Ländereien, Bücherregale und Schmuck und Kleider und Möbel und überhaupt, in einem Wort, der Wohlstand der abgebildeten Personen. Ausgenommen ist vielleicht das zu jener Zeit ebenso beliebte Stillleben, allerdings bleibt auch hier bedenkenswert: Obst im Überfluss war (und ist) am Ende auch ein Luxusgut. Zwar hat es die Darstellung von Gold und Geld und Überfluss auch lange vor der Renaissance gegeben, was neu ist, das ist allerdings, dass Reichtum und Luxus jetzt nicht mehr notwendigerweise Symbol für Gott, Vater oder König sind. Reichtum wird um seiner selbst willen dargestellt, und damit von seiner bisherigen Bindung an andere Attribute (göttlich, königlich, erhaben) emanzipiert. Das Geld spricht für sich, und zwar in der Sprache der Bilder. Die Auftraggeber*innen der Gemälde, oft Kaufleute, lassen sich mitsamt ihrem Besitz darstellen, frei nach dem Credo „Ich zeige, was ich habe,” das auf einmal ganz eng dran ist, an „Ich bin, was ich habe.”
Das Problem, das Berger adressiert, ist allerdings weniger eine bestimmte Ideologie oder Ordnung und viel mehr die Unsichtbarkeit dieser Ordnung in dem, was wir in Europa für unser Kunst- und Kulturgut halten. Es geht hier vor allem um die Unsichtbarkeit im (leider fällt mir kein besseres Wort ein) Diskurs. Wir sehen ein Renaissancegemälde von einem netten Ehepaar. Im Hintergrund abgebildet sind die Ländereien des Paars. Die dogmatische Bildbeschreibung läuft dann darauf hinaus, dass wir es hier mit einer Darstellung eines Paares inmitten der Schönheit der Natur zu tun haben. Dass die schöne Natur, die da abgebildet ist, dem Paar gehört, wird ausgespart.

/ WikiCommons
Bergers gerechte Wut, die er in der Serie noch sorgsam hinter der sanften Tonlage und dem Duktus eines Wohlfühlakademikers verborgen hält, schimmert im Sammelband ab und zu mehr als durch. An einer Stelle konstatiert Berger einen Raub der uns eigenen und zugehörigen Historie (11). Wer ist hier die Räuber*in? Berger zeigt zwar nicht direkt mit dem Finger auf Personen, zitiert aber häufig und gern diverse Kunstkritiker*innen (vor allem natürlich Kenneth Clark), die uns beibringen, Landschaften und Obst zu betrachten, ohne nach den Kosten der abgebildeten Dinge zu fragen. Oder den Namen des Mäzens oder der Mäzenin anführen, ohne die Abhängigkeit zwischen Kunst und Spende direkt zu adressieren. Bei Walter Benjamin heißt es so ungefähr und an einer anderen Stelle: Der Blick auf die Geschichte der Menschheit ist immer ein Blick aus der Perspektive der Gewinner*innen, weil Geschichte immer nur von den Gewinner*innen geschrieben wird. Auch eine Bildbeschreibung ist eine Form der Geschichtsschreibung.

Ein Museum, das ist ein heiliger Ort. Den jede und jeder von uns betreten kann, immerhin. Was wir dann sehen, das ist unsere Sache. Wie in der Kirche. Es sagt ja niemand, dass ich an Gott glauben muss, um seinen hölzernen Sohn am Kreuz hübsch zu finden. Berger argumentiert gegen Mystizismus und kämpft für Aufklärung. Und das ist, wie immer, eine heikle Angelegenheit. Auch die alten Meister mussten für Heizkosten und Butterbrot aufkommen. Ein Ölgemälde, das ist kein geheimnisvolles Relikt aus der kulturellen Schatztruhe unserer Vorfahren, sondern das ist ein Gegenstand, der unter den spezifischen Bedingungen einer von spezifischen Machtverhältnissen geprägten Lebenswelt geschaffen wurde. Das lässt sich so feststellen. „Es ist niemals ein Denkmal der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein,” schreibt Benjamin. „Der Kapitalismus überlebt” schreibt Berger, „in dem er eine ausgebeutete Mehrheit dazu zwingt, die eigenen Interessen so begrenzt wie möglich zu definieren.”
Nun sind wir alle inzwischen ohnehin lieber im Hamburger Bahnhof unterwegs. Und wenn wir uns dann doch einmal in die Alte Nationalgalerie verirren, haben wir unsere Wokeness im Gepäck. Wer woke ist, hat die Augen ganz weit geöffnet. Vielleicht haben wir unseren Blick ja längst von den Strukturen emanzipiert, denen Berger so dringend auf den Zahn fühlen will. Auch Proletarier*innen können heute Provenienzforscher*innen werden, wenn sie mal groß sind.
