TOPICAL DIS/ORDER, KUNST, PHILOSOPHIE

Die (Un-)Ordnung der Bilder

Vor 50 Jahren wurde John Bergers Ways of Seeing veröffentlicht. Ein Reread.

by CLARA BERLICH

Foto: Nude Girl on a Pan­ther Skin, Félix Tru­tat (1824–1844), Lou­vre, Paris. / Wiki Commons

19/10/2022

„Sehen kommt vor den Worten. Das Kind sieht und erken­nt, bevor es lernt, zu sprechen.”

So lautet der erste Satz des Buch­es. Ein schmales Bänd­chen, das sich heute in mehr oder weniger zer­fled­dert­er Form in allen Sprachen und quer über die Welt verteilt in ziem­lich vie­len Bücher­re­galen find­et. Mein Exem­plar habe ich der Mut­ter eines Fre­un­des geklaut. Die Mut­ter meines Fre­un­des hat einzelne Sätze und Pas­sagen mit einem gel­ben Textmark­er unter­strichen, ich später mit einem roten Kugelschreiber. Man sieht diese Markierun­gen übri­gens zuerst, bevor man die Worte darunter erkennt. 

Das Buch heißt Ways of See­ing und zettelt 1972, vor genau fün­fzig Jahren also, eine kleine Rev­o­lu­tion des west­lichen Denkens und eine große Rebel­lion inner­halb der Kul­tur­wis­senschaften an. Autor des Buch­es ist (neben vier anderen Autor*innen, deren Namen allerd­ings nicht auf der Front­seite zu find­en sind) natür­lich John Berg­er. Berg­er hat Lau­ra Mul­veys Arbeit­en zum female gaze inspiri­ert, das Buch ist inzwis­chen zum locus clas­si­cus der Kun­st, Kul­tur und Poplit­er­atur geworden. 

Seit 1972 ist nun ziem­lich viel passiert, wenn es um die Beziehung zwis­chen den Men­schen und den Bildern geht. Das Inter­net, zum Beispiel. Seit min­destens ein­er Dekade ler­nen wir spätestens in der Grund­schule, dass wir heute im ‚dig­i­tal­en Zeital­ter’ von ein­er ‚Bilder­flut’ umgeben sind, die zu struk­turi­eren unserem Gehirn fak­tisch unmöglich ist. Berg­er baut sein­erzeit noch von Wal­ter Ben­jamins Über­legun­gen dazu auf, inwiefern die Erfind­ung der Kam­era unser Ver­ständ­nis von Kun­st grundle­gend verän­dert hat. Das Kunst­werk schien, im Zeital­ter sein­er tech­nis­chen Repro­duzier­barkeit, auf ein­mal etwas ganz anderes zu sein als zuvor. Wir wiederum guck­en Trans­form­ers in HD und kaufen das Lächeln der Mona Lisa auf Etsy. Und den­noch gibt es da etwas bei Berg­er, das sich immer noch einiger­maßen rev­o­lu­tionär anfühlt, heute beim Reread, ein halbes Jahrhun­dert später. Immer­hin geht es bei Berg­er nicht nur um die Erfind­ung der Kam­era, son­dern auch um Frauen und den Kap­i­tal­is­mus. Bran­dak­tuelle The­men also. Bevor sich die Frage stellen lässt, wie aktuell Berg­ers Erken­nt­nisse zu diesen The­men heute noch sind, lohnt es sich, eine kurze Reise zurück in die 70er zu machen und einen Blick auf den Kon­text zu wer­fen, in dem Berg­ers berühmt-berüchtigter Sam­mel­band ent­standen ist. 
Anfang der 70er Jahre ist John Berg­er ein Autor und Kun­st- und Lit­er­aturkri­tik­er, der sich bere­its einen Ruf als von weit, weit links aus vergeistigter Pöbler gemacht hat. Mit ein­er Low-Bud­get-Pro­duk­tion für die BBC, die als vierteilige Serie und unter dem Titel Ways of See­ing aus­ges­trahlt wird, antwortet Berg­er auf eine andere BBC-Serie, die mit deut­lich mehr Bud­get und von einem anderen studierten Kun­sthis­torik­er pro­duziert wurde. In Ken­neth Clarks Civil­i­sa­tion sollte die europäis­che Kun­st- und Geis­tes­geschichte für das bre­ite Fernseh­pub­likum auf ansprechende und zugängliche Weise präsen­tiert wer­den. Berg­ers Ways of See­ing kann (muss aber nicht) dann als Ver­such gese­hen wer­den, dem Fernseh­pub­likum klarzu­machen, dass das mit der europäis­chen Kun­st­geschichte alles nicht so ein­fach ist.

