TOPICAL DIS/ORDER, POESIE
Zusammengelegte Kleidung
by HÉLOISE MARKERT

21/10/2022
1. Neuerdings nutze ich eine senfgelbe Tagesdecke über meinem Bett.
Passend dazu, das golden schimmernde Kissen auf dem Sofa drapiert.
Mittlerweile bedeckt meine Kleidung nicht mehr den Fußboden.
Das ist wohl dieses Erwachsenwerden, so war ich überzeugt.
Funktionalität über Faulheit—es machte mich stolz.
Stolz, bis ich mit meiner Selbsthilfegruppe zusammenkam.
Sie erzählten mir, dass sie begannen, alles in ihrer Wohnung zu ordnen,
als der Rest ihrer Welt im Chaos versank.
Und plötzlich waren die zusammengelegten T‑Shirts in meinem Schrank
kein vernünftig sein mehr
sondern ein Hilferuf…
2. Es waren Ärzt*innen, die meine Diagnose mit Klarheit verkündeten.
Und man tat so, als wäre damit alles Entscheidende gesagt.
Für sie stelle ich kein Rätsel dar und sie wissen, was zu tun ist.
Geordnet sind die Handlungsoptionen und geordnet ist, was die Gesellschaft dadurch in mir sieht.
Ein Unglücksvogel, eine Kämpferin, eine Inspiration.
Dabei scheint mir meine Identität mehr ein Rätsel zu sein als ihnen.
Kategorisierungen erwarten mich: Krank? Chronisch krank? Behindert?
Die hypothetische Frage, ob ich zu einem geschützten Davor zurückkehren würde.
Ich weiß nicht, ob ich bereit wäre, all das Gute aufzugeben, was geworden ist.
Ich weiß aber auch nicht, ob ich bereit bin, mich dem zu stellen, was noch kommt.
3. Die Uhren sind immer weiter gelaufen.
Sie liefen und liefen und stoppten nicht für mich.
Da ist die medizinische Zeit: Behandlungsdauer, Statistiken der Lebenserwartung.
Regeneration?
Die gesellschaftliche Zeit verläuft über Kindheit, Schule, Ausbildung oder Studium zur Arbeit.
Da ist die kapitalistische Zeit. 8h Arbeit. 30 min Pause. Effizient.
Diese Zeiten machen mir Angst.
Weil sie unerreichbar scheinen. Weil meine Zeiten in alle Richtungen zerfließen.
Ich versuche mich wieder einzuordnen ins System. Ins Leben.
Die Vergangenheit scheint mich wieder eingeholt zu haben. Bin ich stehengeblieben oder ist sie gerannt?
Die Frage nach der Zukunft traue ich mich gar nicht erst zu stellen.
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