Die spielerische Analyse der unheilvollen Verbindung von Blick und Kapital führt Berger aus der Renaissance mitten hinein in die europäische Postmoderne und irgendwie wird aus dem ‚Ich zeige, was ich habe’ des Ölgemäldes dann das uns so vertraute ‚Wir zeigen dir, was du sein könntest, wenn du nur dieses oder jenes hättest.’ In der westlichen Welt sind wir von Bildern umgeben—tausenden von Bildern in beinahe jedem Moment und an jedem Tag—und was eine willkürliche, chaotische Flut zu sein scheint, das fügt sich ein in eine Tradition des Sehens, die sich mindestens bis in die Renaissance zurückverfolgen lässt und die Bilderflut in eine bestimmte Ordnung bringt. Psychoanalytisch unterbuttert ließe sich das als Ordnung des Begehrens beschreiben. Wir sehen und wir wünschen. Eine Obstschale, eine nackte Frau, eine goldene Kette. Ein Sonnenuntergang über den Dächern Palermos, veganer Linseneintopf, Kim Kardashians schöner Po—
In der Psychoanalyse gibt es die Idee, dass wir relativ Zeit damit verbringen, nach etwas zu suchen, das wir nie hatten, und von dem wir nicht genau wissen, was es ist. Wir wissen nur, dass uns etwas fehlt. Dass wir mangelhaft sind, und dass es irgendetwas braucht, etwas anderes, um den Zustand der Vollkommenheit wiederherzustellen, den wir vielleicht nur im wohligen Schwippschwapp unseres embryonalen Daseins gekannt haben. Werbung verspricht Vollkommenheit. Und ein Bild von einem Gegenstand kann ein Versprechen auf Erlösung sein, wenn das Bild nur gut genug ist. Berger spricht von einem „falschen Standard” bezüglich der Dinge, die uns als begehrenswert erscheinen oder nicht. Das klingt natürlich nett und plausibel, aber wer setzt eigentlich diese Standards? Die Werbung? Der Kapitalismus? Elon Musk? Emma Chamberlain? Und wer von uns ist sich auf diesem Gebiet heute noch sicher genug, um sagen zu können, was ‚richtig’ und was ‚falsch’ ist?
In der BBC-Serie beschwert sich Berger darüber, dass die Produktionsbedingungen in der Werbung unsichtbar bleiben. Wir sehen einen Werbespot und wir sehen eine Frau im Kaschmirpulli. Wir sehen nicht: die Kinderhände, die den Pulli stricken, oder den Oralsex, die die Schauspielerin performt hat, um für den Werbespot gecastet zu werden. Das mag heute teilweise noch genauso stimmen wie 1972. Größtenteils verkauft uns der Werbespot im Jahr 2022 allerdings die Produktionsbedingungen gleich mit: Wir kaufen nicht nur die Milch, sondern wir kaufen die Milch, die von glücklichen Kühen auf einer großen grünen Wiese produziert wird, ein paar attraktive junge Männer melken eigenhändig und lächeln in die Kamera. Der H&M‑Pulli ist kein H&M‑Pulli, sondern er besteht aus recycelten Plastikflaschen. Vattenfall verkauft keinen Strom, sondern eine bessere Zukunft mit gutem Soundtrack. Abgesehen davon ist Werbung sowieso nicht mehr das, was sie im 20. Jahrhundert mal war, sondern findet vornehmlich auf Instagram und TikTok statt. Der Kapitalismus überlebt heute gerade dank einer Mehrheit, die ihn—das heißt—sich erfolgreich verkauft. Power to the people? Power to the algorithm, in jedem Fall. An der Dreiecksbeziehung von Angucken, Begehren und Besitzen rüttelt das natürlich wenig. #oldmoneyaesthetics.
Die erste Flagge, die auf besetztem Gebiet gehisst werden kann, ist der Blick. Ich kam, ich sah, ich besaß. Ein paar Jahre vor Bergers Ways of Seeing haben die Bilder von Neil Armstrong auf dem Mond gereicht, um der kompletten Menschheit einen Anspruch auf das Weltall einzuräumen. Wir sind zum Mond geflogen. Fünfzig Jahre nach Bergers Pamphlet spielt das Weltall im Kanon westeuropäischer Wunschträume keine so große Rolle mehr. Die Kinder von Marx und Coca-Cola sind erwachsen geworden, ihre Enkel stehen mit Atemschutzmaske auf dem Platz der Republik und demonstrieren für Klimagerechtigkeit. Die Demonstration wird dann im Fernsehen gezeigt und auf Instagram und vielleicht gibt es noch einen Livestream auf YouTube und –
„Die Beziehung zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir wissen, bleibt immer unklar,” sagt Berger. Na gut, was wissen wir denn? Wir wissen, dass die Erde wärmer wird. Wir wissen, dass der direkte CO2-Ausstoß einer Kerosin betriebenen Rakete (wie z.B. der Falcon 9 von Elon Musks Raumfahrtunternehmen SpaceX) bei 200 bis 300 Tonnen Kohlendioxid liegt. Wir wissen, dass Mahsa Amini am 13. September 2022 von einer Einheit der Sittenpolizei in Teheran festgenommen wurde, und drei Tage nach ihrer Festnahme auf der Intensivstation des Kasra-Krankenhauses gestorben ist. Wir wissen, was wir gesehen haben, im Internet oder auf der Titelseite der BILD-Zeitung in der Auslage beim Kiosk neben dem Gemüseladen. 1972 mag es eine klare Abgrenzung gegeben haben zwischen einer Nachrichtensendung und dem, was Berger als ‚Publicity’ betitelt und zum Instrument der kapitalistischen Überlebensstrategie deklariert. Unsere Welt sieht komplizierter, unordentlicher, verschwommener aus. Auf den ersten Blick, in jedem Fall.
LEKTORIERT VON MACY RIPLEY.
Quellen
John Berger, Ways of Seeing, Penguin Books, London 1972.
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. I — II, Suhrkamp, Frankfurt 1980.
https://www.ways-of-seeing.com/
Und die BBC Serie von Berger gibt es kostenlos hier.
Clara Berlich, geboren 1994 in Pankow, aufgewachsen im Landidyll des deutschen Ostens, hat wenig Wirtschaftswissenschaften und viel Philosophie studiert. Vor, neben und nach dem Studium auf der ewigen Suche nach Arbeit und Struktur, abwechselnd vor und hinter der Bar.