Im Resul­tat ste­ht Berg­er vier­mal für ca. dreißig Minuten in einem Hemd, das heute in Berlin wohl wieder frei­willige Träger find­en würde, vor dem Blue­screen und erk­lärt Kun­st. Im Anschluss an die Fernsehserie entste­ht dann das Buch. Das Buch set­zt sich aus sieben Essays zusam­men, die lose aufeinan­der auf­bauen und sich alle mit der­sel­ben sim­plen Frage auseinan­der­set­zen: Was sehen wir eigentlich, wenn wir ein Bild sehen? Berg­er und seine Co-Autoren argu­men­tieren dann vor allem sehr anschaulich (drei der Essays beste­hen nur aus Bildern) dafür, dass diese Frage alles ist, nur nicht sim­pel. Hier wären ein paar der Antwort­möglichkeit­en, die man bei Berg­er findet: 

Wir sehen, was wir sehen sollen.

Seit­dem das Orig­i­nal eines Kunst­werks beliebig repro­duzier­bar ist, wis­sen wir nicht mehr, was wir sehen. 

Manch­mal sehen wir eine Frau. 

Und meis­tens sehen wir eine Frau, die gese­hen wird.

Und das ist nicht dasselbe.

Kun­st ist hier ein weit­er Raum und es geht bei Berg­er dann immer mehr und immer all­ge­mein­er um die Dreiecks­beziehung Men­schen-Blicke-Bilder in all ihren Facetten. Die Kun­st, beziehungsweise vornehm­lich die europäis­chen Ölgemälde, die hier als Bezugspunkt dient, das dient Berg­er vor allem dazu, einen fun­da­men­taleren Gedanken zu fassen: Sehen ist etwas, das immer da ist, und den­noch ler­nen wir sehen. Und wir ler­nen auf eine bes­timmte Weise zu sehen, die von der Gesellschaft, in der wir leben, prä­fig­uri­ert wird und eben diese Gesellschaft dann gle­ichzeit­ig bed­ingt und struk­turi­ert. Dass die Art, auf die wir Kun­st betra­cht­en, und die Art, auf die wir die Welt betra­cht­en, irgend­wie miteinan­der ver­schränkt sind, ver­ste­ht sich da ganz von selb­st. Das Bild existiert nicht unab­hängig vom Urteil. Und das Urteil ist nicht unbe­d­ingt autonom. Dass es in ästhetis­chen Stu­di­en eine poli­tis­che Kom­po­nente zu beacht­en gilt und dass eine Diskus­sion über Rem­brandt sich eben­so mit Fra­gen der Ide­olo­giekri­tik auseinan­derzuset­zen hat wie eine Diskus­sion eines Coca-Cola-Werbespots, das war zumin­d­est 1972 noch keine Selb­stver­ständlichkeit. Heute sieht das natür­lich anders aus und die Frage, inwiefern Kun­st auch ganz neben­bei und verse­hentlich poli­tisch sein kann, führt in gewis­sen Kreisen nur noch zu einem ent­nervten Achselzucken. 

Allerd­ings geht der Aha-Moment bei Berg­er über die Beobach­tung, dass Ölgemälde und Werbespots einiges gemein­sam haben Weit hin­aus: Berg­er verortet Werbung—jedenfalls den sicht­baren Teil—in eben der Tra­di­tion des Sehens, die wir dem europäis­chen Ölgemälde zu ver­danken haben. In dieser Tra­di­tion fällt das Sehen mit dem Besitzen zusam­men. Im 16. Jahrhun­dert, als das Ölgemälde—mindestens in Westeuropa—als Tech­nik und Form allem anderen den Rang abge­laufen hat, sind die Auftraggeber*innen der Gemälde typ­is­cher­weise selb­st auf dem Bild zu sehen. Was außer­dem zu sehen ist: weitläu­fige Län­dereien, Bücher­re­gale und Schmuck und Klei­der und Möbel und über­haupt, in einem Wort, der Wohl­stand der abge­bilde­ten Per­so­n­en. Ausgenom­men ist vielle­icht das zu jen­er Zeit eben­so beliebte Stil­lleben, allerd­ings bleibt auch hier bedenkenswert: Obst im Über­fluss war (und ist) am Ende auch ein Luxu­sgut. Zwar hat es die Darstel­lung von Gold und Geld und Über­fluss auch lange vor der Renais­sance gegeben, was neu ist, das ist allerd­ings, dass Reich­tum und Luxus jet­zt nicht mehr notwendi­ger­weise Sym­bol für Gott, Vater oder König sind. Reich­tum wird um sein­er selb­st willen dargestellt, und damit von sein­er bish­eri­gen Bindung an andere Attribute (göt­tlich, königlich, erhaben) emanzip­iert. Das Geld spricht für sich, und zwar in der Sprache der Bilder. Die Auftraggeber*innen der Gemälde, oft Kau­fleute, lassen sich mit­samt ihrem Besitz darstellen, frei nach dem Cre­do „Ich zeige, was ich habe,” das auf ein­mal ganz eng dran ist, an „Ich bin, was ich habe.” 

Das Prob­lem, das Berg­er adressiert, ist allerd­ings weniger eine bes­timmte Ide­olo­gie oder Ord­nung und viel mehr die Unsicht­barkeit dieser Ord­nung in dem, was wir in Europa für unser Kun­st- und Kul­turgut hal­ten. Es geht hier vor allem um die Unsicht­barkeit im (lei­der fällt mir kein besseres Wort ein) Diskurs. Wir sehen ein Renais­sancegemälde von einem net­ten Ehep­aar. Im Hin­ter­grund abge­bildet sind die Län­dereien des Paars. Die dog­ma­tis­che Bildbeschrei­bung läuft dann darauf hin­aus, dass wir es hier mit ein­er Darstel­lung eines Paares inmit­ten der Schön­heit der Natur zu tun haben. Dass die schöne Natur, die da abge­bildet ist, dem Paar gehört, wird ausgespart. 

Mr. and Mrs. Andrews, Thomas Gains­bor­ough (1727–1788), Nation­al Gallery, Lon­don.
/ WikiCommons

Berg­ers gerechte Wut, die er in der Serie noch sorgsam hin­ter der san­ften Ton­lage und dem Duk­tus eines Wohlfüh­lakademik­ers ver­bor­gen hält, schim­mert im Sam­mel­band ab und zu mehr als durch. An ein­er Stelle kon­sta­tiert Berg­er einen Raub der uns eige­nen und zuge­höri­gen His­to­rie (11). Wer ist hier die Räuber*in? Berg­er zeigt zwar nicht direkt mit dem Fin­ger auf Per­so­n­en, zitiert aber häu­fig und gern diverse Kunstkritiker*innen (vor allem natür­lich Ken­neth Clark), die uns beib­rin­gen, Land­schaften und Obst zu betra­cht­en, ohne nach den Kosten der abge­bilde­ten Dinge zu fra­gen. Oder den Namen des Mäzens oder der Mäzenin anführen, ohne die Abhängigkeit zwis­chen Kun­st und Spende direkt zu adressieren. Bei Wal­ter Ben­jamin heißt es so unge­fähr und an ein­er anderen Stelle:  Der Blick auf die Geschichte der Men­schheit ist immer ein Blick aus der Per­spek­tive der Gewinner*innen, weil Geschichte immer nur von den Gewinner*innen geschrieben wird. Auch eine Bildbeschrei­bung ist eine Form der Geschichtsschreibung. 

Inte­ri­or of a Collector’s Gallery of Paint­ings and Objets d’Art, Cor­nelis de Bael­lieur (1607–1671), Lou­vre, Paris.  / Wikicommons

Ein Muse­um, das ist ein heiliger Ort. Den jede und jed­er von uns betreten kann, immer­hin. Was wir dann sehen, das ist unsere Sache. Wie in der Kirche. Es sagt ja nie­mand, dass ich an Gott glauben muss, um seinen hölz­er­nen Sohn am Kreuz hüb­sch zu find­en. Berg­er argu­men­tiert gegen Mys­tizis­mus und kämpft für Aufk­lärung. Und das ist, wie immer, eine heik­le Angele­gen­heit. Auch die alten Meis­ter mussten für Heizkosten und But­ter­brot aufkom­men. Ein Ölgemälde, das ist kein geheimnisvolles Relikt aus der kul­turellen Schatztruhe unser­er Vor­fahren, son­dern das ist ein Gegen­stand, der unter den spez­i­fis­chen Bedin­gun­gen ein­er von spez­i­fis­chen Machtver­hält­nis­sen geprägten Lebenswelt geschaf­fen wurde. Das lässt sich so fest­stellen. „Es ist niemals ein Denkmal der Kul­tur, ohne zugle­ich ein solch­es der Bar­barei zu sein,” schreibt Ben­jamin. „Der Kap­i­tal­is­mus über­lebt” schreibt Berg­er, „in dem er eine aus­ge­beutete Mehrheit dazu zwingt, die eige­nen Inter­essen so begren­zt wie möglich zu definieren.”

Nun sind wir alle inzwis­chen ohne­hin lieber im Ham­burg­er Bahn­hof unter­wegs. Und wenn wir uns dann doch ein­mal in die Alte Nation­al­ga­lerie verir­ren, haben wir unsere Wok­e­ness im Gepäck. Wer woke ist, hat die Augen ganz weit geöffnet. Vielle­icht haben wir unseren Blick ja längst von den Struk­turen emanzip­iert, denen Berg­er so drin­gend auf den Zahn fühlen will. Auch Proletarier*innen kön­nen heute Provenienzforscher*innen wer­den, wenn sie mal groß sind. 

Die spielerische Analyse der unheil­vollen Verbindung von Blick und Kap­i­tal führt Berg­er aus der Renais­sance mit­ten hinein in die europäis­che Post­mod­erne und irgend­wie wird aus dem ‚Ich zeige, was ich habe’ des Ölgemäldes dann das uns so ver­traute ‚Wir zeigen dir, was du sein kön­ntest, wenn du nur dieses oder jenes hättest.’ In der west­lichen Welt sind wir von Bildern umgeben—tausenden von Bildern in beina­he jedem Moment und an jedem Tag—und was eine willkür­liche, chao­tis­che Flut zu sein scheint, das fügt sich ein in eine Tra­di­tion des Sehens, die sich min­destens bis in die Renais­sance zurück­ver­fol­gen lässt und die Bilder­flut in eine bes­timmte Ord­nung bringt. Psy­cho­an­a­lytisch unter­but­tert ließe sich das als Ord­nung des Begehrens beschreiben. Wir sehen und wir wün­schen. Eine Obstschale, eine nack­te Frau, eine gold­ene Kette. Ein Son­nenun­ter­gang über den Däch­ern Paler­mos, veg­an­er Lin­senein­topf, Kim Kar­dashi­ans schön­er Po—

In der Psy­cho­analyse gibt es die Idee, dass wir rel­a­tiv Zeit damit ver­brin­gen, nach etwas zu suchen, das wir nie hat­ten, und von dem wir nicht genau wis­sen, was es ist. Wir wis­sen nur, dass uns etwas fehlt. Dass wir man­gel­haft sind, und dass es irgen­det­was braucht, etwas anderes, um den Zus­tand der Vol­lkom­men­heit wieder­herzustellen, den wir vielle­icht nur im wohli­gen Schwipp­schwapp unseres embry­onalen Daseins gekan­nt haben. Wer­bung ver­spricht Vol­lkom­men­heit. Und ein Bild von einem Gegen­stand kann ein Ver­sprechen auf Erlö­sung sein, wenn das Bild nur gut genug ist. Berg­er spricht von einem „falschen Stan­dard” bezüglich der Dinge, die uns als begehrenswert erscheinen oder nicht. Das klingt natür­lich nett und plau­si­bel, aber wer set­zt eigentlich diese Stan­dards? Die Wer­bung? Der Kap­i­tal­is­mus? Elon Musk? Emma Cham­ber­lain? Und wer von uns ist sich auf diesem Gebi­et heute noch sich­er genug, um sagen zu kön­nen, was ‚richtig’ und was ‚falsch’ ist? 

In der BBC-Serie beschw­ert sich Berg­er darüber, dass die Pro­duk­tions­be­din­gun­gen in der Wer­bung unsicht­bar bleiben. Wir sehen einen Werbespot und wir sehen eine Frau im Kaschmir­pul­li. Wir sehen nicht: die Kinder­hände, die den Pul­li strick­en, oder den Oral­sex, die die Schaus­pielerin per­formt hat, um für den Werbespot gecastet zu wer­den. Das mag heute teil­weise noch genau­so stim­men wie 1972. Größ­ten­teils verkauft uns der Werbespot im Jahr 2022 allerd­ings die Pro­duk­tions­be­din­gun­gen gle­ich mit: Wir kaufen nicht nur die Milch, son­dern wir kaufen die Milch, die von glück­lichen Kühen auf ein­er großen grü­nen Wiese pro­duziert wird, ein paar attrak­tive junge Män­ner melken eigen­händig und lächeln in die Kam­era. Der H&M‑Pulli ist kein H&M‑Pulli, son­dern er beste­ht aus recycel­ten Plas­tik­flaschen. Vat­ten­fall verkauft keinen Strom, son­dern eine bessere Zukun­ft mit gutem Sound­track. Abge­se­hen davon ist Wer­bung sowieso nicht mehr das, was sie im 20. Jahrhun­dert mal war, son­dern find­et vornehm­lich auf Insta­gram und Tik­Tok statt. Der Kap­i­tal­is­mus über­lebt heute ger­ade dank ein­er Mehrheit, die ihn—das heißt—sich erfol­gre­ich verkauft. Pow­er to the peo­ple? Pow­er to the algo­rithm, in jedem Fall. An der Dreiecks­beziehung von Anguck­en, Begehren und Besitzen rüt­telt das natür­lich wenig. #old­moneyaes­thet­ics. 

Die erste Flagge, die auf beset­ztem Gebi­et gehisst wer­den kann, ist der Blick. Ich kam, ich sah, ich besaß. Ein paar Jahre vor Berg­ers Ways of See­ing haben die Bilder von Neil Arm­strong auf dem Mond gere­icht, um der kom­plet­ten Men­schheit einen Anspruch auf das Weltall einzuräu­men. Wir sind zum Mond geflo­gen. Fün­fzig Jahre nach Berg­ers Pam­phlet spielt das Weltall im Kanon wes­teu­ropäis­ch­er Wun­schträume keine so große Rolle mehr. Die Kinder von Marx und Coca-Cola sind erwach­sen gewor­den, ihre Enkel ste­hen mit Atem­schutz­maske auf dem Platz der Repub­lik und demon­stri­eren für Klim­agerechtigkeit. Die Demon­stra­tion wird dann im Fernse­hen gezeigt und auf Insta­gram und vielle­icht gibt es noch einen Livestream auf YouTube und – 

„Die Beziehung zwis­chen dem, was wir sehen, und dem, was wir wis­sen, bleibt immer unklar,” sagt Berg­er. Na gut, was wis­sen wir denn? Wir wis­sen, dass die Erde wärmer wird. Wir wis­sen, dass der direk­te CO2-Ausstoß ein­er Kerosin betriebe­nen Rakete (wie z.B. der Fal­con 9 von Elon Musks Raum­fahrtun­ternehmen SpaceX) bei 200 bis 300 Ton­nen Kohlen­diox­id liegt. Wir wis­sen, dass Mah­sa Ami­ni am 13. Sep­tem­ber 2022 von ein­er Ein­heit der Sit­ten­polizei in Teheran festgenom­men wurde, und drei Tage nach ihrer Fes­t­nahme auf der Inten­sivs­ta­tion des Kas­ra-Kranken­haus­es gestor­ben ist. Wir wis­sen, was wir gese­hen haben, im Inter­net oder auf der Titel­seite der BILD-Zeitung in der Aus­lage beim Kiosk neben dem Gemüse­laden. 1972 mag es eine klare Abgren­zung gegeben haben zwis­chen ein­er Nachricht­ensendung und dem, was Berg­er als ‚Pub­lic­i­ty’ betitelt und zum Instru­ment der kap­i­tal­is­tis­chen Über­lebensstrate­gie deklar­i­ert. Unsere Welt sieht kom­pliziert­er, unor­dentlich­er, ver­schwommen­er aus. Auf den ersten Blick, in jedem Fall. 

LEKTORIERT VON MACY RIPLEY.

Quellen
John Berg­er, Ways of See­ing, Pen­guin Books, Lon­don 1972.
Wal­ter Ben­jamin, Gesam­melte Schriften Bd. I — II, Suhrkamp, Frank­furt 1980.

https://www.ways-of-seeing.com/
Und die BBC Serie von Berg­er gibt es kosten­los hier.


Clara Berlich, geboren 1994 in Pankow, aufgewach­sen im Lan­didyll des deutschen Ostens, hat wenig Wirtschaftswis­senschaften und viel Philoso­phie studiert. Vor, neben und nach dem Studi­um auf der ewigen Suche nach Arbeit und Struk­tur, abwech­sel­nd vor und hin­ter der Bar.

#YOUAREFFMAG